Noomi bricht aus der materiellen und sozialen Verzweiflung auf – von Moab zurück in ihre Heimat. Aus der Sackgasse wird ein Weg zurück, auf dem sie durch ihre Schwiegertochter Rut erfährt, was echte, mitmenschliche Liebe und grenzenlose Solidarität sind.
1. Verortung im Buch
Nachdem in den ersten Versen des Buches die Ereignisse von 10 Jahren zusammengefasst werden, verlangsamt sich ab Vers 6 die Erzählgeschwindigkeit. Wie in jedem weiteren der vier Kapitel wird ein entscheidender Dialog erzählt. Hier am Scheideweg zwischen Moab und Juda trifft Rut im Gespräch mit Noomi ihre Entscheidung: Sie begibt sich in eine Schicksalsgemeinschaft mit ihrer Schwiegermutter. Am Ende des Buches, im vierten Kapitel, wird es wieder in einem Dialog um eine Lebensgemeinschaft gehen: Boas, der zukünftige Ehemann Ruts, wird versprechen, beide Witwen lebenslang zu versorgen.
2. Aufbau
Noomi bricht aus Moab auf, nachdem sie gehört hat, dass die Hungersnot in Betlehem beendet ist. Diese Rückkehr ist das Leitthema des sich auf dem Weg ergebenden Gesprächs zwischen ihr und ihren beiden Schwiegertöchtern: Wer kehrt wohin zurück? (vgl. V. 6.7.8.10.11.12.15.16; siehe auch V. 21.22). Sie brechen zu dritt auf, aber in drei Redegängen versucht Noomi ihre Schwiegertöchter zu überzeugen, nicht mit ihr in das ihnen unbekannte Bethlehem zu gehen. Sie ist gewiss, dass auf die beiden in Moab ein besseres Leben wartet (V. 8-9). In Noomis Heimat werde es keine Zukunft für sie geben (V. 11-13). Nachdem Orpa auf die weisen Ratschläge ihrer Schwiegermutter hört und nach Moab zurückkehrt, stellt Noomi sie als Vorbild für Rut dar (V. 15). Aber Rut entscheidet sich dazu, sich mit ihrem ganzen Leben an das Schicksal Noomis zu binden und mit ihr in die neue Heimat „zurückzukehren“.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 6-7: Gott erlöst sein Volk von der Hungersnot und nimmt sich seiner an, wie er es bereits im Exodus, der Herausführung aus dem Sklavenhaus Ägypten, getan hat (Exodus 4,31). Er versorgt sein Volk in der Hungersnot mit Nahrung und macht aus Betlehem entsprechend der Wortbedeutung wieder ein „Haus des Brotes“ (Ps 65,10). Das Volk ist also bereits von seiner Not erlöst. Wie wird es nun Noomi ergehen? Noomi beabsichtigt in ihre Heimat zurückzukehren und ihre Schwiegertöchter begleiten sie. Direkt im nächsten Vers heißt es dann, dass auch die beiden Moabiterinnen Orpa und Rut ihre Heimat verließen, um nach Juda „zurückzukehren“. Aber wie können sie an einen fremden Ort „heimkehren“? Wo werden Orpa und Rut ihre neue Heimat finden?
Verse 8-9: Die Rückkehr, die Noomi in ihrer Autorität als Schwiegermutter Orpa und Rut befiehlt, ist der Gang zurück zu ihrer Mutter. Es war üblich, dass Witwen zurück zu ihren Vätern gingen, um von ihnen wieder neu verheiratet zu werden (Genesis 38,11). Noomi verweist sie jedoch zurück ins „Haus ihrer [jeweiligen] Mutter“. Sie redet beide zwar als „meine Töchter“ an, aber weiß darum, dass ihre wahren Mütter, nun die besseren Ratgeberinnen für sie sein können (Genesis 24,28). Denn „das Haus der Mutter“ steht für eine (neue) Liebe zwischen Mann und Frau (Hohelied 3,4). So wie Gott seinem Volk Nahrung gegeben hat, so soll er Orpa und Rut nun ihre Treue gegenüber Noomis Familie vergelten und sie versorgen durch neue Ehemänner. Dieser Segenswunsch Noomis ist zugleich ein Autoritätsausdruck. Nie wird im Alten Testament eine ältere Person durch eine jüngere gesegnet. Noomi sendet ihre Schwiegertöchter mit einem Abschiedskuss zurück zu ihren Familien.
