Das Buch Rut

Rut 2,1-3: Ein neuer Anfang in Betlehem

21Noomi hatte einen Verwandten von ihrem Mann her, einen einflussreichen Mann; er war aus dem Geschlecht Elimelechs und hieß Boas.

2Da sagte Rut, die Moabiterin, zu Noomi:

Ich möchte aufs Feld gehen und Ähren lesen, wo es mir jemand erlaubt.

Sie antwortete ihr:

Geh, meine Tochter!

3Rut ging hin und las auf dem Feld hinter den Schnittern her. Dabei war sie auf ein Grundstück des Boas aus dem Geschlecht Elimelechs geraten.

Überblick

Mit ihrer Entscheidung Noomi nicht zu verlassen, sondern stattdessen mit Ihr zurück in ihre Heimat zu gehen, hat Rut sie in ihrer hoffnungslosen Beziehungslosigkeit nicht alleine gelassen. Nun ergreift sie erneut die Initiative und wird versuchen, sich um das tägliche Brot zu sorgen. Von den Felder Moabs kommt sie zu den Feldern Betlehems, um ihre Schwiegermutter zu versorgen – und dort wird sie auf Boas treffen.

 

1.  Verortung im Buch

Direkt am Anfang des zweiten Kapitels wird Noomi genannt und auch das letzte Wort „die Schwiegermutter“ verweist auf sie. Aber anders als im ersten Kapitel ist nun Rut die Hauptperson: Sie redet am Morgen mit ihrer Schwiegermutter, geht sich um das täglich Brot für beide zu kümmern und kehrt am Abend wieder zurück. Im Zentrum steht jedoch eine andere Person: Boas. Er wird im ersten Vers direkt vorgestellt, er kümmert sich um Rut und wird für die weitere Geschichte zur entscheidenden Person.

 

2. Aufbau

Das Gespräch zwischen Rut und Noomi ist gerahmt durch die Nennung Boas. So wird bereits auf die Wichtigkeit seiner Person für den weiteren Verlauf der Geschichte hingewiesen. Im Gespräch selbst spielt er jedoch keine Rolle. Rut ergreift das Wort und bittet Noomi darum, sich um Nahrung für beide kümmern zu dürfen. Die Antwort Noomi ist pragmatisch kurz und zustimmend. Daraufhin verdeutlicht der Erzähler mit einer schnellen Reihenfolge von drei Verben, dass Rut voller Tatendrang sich an die Arbeit begibt: Sie ging, sie kam an und las Ähren auf dem Feld.

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 1: Der hebräische Name Boas bedeutet „in ihm ist Kraft“. Dies entspricht auch seiner Vorstellung als einflussreicher Mann (wörtlich: „ein wehrfähiger und tüchtiger Mann“). Diese Beschreibung legt gemäß 2 Könige 24,14 auch nahe, dass Boas vermögend war. Wichtiger ist aber bei der Wortwahl im Hebräischen der direkte Verweis auf 1 Sam 16,18, wo David mit denselben Worten beschrieben wird. Am Ende des Buches Rut wird Boas zum Urgroßvaters Davids. Der Leser und die Leserin erfahren hier bereits – bevor Noomi es Rut erzählt (Rut 2,20) – , dass Boas zur Familie Elimelechs gehört und somit Noomi nahesteht. Das genaue Familienverhältnis zwischen Noomi und Boas erfährt man jedoch nicht. Zuerst wird er nur als Vertrauter eingeführt (‎מְיֻדָּע , gesprochen: mejudda), womit angedeutet wird, dass er Noomi wohlgesonnen sein könnte.[1] Am Ende des Verses wird dann darauf verwiesen, dass er nicht nur ein Vertrauter ihres verstorbenen Ehemanns war, sondern auch zur Großfamilie Elimelechs gehört.

