Eine arme, moabitische Witwe trifft den Grundbesitzer, auf dessen Feld sie die liegengelassenen Ähren sammelt. In seinen Augen findet sie Gnade – aber es ist keine Liebe auf den ersten Blick. Auch wenn dies der Stoff ist aus dem große Liebegeschichten gesponnen werden. Im ersten Aufeinandertreffen von Boas und Rut geht es um Arbeitsfleiß, Treue und die Übererfüllung des göttlichen Gebotes.
1. Verortung im Buch
Der am Anfang des zweiten Kapitels vorgestellte männliche Hauptprotagonist, Boas, betritt sozusagen die Bühne und bestimmt für den Rest des Kapitels das Geschehen. Wieder ereignet sich das Entscheidende im Dialog. Im vorherigen Kapitel hatte Rut ihrer Schwiegermutter ihre absolute Treue und Solidarität geschworen. Nun würdigt Boas diese selbstlose Entscheidung Ruts. Aufgrund Ruts Handeln sorgt er dafür, dass die leeren Hände mit denen Noomi in Betlehem angekommen ist mit Gerstenkorn gefüllt werden.
2. Aufbau von Rut 2,4-17
Am Morgen war Rut auf das Feld gegangen (Verse 3 und 7) und sie kehrt von der Nachlese am Abend zurück (Vers 17). Das Geschehen eines Tages wird erzählt, dessen Verlauf anhand von drei Gesprächen dargestellt wird. Im Zentrum steht der Dialog zwischen Boas und Rut (Verse 8-14). Seine anerkennende Nacherzählung ihrer Lebensgeschichte (Vers 11) und seinem Segenswünsch für sie (Vers 12) werden gerahmt von der Freude Ruts, dass er ihr wohlgesonnen ist. Mit seinen ersten Worten verbietet er ihr auf ein anderes Feld zum Sammeln zu gehen und bietet ihr Wasser zu trinken. Mit seinen letzten Worten lädt er sie in den Kreis seiner Arbeiter zum gemeinsamen Essen. Gerahmt wird das Gespräch zwischen Boas und Rut von zwei Gesprächen des Grundbesitzers mit seinem Vorarbeiter (Verse 4-7) bzw. seiner Arbeiter (V 15-16).
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 4-5: Das Auftreten Boas wird im hebräischen Text besonders betont. Dort heißt es am Anfang wörtlich: „Und siehe, Boas kam von Betlehem … “. Der folgende Austausch von Segenswünsch zur Begrüßung ist in alttestamentlicher Zeit üblich (Ps 129,8) – vergleichbar etwa mit „Grüß Gott!“. Eher unüblich klingt hingegen die direkte Frage Boas‘ an seinen Vorarbeiter: „Zu wem gehört diese junge Frau?“ Darin kann die patriarchale Grundstruktur der israelitischen Gesellschaft anklingen, in der eine Frau entweder als Besitz ihres Vaters oder ihres Ehemanns angesehen wurde. In 1 Sam 30,13 fragt David ebenso nach Identität und Zugehörigkeit eines aufgegriffenen Ägypters.
Vers 6: Auf die Frage nach Rut Identität antwortet der Vorarbeiter nicht mit ihrem Namen, sondern definiert sie als Fremde, die zu Noomi gehört. Zweimal wird betont, dass sie aus Moab stammt: sie ist Moabiterin und ist von den Feldern Moabs gekommen. Wer hingegen Noomi ist, muss Boas nicht erklärt werden (siehe Vers 1).
