Das Buch Rut

Rut 1,6-19a: Rut entscheidet sich für Noomi

6Da brach sie mit ihren Schwiegertöchtern auf, um aus dem Grünland Moabs heimzukehren; denn sie hatte dort gehört, der HERR habe sich seines Volkes angenommen und ihm Brot gegeben. 7Sie verließ zusammen mit ihren beiden Schwiegertöchtern den Ort, wo sie sich aufgehalten hatte.

Als sie nun auf dem Heimweg in das Land Juda waren, 8sagte Noomi zu ihren beiden Schwiegertöchtern:

Kehrt doch beide heim zu euren Müttern! Der HERR erweise euch Güte, wie ihr sie den Toten und mir erwiesen habt.9Der HERR lasse jede von euch Geborgenheit finden bei einem Gatten.

Damit küsste sie beide zum Abschied; doch Orpa und Rut begannen laut zu weinen 10und sagten zu ihr:

Nein, wir wollen mit dir zu deinem Volk gehen.

11Noomi sagte:

Kehrt doch um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir ziehen? Habe ich etwa in meinem Leib noch Söhne, die eure Männer werden könnten? 12Kehrt um, meine Töchter, und geht; denn ich bin zu alt, noch einem Mann zu gehören. Selbst wenn ich dächte, ich habe noch Hoffnung, ja, wenn ich noch diese Nacht einem Mann gehörte und gar Söhne bekäme: 13Wolltet ihr warten, bis sie erwachsen sind? Wolltet ihr euch so lange abschließen und ohne einen Mann leben? Nein, meine Töchter! Mir täte es bitter leid um euch; denn mich hat die Hand des HERRN getroffen.

14Da weinten sie noch lauter. Doch dann gab Orpa ihrer Schwiegermutter den Abschiedskuss, während Rut nicht von ihr ließ.15Noomi sagte:

Du siehst, deine Schwägerin kehrt heim zu ihrem Volk und zu ihrem Gott. Folge ihr doch!

16Rut antwortete:

Dränge mich nicht, dich zu verlassen und umzukehren. Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott.17Wo du stirbst, da sterbe auch ich, da will ich begraben sein. Der HERR soll mir dies und das antun - nur der Tod wird mich von dir scheiden.

18Als sie sah, dass Rut darauf bestand, mit ihr zu gehen, redete sie nicht länger auf sie ein. So zogen sie miteinander bis Betlehem.

Überblick

Noomi bricht aus der materiellen und sozialen Verzweiflung auf – von Moab zurück in ihre Heimat. Aus der Sackgasse wird ein Weg zurück, auf dem sie durch ihre Schwiegertochter Rut erfährt, was echte, mitmenschliche Liebe und grenzenlose Solidarität sind.

1. Verortung im Buch

Nachdem in den ersten Versen des Buches die Ereignisse von 10 Jahren zusammengefasst werden, verlangsamt sich ab Vers 6 die Erzählgeschwindigkeit. Wie in jedem weiteren der vier Kapitel wird ein entscheidender Dialog erzählt. Hier am Scheideweg zwischen Moab und Juda trifft Rut im Gespräch mit Noomi ihre Entscheidung: Sie begibt sich in eine Schicksalsgemeinschaft mit ihrer Schwiegermutter. Am Ende des Buches, im vierten Kapitel, wird es wieder in einem Dialog um eine Lebensgemeinschaft gehen: Boas, der zukünftige Ehemann Ruts, wird versprechen, beide Witwen lebenslang zu versorgen.

 

2. Aufbau

Noomi bricht aus Moab auf, nachdem sie gehört hat, dass die Hungersnot in Betlehem beendet ist. Diese Rückkehr ist das Leitthema des sich auf dem Weg ergebenden Gesprächs zwischen ihr und ihren beiden Schwiegertöchtern: Wer kehrt wohin zurück? (vgl. V. 6.7.8.10.11.12.15.16; siehe auch V. 21.22). Sie brechen zu dritt auf, aber in drei Redegängen versucht Noomi ihre Schwiegertöchter zu überzeugen, nicht mit ihr in das ihnen unbekannte Bethlehem zu gehen. Sie ist gewiss, dass auf die beiden in Moab ein besseres Leben wartet (V. 8-9). In Noomis Heimat werde es keine Zukunft für sie geben (V. 11-13). Nachdem Orpa auf die weisen Ratschläge ihrer Schwiegermutter hört und nach Moab zurückkehrt, stellt Noomi sie als Vorbild für Rut dar (V. 15). Aber Rut entscheidet sich dazu, sich mit ihrem ganzen Leben an das Schicksal Noomis zu binden und mit ihr in die neue Heimat „zurückzukehren“.  

 

3. Erklärung einzelner Verse

Verse 6-7: Gott erlöst sein Volk von der Hungersnot und nimmt sich seiner an, wie er es bereits im Exodus, der Herausführung aus dem Sklavenhaus Ägypten, getan hat (Exodus 4,31). Er versorgt sein Volk in der Hungersnot mit Nahrung und macht aus Betlehem entsprechend der Wortbedeutung wieder ein „Haus des Brotes“ (Ps 65,10). Das Volk ist also bereits von seiner Not erlöst. Wie wird es nun Noomi ergehen? Noomi beabsichtigt in ihre Heimat zurückzukehren und ihre Schwiegertöchter begleiten sie. Direkt im nächsten Vers heißt es dann, dass auch die beiden Moabiterinnen Orpa und Rut ihre Heimat verließen, um nach Juda „zurückzukehren“. Aber wie können sie an einen fremden Ort „heimkehren“? Wo werden Orpa und Rut ihre neue Heimat finden?

