In der Intimität der Nacht, an Boas Beinen liegend, wird Rut zur Gesetzesauslegerin und denkt nicht nur an sich oder Boas, sondern auch an Noomi. Sie ist keine Frau, die einfach auf einen Befehl des Mannes wartet.
1. Verortung im Buch
Noomis Plan zielt darauf ab, dass es Rut gut gehen soll (Rut 3,1). Auf der Tenne sieht Rut, wie es Boas gut geht (Vers 7). Boas, der bereits im vorherigen Kapitel als möglicher Löser vor- und als Gönner dargestellt wurde (Rut 2,1.15-16), soll nun die Not Ruts und Noomis beenden. Das Geschehen im Tageslicht des vorherigen Kapitels wird in der Dunkelheit der Nacht fortgesetzt.
2. Aufbau
Die Nacht des Geschehens teilt sich in drei Phasen: (1.) Der Abend, der zur dunklen Nacht wird (Vers 7); (2.) das Gespräch um Mitternacht (Verse 8-13); der Abschied bei Morgengrauen (Verse 14-15). Am Ende wird aus dem Essen und Trinken Boas‘ (Vers 7), eine erneute Versorgung mit Getreide für Rut und Noomi (Vers 15).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 7: Zufrieden legt sich Boas nach dem Abendessen nicht einfach neben den Getreidehaufen, sondern, wie es wörtlich heißt, an dessen Ende. Vermutlich sind damit ein abgelegener Ort und somit die für den Plan die notwendige Verborgenheit angedeutet. Rut befolgt die Anweisungen Noomis, und legt sich zu dem bereits liegenden Boas an dessen Beine.
Vers 8: Erst um Mitternacht erwacht Boas. Wörtlich heißt es im Hebräischen: „er erbebte“. In der Auslegungsgeschichte finden sich unterschiedliche Annahmen, warum Boas plötzlich mitten in der Nacht aufwacht. Friert er? Hat er einen Orgasmus? Doch der Phantasie mancher Ausleger steht wohl eine viel einfachere Bedeutung gegenüber. Der Schrecken, der jemanden um Mitternacht befällt, ist im Alten Testament sprichwörtlich (Ps 91,5). Vermutlich ist nur erzählt, dass um Mitternacht, wenn die Nacht am dunkelsten ist, Boas plötzlich einen Menschen neben sich liegen spürt, den er aber nicht erkennen kann. So drückt sich in seinem Erbeben die Reaktion auf etwas völlig Unerwartetes aus (Gen 27,33). In dieser intimen Situation spricht der Erzähler nicht von Boas und Rut, sondern nennt beide entsprechend ihrem Geschlecht als Mann und Frau.
Vers 9: Nun bezeichnet sich Rut nicht mehr nur als einfache Arbeitssklavin (Rut 2,13), sondern als Magd, wodurch sie sich indirekt bereits zu Boas‘ Haus zählt und ihre Weiblichkeit hervorhebt. Wenn zum Beispiel eine Ehefrau unfruchtbar war, konnte eine Magd stellvertretend für sie gebären (Gen 16,1-5). Rut macht sich aber nicht zum Objekt, sondern ergreift gegen den Plan Noomis selbst die Initiative. Rut knüpft wörtlich an den Segensspruch Boas, indem er sie lobte, dass sie Schutz unter den „Flügeln“ Gottes gesucht hatte (Rut 2.12), an. Im Hebräischen bezeichnet dasselbe Wort im Plural „Flügel“ und im Singular den Gewandsaum. So zeigt Rut an, dass Boas selbst die schützende Funktion Gottes stellvertretend übernehmen kann, indem er seinem Gewandsaum über sie ausbreitet, d.h. sie heiratet (vergleiche Ezechiel 16,8). Diese Bitte begründet sie durch die Feststellung, dass er ein Löser ist. So antwortet Rut im Endeffekt auf die Frage, wer sie sei, indem sie ihm aufzeigt wer er ist und was er zu tun hat.