Vers 2: Wieder, wie schon in Rut 1,16-18, ergreift Rut die Initiative und übernimmt Verantwortung. Sie äußert den Wunsch, während der gerade stattfindenden Gerstenernte, auf die Felder zu gehen, in der Hoffnung, dass ihr jemand die Nachlese erlauben wird. Der Erzähler betont, dass Rut eine Moabiterin und somit eine Fremde ist, der gemäß dem israelitischen Recht das Einsammeln der nach der Ernte auf dem Feld verbleibenden Ähren erlaubt ist (siehe Auslegung).

Vers 3:  Nochmals wird darauf hingewiesen, dass Boas aus der Großfamilie Elimelechs stammt. Dass Noomi gerade auf einem seiner Felder Ähren sammelt, bezeichnet der hebräische Text als glückliche Fügung, wörtlich: „es fügte sich ihre Fügung“. In diesem Vers bleibt es offen, ob dies ein Zufall ist (Kohelet 2,14f.) oder ob sich dahinter Gottes Tun verbirgt (Genesis 24,12; 27,20). Generell ist im Buch Rut, abgesehen von Rut 1,6; 4,31 vom Handeln Gottes nur relativ verdeckt die Rede. Hier steht die Initiative Ruts im Vordergrund, so wie im folgenden Abschnitt (Rut 2,4-17) Boas Tun im Fokus steht.

Auslegung

Das Leitwort des ersten Kapitels war „zurückkehren“, Insgesamt zwölfmal steht es in den wenigen Verse. Im zweiten Kapitel ist das Leitwort „auflesen“ (לקט, gesprochen: lakat), dass ebenso zwölfmal verwendet wird. Bei der Ernte war es gemäß israelitischem Recht vorgeschrieben die Nachlese den Witwen, Waisen und Fremden zu überlassen.

 

  • Ernte: In der Region um Betlehem ist die Zeit der Gersten- und Weizenernte sehr kurz bemessen. Sie findet zwischen Ostern und Pfingsten statt. Der Erntevorgang besteht dabei aus drei Schritten. (1.) Die Halme wurden meistens von Männern mit der Sichel abgeschnitten und auf den Boden gelegt. (2.) Frauen gingen hinter den Schnittern her und banden daraus Garben. (3.) Diese wurden dann später abtransportiert, um das Getreide vom Halm und dann die Spreu vom Korn zu trennen. Wenn die Ernte abtransportiert war, durften Arme auf das Feld kommen und die liegengebliebenen Reste für sich aufsammeln.
  • Recht: Die Erzählung im Buch Rut setzt ein funktionierendes Armenrecht voraus, das für Witwen, Waisen und Fremde die Nachlese auf den Feldern erlaubt: „Sie [die Nachlese] soll den Fremden, Waisen und Witwen gehören.“ (Dtn 24,21). Im Alten Testament werden jedoch keine Strafen benannt für diejenigen, die diese Forderungen nicht einhalten. Dies wird bereits in den Worten Ruts deutlich. Sie will dort Ähren einsammeln, wo es ihr „jemand erlaubt“ (Rut 2,2). Die Bedürftigen waren von der Gnade der Feldbesitzer abhängig. Die Propheten beklagen daher auch mehrfach, dass gerade die Rechte von Witwen und Waisen nicht beachtet wurden: „Lernt, Gutes zu tun! Sucht das Recht! Schreitet ein gegen den Unterdrücker! Verschafft den Waisen Recht, streitet für die Witwen!“ (Jesaja 1,17).

Kunst etc.

Auf dieser ägyptischen Wandmalerei aus einem Grab sieht man den Schnitter, der die Halme mit der linken Hand greift, mit der Sichel in der rechten Hand abschneidet und zu Boden fallen lässt. Hinter ihm sammelt eine Frau die Ähren auf. Im Unterschied zur im Buch Rut beschrieben Praxis werden die Ähren jedoch nicht zu Garben gebunden, sondern direkt in Körben gesammelt.

Nachzeichnung von Hildi Keel-Leu. Die Rechte liegen bei: Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg CH.
Nachzeichnung von Hildi Keel-Leu. Die Rechte liegen bei: Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg CH.