Das Buch Rut

Rut 3,16-18: Die Gewissheit

16Rut kam nun zu ihrer Schwiegermutter und diese fragte:

Wie steht es, meine Tochter?

Sie erzählte ihr, wie viel Gutes ihr der Mann erwiesen hatte,17und sagte:

Diese sechs Maß Gerste hat er mir gegeben; denn er meinte:

Du sollst nicht mit leeren Händen zu deiner Schwiegermutter kommen.

18Noomi antwortete ihr:

Warte ab, meine Tochter, bis du erfährst, wie die Sache ausgeht; denn der Mann wird nicht ruhen, ehe er noch heute die Sache erledigt hat.

Überblick

Ruts letzte Worte im Buch sind ein Zitat aus Boas‘ Mund – und in Noomis letzten Worten drückt sich die Gewissheit aus, dass sich ihr Schicksal gewendet hat. Die beiden Heldinnen des Buches führen ein letztes Gespräch, bevor im nächsten Kapitel Boas als ihr Löser auftritt und ihren Plan vollzieht.

 

1. Verortung im Buch

Wieder, wie am Ende des zweiten Kapitels, wird das erzählte Geschehen in einem Gespräch zwischen Noomi und Rut gedeutet. Wieder kehrt Rut zurück nach Hause und Noomi eröffnet mit einer Frage das Gespräch. Während jedoch bisher die Erzählung linear verlief, geschieht nun alles in einem Moment. Während Rut und Noomi reden, versammelt Boas bereits im Tor der Stadt die Ältesten, um als Löser aufzutreten (Rut 4,1).

 

2. Aufbau

Die Redeanteile von Rut und Noomi sind – anders als noch am Ende vom vorherigen Kapitel – nun gleich groß. Rut berichtet von Boas Taten und Noomi deutet das erzählte Geschehen als Gewissheit, dass sich nun ihre Not wenden wird.

 

3.  Erklärung einzelner Verse

Vers 16: Als Rut heimkehrt fragt sie Noomi wörtlich: „Wer bist du, meine Tochter?“ Die Anrede zeigt, dass diese Worte keine Frage nach der Identität sind, sondern nach dem Status Ruts nach der Nacht. In der jüdischen Auslegungstradition wird die Frage folgendermaßen paraphrasiert: „Bist du noch frei oder schon die Frau eines Mannes?“ Kommt sie zurück als die moabitische Arbeitssklavin oder als zukünftige Frau ihres Lösers? Der Erzähler zitiert noch nicht die Antwort Ruts, sondern fasst ihren Bericht kurz zusammen. Dabei nennt er Boas bewusst „den Mann“, um auf die bevorstehende Ehe zu verweisen. Auch bezieht er sich zurück auf Ruts Worte in Rut 2,19. Dort hatte sie Noomi berichtet, dass sie bei Boas gearbeitet hat. Das von ihr im Hebräischen verwendete Wort bedeutet wörtlich übersetzt „tun“ und verweist hierin Vers 16 auf, den Eid Boas‘. So deutet der Erzähler an, dass aus Ruts Taten, Boas Handeln folgt.

Vers 17: Rut zitiert Boas, aber er hat diese Worte zuvor nicht gesprochen. Es ist im Alten Testament nicht unüblich, wenn grundlegende Aussagen erst später in einem passenderen Kontext wiedergegeben werden. Dass Boas mit dem Nahrungsgeschenk auch Noomi bedacht hat, legt sich nahe, weil er in seinem Lob, Ruts Güte gegenüber Noomi gepriesen hatte. Die letzten Worte Ruts in dem Buch sind somit Boas‘ Worte. Sie zeigen an, dass sich die Not Noomis zum Heil gewendet hat. Noomi war mit leeren Händen aus Moab zurückgekehrt (Rut 1,21). Nun gibt Boas in diese leeren Hände zuerst Gerste und im folgenden Kapitel einen Enkel.

Vers 18: Es bedarf keines weiteren Plans und keiner weiteren Handlung. Wörtlich sagt Noomi zu Rut: „Bleib hier, bist du erfährst, wie die Angelegenheit / das Wort ausfällt.“ Die Wortwahl deutet das folgende Geschehen als eine Art Losorakel. Eine solche Entscheidung hat nichts mit dem Zufall zu tun, sondern man vertraute darauf, dass Gott durch das Losorakel entscheidet (Ps 16,6). So wie Rut durch Zufall auf das Feld des Boas‘ gegangen ist, so wird Gott verdeckt für sie handeln. Oder: Durch das Handeln der Menschen verwirklicht sich Gottes Vorsehung. In der erzählten Zeit „heute“ – das ist das letzte Wort des dritten Kapitels – wird ein Löser auftreten.  

Auslegung

Als Noomi aus Moab zurückkehrte, klagte sie den Frauen Betlehems: „Reich bin ich ausgezogen, aber mit leeren Händen hat der HERR mich heimkehren lassen.“ (Rut 1,6) und die letzten Worte Ruts nehmen dieses Motiv wörtlich auf und kehren es um: „Du sollst nicht mit leeren Händen zu deiner Schwiegermutter kommen.“ (Rut 3,17). So tritt Rut im Namen Boas Noomi gegenüber. Boas und Rut handeln somit zu ihrem Wohl. Die Nahrung die Gott seinem Volk geschenkt hat durch eine gute Ernte (Rut 1,6), gibt Boas nicht nur weiter an Rut (Rut 2), sondern versorgt nun auch ausdrücklich Noomi. Er übernimmt somit sorgende Verantwortung für sie, wie es Rut am Anfang des Buches gegenüber ihr getan hatte. Dies wird sich im folgenden Kapitel dann bewahrheiten. Noomi findet jedoch bereits durch dieses symbolische Geschenk Ruhe. Sie, die verzweifelt aus Moab umgekehrt ist, die klagend in Betlehem angekommen ist und dann mit Rut die Initiative ergriffen hat, sitzt nun in Gewissheit ihrer Rettung da und wartet. Im Endeffekt entscheiden nun Gott und Männer über das Schicksal der beiden Frauen.

Kunst etc.

Der holländische Künstler Jan Victors stellte 1653 Noomi und Rut in einem Gemälde dar. Vermutlich stellt er darin den treue Schwur Ruts dar (Rut 1,16f.). Es beschreibt aber zugleich passend das letzte Gespräch Ruts und Noomis in Rut 3,16-18. Viel sagend sind besonders die Hände der beiden Frauen. Noomi zeigt mit dem Finger gen Himmel: Sie macht Gott für ihr Schicksal verantwortlich und hofft, dass er Rut – wenn sie zurück nach Moab geht – segnen wird. Nun ist sie sich gewiss, dass sich ihr Schicksal gewendet hat und der nach oben Finger könnte andeuten, dass alles durch Gott zum Guten gewendet ist. In dieser Situation ist Rut sitzend dargestellt, was beinahe besser zu der Szene in Rut 3,16-18 passt, als zum Gespräch auf dem Weg zurück nach Betlehem.  Rut zeigt mit dem Finger auf Noomi und ihr ganzer Körper ist zu ihr geneigt. Die Körperhaltung zeigt Tatendrang und Nähe. Sie richtet ihr ganzes Leben völlig auf Noomi aus. Sie verlässt ihre Heimat und heiratet Boas, zuvorderst weil es Noomis Wille ist.

Jan Victors, Ruth and Naomi, 1653 - Lizenz: gemeinfrei
Jan Victors, Ruth and Naomi, 1653 - Lizenz: gemeinfrei