Vers 10: Boas preist das Handeln Ruts, das eigentlich gegen gesellschaftliche Konventionen verstößt. Üblicherweise ging der Wille zur Hochzeit vom Mann aus, der bei den zukünftigen Schwiegereltern um die Hand einer Frau anhielt. Ihre Güte hatte sie zum ersten Mal in ihrer Solidarität zu Noomi gezeigt (Rut 1,16-17), indem sie Moab mit ihr verlassen hatte. Boas hatte dies im vorherigen Kapitel im Besonderen gewürdigt (Rut 2,11). Auch ihr nächtliches Auftreten deutet er als Beweis ihrer Güte. Denn in ihren Worten wird deutlich, dass sie die Ehe anstrebt, um Noomis willen. Die Solidarität zur Familie Elimelechs und die Liebe zu ihrem verstorbenen Mann, führt sie in der Nacht zu Boas (siehe Auslegung).
Vers 11: Noomi sagt voraus, dass Boas Rut sagen wird, was sie zu tun hat. Nach Ruts Initiative jedoch stellt sich Boas ganz den Wünschen Ruts zur Verfügung („für dich“). Er spricht ihr Mut zu durch die Formel „Fürchte dich nicht!“, die in den prophetischen Büchern häufig am Anfang von Heilsorakeln steht (vergleiche Jesaja 41,14). Ihr Schicksal wird sich zum Guten wenden, weil sie sich einen Namen als „tüchtige Frau“ gemacht hat. Durch die Wortwahl wird sie auf eine Stufe mit Boas gestellt, der in Rut 2,1 vom Erzähler vergleichbar als „tüchtiger Mann“ beschrieben wird. In der Bücheranordnung der Jüdischen Bibel folgt das Buch Rut auf das Buch der Sprichwörter, in dessen letzten Kapitel ein Lob auf die tüchtige Ehefrau steht: „Eine tüchtige Frau, wer findet sie? Sie übertrifft alle Perlen an Wert“ (Sprichwörter 31,10). Vergleichbar mit der Aussage über Rut steht dort am Endes Buches: „Gebt ihr vom Ertrag ihrer Hände, denn im Stadttor rühmen sie ihre Werke.“ (Sprichwörter 31,31).
Verse 12-13: Boas‘ Zuneigung zu Rut ist durch das Gesetz begrenzt, dem er seinen eigenen Willen unterwirft. Es gibt einen Löser aus der Familie Elimelechs, der Noomi nähersteht (Rut 2,20) und der gemäß Lev 25,25 vor Boas verpflichtet ist, bzw. das Anrecht hat, zu lösen. In seinen Worten, die eine Anspielung auf Deuteronomium 25,7 sind, drückt sich aber auch seine Hoffnung aus, dass er dennoch zum Löser für Rut werden kann. Dazu verpflichtet er sich mit einem Eid. Im Buch Rut leisten nur Rut (Rut 1,16f.) und er einen Eid. Beide Eide stellen eine lebenslange Gemeinschaft in Aussicht.
Verse 14-15: Im Morgengrauen sind Rut und Boas darum bekümmert, dass sie in Verruf geraten könnten, da sie die Nacht auf der Tenne verbracht hat. Zum Abschied in der Morgendämmerung gibt er ihr zur Bestätigung seines Willens, sich um Rut und Noomi kümmern zu wollen „6 Maß Gerste“. Im hebräischen Text ist die Maßeinheit nicht angegeben. Da es sich aber um ein feminines Zahlwort handelt, liegt es nahe, dass es sich um 6 Sea Gerste gehandelt hat. 6 Sea sind 2 Epha. Somit gibt Boas am Ende des Kapitels Rut die doppelte Menge an Getreide, die sie zuvor im zweiten Kapitel innerhalb eines Tages aufgelesen hatte. Nachdem Rut mit Getreide versorgt ist, geht er direkt in die Stadt, um sie dauerhaft zu (er)lösen.