Vers 7: Bereits im Gespräch zwischen dem Vorarbeiter und Boas ist Rut mit ihren eigenen Worten präsent, da sie zitiert wird. In ihren Worten zeigt sich ihr Arbeitswille und ihr Fleiß. Umstritten ist die genaue Übersetzung ihrer Worte. Dass sie „bei den Garben“ sammeln werde, steht in der Einheitsübersetzung in Spannung zu Boas‘ späterer Erlaubnis, dass sie zwischen den Garben sammeln darf (Vers 15). Wahrscheinlich hatte Rut den Vorarbeiter darum gebeten bei der Nachlese ihre gesammelten Ähren zu Garben binden zu dürfen, um sie am Ende besser einsammeln zu können. Der letzte Satz des Zitats lautet aus dem Hebräischen übersetzt: „Dieses, ihr Sitzen im Haus war wenig.“ Auf den Feldern gab es keine feststehenden Häuser, weshalb wohl die Übersetzer der Septuaginta das Wort „Haus“ ausgelassen haben, woran sich die Einheitsübersetzung ausgerichtet hat. Gemeint ist damit wohl eine temporäre Hütte am Feldrand, die den Arbeitern Schatten zum Erholen bot.
Verse 8-9: In der Wortwahl Boas‘ wird direkt das soziale Gefälle zwischen Rut und ihm verdeutlicht und zugleich seine Fürsorge aufgezeigt. Die Anrede einer Frau als „meine Tochter“, die nicht zur Familie gehört, findet sich nur im Buch Rut. Es ist aber nicht unüblich, dass Männer von höhergestellten Personen als „mein Sohn“ im Alten Testament angesprochen wurden. In Boas‘ Anrede Ruts als „meine Tochter“ zeigt sich einerseits eine besitzergreifende Unterordnung als auch die Bereitschaft sich um ihren Schutz zu kümmern. Seine Aufforderung nicht auf einem anderen Feld zu sammeln, kann aus dem Hebräischen sowohl als Bitte als auch als Befehl übersetzt werden. Auf den Feldern war Rut schutzlos vor sexuellen Belästigungen und Vergewaltigung (vergleiche Deuteronomium 22,25-27). Boas hingegen bietet ihr nicht nur Schutz, sondern versorgt sich auch in einem Maß, das weit über die übliche Armenfürsorge hinausgeht. Sie darf, wie seine anderen Arbeiter, von dem bereitgestellten Wasser trinken.
Vers 10: Das Niederwerfen Ruts zeigt, dass sie sich Boas als ihrem Gönner unterwirft und seine Autorität anerkennt. Dankbar fragt sie, warum er sie – wörtlich übersetzt -, „als von der Volkszugehörigkeit Unterschiedene unterscheidend wahrgenommen hat“. Sie fragt also, warum er sie so gut behandelt, obwohl sie doch keine Israelitin ist. Der hier im hebräischen Text stehende Begriff ist nicht der im alttestamentlichen Recht verwendet Fachterminus für ausländischer Schutzbürger, sondern der vor allem im Buch Nehemia abwertende Begriff für Ausländer ohne Rechte (נָכְרִי, gesprochen: nochri; vergleiche Nehemia 13,23-30).
Vers 11: Als Antwort auf Ruts dankende Frage verweist Boas auf ihr selbstloses Handeln an Noomi. Die Wortwahl Boas könnte eine Anspielung auf die Geschichte der Erzmutter Rebekka sein, die ihr Vaterhaus und ihr Herkunftsland verließ, um Isaak zu heiraten (Gen 24,7).
Vers 12: Der Nacherzählung Ruts Leben folgt der Segenswunsch Boas‘, der ihr weiteres Wohlergehen Gott anheimstellt. Noomi hatte ihren Schwiegertöchtern Gottes Segen für die Rückkehr nach Moab gewünscht (Rut 1,8-9). Nun bittet Boas um Gottes Segen für Ruts Leben inmitten des Volkes Israel. Im Glauben daran, dass gutes Tun von Gott gerecht entlohnt wird (vergleiche Ijob 34,11), hofft er auf Gottes Wohlwollen für Rut. Der hier im deutschen mit „Lohn“ wiedergegebene hebräische Begriff, bezeichnet explizit den Arbeitslohn. Bereits hier deutet sich an, dass Boas selbst den Segenswunsch verwirklichen wird. Der zweite Teil des Segenswunsches bezieht sich auf Ruts Aussage, dass Noomis Gott ihr Gott sein soll (Rut 1,16). In ihrer Entscheidung hat Rut sich zwar nicht für den Glauben an den israelitischen Gott entschieden, sondern zuvorderst für die Solidarität mit Noomi. Boas deutet dies aber auch als Zufluchtsuche beim Gott Noomis. Wer unter den Flügeln Gottes Schutz findet, den rettet Gott vor der Gefahr des Todes und gibt ihm oder ihr Anteil an der Fülle des Lebens (Psalmen 36,8; 91,4).