Vers 10: Orpa und Rut geht es nicht um die eigene Versorgung. Sie antworten mit vereinter Stimme, dass sie mit ihrer Schwiegermutter zu ihrem Volk zurückkehren wollen und dort ihre neue Heimat finden werden.
Verse 11-13: Noomi betont ihre Autorität. Dreimal spricht sie Orpa und Rut als „meine Töchter“ an und fordert sie zweimal auf nach Moab zurückzukehren. Nachdem der Blick auf die Zukunft ihrer Schwiegertöchter in Moab diese nicht überzeugt hat, schildert sie die hoffnungslose Perspektive in Juda. Anders als ihre eigenen Familien wird Noomi ihnen keine neuen Ehemänner geben können. Nicht nur ist sie zu alt, um noch Kinder zu gebären, die zu ihren Ehemännern werden können. Auch sind die Schwiegertöchter schon zu alt, um auf neue Söhne Noomis zu warten. Noomi sieht keine Zukunft für sie bei sich, denn sie führt das über sie hereingebrochene Unheil auf Gott zurück und das aus der Hand JHWHs hervorgegangene Unglück ist nach alttestamentlichen Glauben ansteckend (Ijob 19,13-22). Der von ihr gesprochene Abschiedssegen betonte das zukünftige heilvolle Handeln Gottes an ihren Schwiegertöchtern, wenn sie zu ihren Familien zurückkehren. An ihr handelt Gott ihrer Meinung nach jedoch nur unheilvoll – sie ist verbittert (siehe Rut 1,20).
Vers 14: Wie zuvor reagieren beide Schwiegertöchter mit Weinen auf die Argumentation Noomis. Aber nun erwidert Orpa den Abschiedskuss. Sie folgt dem warnenden Ratschlag und entspricht Noomis Wunsch. Der Erzähler beurteilt ihre Abkehr nicht. Aber der Kontext legt nahe, dass sie den vernünftigen Weg wählt, während Rut gegen den Willen Noomis halsstarrig bleibt. Wörtlich heißt es hier: „Rut hielt sie [Noomi] fest“. Mit der gleichen Formulierung wird in der Schöpfungsgeschichte die positive Beziehung zwischen Mann und Frau beschrieben (Gen 2,24) sowie das Verhältnis Israels zu seinem Gott (Dtn 10,20).
Vers 15: Der Ton Noomis ändert sich. Sie redet Rut nicht mehr als „meine Tochter“ an und sie beginnt ihre Rede auch nicht mit der Aufforderung zurückzukehren. Sondern sie verweist auf Orpa als Vorbild für Rut. Die Rückkehr in die eigene Heimat, in die eigene Kultur und Religion ist das Empfehlenswerte.
Verse 16-18: Rut antwortet nun nicht mehr einfach, sondern sie leistet einen Eid, indem sie ihr gesamtes Schicksal mit Noomis Leben verbindet. Und ihr erstes Wort ist nun ein Befehl an Noomi: „Bedränge mich nicht!“. Sie ist fest entschlossen eine Lebensgemeinschaft mit Noomi einzugehen, die selbst der Tod und Gott nicht trennen können. Ihr Handeln ist nicht mit einer Konversion zu verwechseln. Es geht nicht um die Anerkenntnis JHWH als ihren Gott, sondern um die Angleichung an Noomi. Rut will nicht empfangen, sie handelt nicht zum eigenen Nutzen, sondern sie will geben, begleiten, unterstützen. Die Verbindung, die Rut mir ihren Worten zu Noomi eingeht, ist mit keiner anderen Beziehung zwischen zwei Menschen im Alten Testament vergleichbar. Sie gibt ihre soziale und kulturelle Identität auf, um sich an der Seite Noomi neu zu finden – und Noomi reagiert auf diesen absoluten Liebesbeweis mit akzeptierender Stille.
Vers 19: Orpa und Noomi kehren jeweils in eine andere Richtung zurück in ihre Heimat. Rut bricht hingegen auf in ein neues Leben, das sich an der Seite Noomis ereignen wird. Die Wege der zwei Schwiegertöchter haben sich getrennt und eine neue Zweiheit hat sich durch Rut begründet: „So gingen die zwei, bis sie nach Bethlehem kamen“.