Vers 13: Nochmals nach Vers 10 dankt Rut dem Feldbesitzer Boas, dass sie Gnade in seinen Augen gefunden hat und sich somit ihre Hoffnung aus Vers 2 erfüllt hat: „Ich möchte aufs Feld gehen und Ähren lesen, wo es mir jemand erlaubt [wörtlich: … hinter dem, in dessen Augen ich Gnade finde].“ Ihm gegenüber bezeichnete sie sich nun als „Sklavin“. Dies ist in der diplomatischen Sprache des Alten Orienst üblich, um die Unterlegenheit auszudrücken. Das gewählte Wort bezeichnet die niedrigste mögliche Stellung einer Frau gegenüber ihres Herren. Es reduziert sie auf den Wert als Arbeitskraft. Aber selbst diese Selbstbezeichnung relativiert sie, da sie selbst nicht zum Gesinde Boas‘ gehört, den sie aber als ihren Herren anredet. In ihren Worten lobpreist sie Boas‘ seinen tröstenden und ermutigenden Zuspruch, der ihr Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt (vergleiche Genesis 50,12; Jesaja 40,1-2).
Vers 14: Zur Zeit der Pause und des gemeinsamen Mahls aller Arbeitenden schafft Boas eine Gemeinschaft für Rut, indem er sie zum Essen einlädt. In Rut 1,6 hatte der Erzähler berichtet, dass Gott sich seinem Volk wieder zugewendet und ihm Brot gegeben hatte. Dieses Heilshandeln erfährt Rut nun vermittelt durch Boas, der sein Brot mit ihr teilt und sie auffordert es zur Erfrischung in ein wahrscheinlich vergorenes, leicht alkoholisches Getränk zu tunken. Der Aufforderung folgt auch ein direktes Handeln Boas, indem er die mittellose Witwe selbst bedient und sie erhält mehr als sie essen kann. Diese geschenkte Güte wird Rut später mit Noomi teilen (Rut 2,18).
Verse 15-16: In Boas‘ Befehl an seine Arbeiter klingt das Verbot der Nachlese vergessener Früchte aus Lev 19,9-10 an. Er hält dieses Gebot nicht nur ein, sondern er mindert bewusst seine eigene Ernte, damit die Fülle Ruts Nachlese größer wird. Rut darf in die Reihen der Sammlerinnen aufrücken und für sich selbst dort zwischen den Garben sammeln, bevor die Garben abtransportiert werden. So erfährt sie direkt das Wohlwollen Boas‘. Zudem hilft er ihr auch versteckt, indem er bewusst einen Teil von seiner Ernte nimmt und ihn zur Nachlese auf dem Feld lässt. Er überlässt Ruts Schicksal also nicht einfach der Frage, ob seine Sammler gründlich arbeiten oder nicht, sondern geht sicher, dass die Hilfe zur Selbsthilfe ihr eine eigene reichliche Ernte beschert.
Vers 17: Ein Efa sind ca. 40 Liter / 20kg Gerstenkörner. Dieser reichliche Ertrag, der nach dem Abdreschen der Halme übrigblieb, sichert Noomi und Rut das tägliche Brot für einen langen Zeitraum. Die Menge verweist sowohl auf den Arbeitsfleiß Ruts als auch auf die Großzügigkeit Boas‘.