Verse 8-9: Die Rückkehr, die Noomi in ihrer Autorität als Schwiegermutter Orpa und Rut befiehlt, ist der Gang zurück zu ihrer Mutter. Es war üblich, dass Witwen zurück zu ihren Vätern gingen, um von ihnen wieder neu verheiratet zu werden (Genesis 38,11). Noomi verweist sie jedoch zurück ins „Haus ihrer [jeweiligen] Mutter“. Sie redet beide zwar als „meine Töchter“ an, aber weiß darum, dass ihre wahren Mütter, nun die besseren Ratgeberinnen für sie sein können (Genesis 24,28). Denn „das Haus der Mutter“ steht für eine (neue) Liebe zwischen Mann und Frau (Hohelied 3,4). So wie Gott seinem Volk Nahrung gegeben hat, so soll er Orpa und Rut nun ihre Treue gegenüber Noomis Familie vergelten und sie versorgen durch neue Ehemänner. Dieser Segenswunsch Noomis ist zugleich ein Autoritätsausdruck. Nie wird im Alten Testament eine ältere Person durch eine jüngere gesegnet. Noomi sendet ihre Schwiegertöchter mit einem Abschiedskuss zurück zu ihren Familien.

Vers 10: Orpa und Rut geht es nicht um die eigene Versorgung. Sie antworten mit vereinter Stimme, dass sie mit ihrer Schwiegermutter zu ihrem Volk zurückkehren wollen und dort ihre neue Heimat finden werden.

Verse 11-13: Noomi betont ihre Autorität. Dreimal spricht sie Orpa und Rut als „meine Töchter“ an und fordert sie zweimal auf nach Moab zurückzukehren. Nachdem der Blick auf die Zukunft ihrer Schwiegertöchter in Moab diese nicht überzeugt hat, schildert sie die hoffnungslose Perspektive in Juda. Anders als ihre eigenen Familien wird Noomi ihnen keine neuen Ehemänner geben können. Nicht nur ist sie zu alt, um noch Kinder zu gebären, die zu ihren Ehemännern werden können. Auch sind die Schwiegertöchter schon zu alt, um auf neue Söhne Noomis zu warten. Noomi sieht keine Zukunft für sie bei sich, denn sie führt das über sie hereingebrochene Unheil auf Gott zurück und das aus der Hand JHWHs hervorgegangene Unglück ist nach alttestamentlichen Glauben ansteckend (Ijob 19,13-22). Der von ihr gesprochene Abschiedssegen betonte das zukünftige heilvolle Handeln Gottes an ihren Schwiegertöchtern, wenn sie zu ihren Familien zurückkehren. An ihr handelt Gott ihrer Meinung nach jedoch nur unheilvoll – sie ist verbittert (siehe Rut 1,20).

Vers 14: Wie zuvor reagieren beide Schwiegertöchter mit Weinen auf die Argumentation Noomis. Aber nun erwidert Orpa den Abschiedskuss. Sie folgt dem warnenden Ratschlag und entspricht Noomis Wunsch. Der Erzähler beurteilt ihre Abkehr nicht. Aber der Kontext legt nahe, dass sie den vernünftigen Weg wählt, während Rut gegen den Willen Noomis halsstarrig bleibt. Wörtlich heißt es hier: „Rut hielt sie [Noomi] fest“. Mit der gleichen Formulierung wird in der Schöpfungsgeschichte die positive Beziehung zwischen Mann und Frau beschrieben (Gen 2,24) sowie das Verhältnis Israels zu seinem Gott (Dtn 10,20).

Vers 15: Der Ton Noomis ändert sich. Sie redet Rut nicht mehr als „meine Tochter“ an und sie beginnt ihre Rede auch nicht mit der Aufforderung zurückzukehren. Sondern sie verweist auf Orpa als Vorbild für Rut. Die Rückkehr in die eigene Heimat, in die eigene Kultur und Religion ist das Empfehlenswerte.

Verse 16-18: Rut antwortet nun nicht mehr einfach, sondern sie leistet einen Eid, indem sie ihr gesamtes Schicksal mit Noomis Leben verbindet. Und ihr erstes Wort ist nun ein Befehl an Noomi: „Bedränge mich nicht!“. Sie ist fest entschlossen eine Lebensgemeinschaft mit Noomi einzugehen, die selbst der Tod und Gott nicht trennen können. Ihr Handeln ist nicht mit einer Konversion zu verwechseln. Es geht nicht um die Anerkenntnis JHWH als ihren Gott, sondern um die Angleichung an Noomi. Rut will nicht empfangen, sie handelt nicht zum eigenen Nutzen, sondern sie will geben, begleiten, unterstützen. Die Verbindung, die Rut mir ihren Worten zu Noomi eingeht, ist mit keiner anderen Beziehung zwischen zwei Menschen im Alten Testament vergleichbar. Sie gibt ihre soziale und kulturelle Identität auf, um sich an der Seite Noomi neu zu finden – und Noomi reagiert auf diesen absoluten Liebesbeweis mit akzeptierender Stille.

Vers 19: Orpa und Noomi kehren jeweils in eine andere Richtung zurück in ihre Heimat. Rut bricht hingegen auf in ein neues Leben, das sich an der Seite Noomis ereignen wird. Die Wege der zwei Schwiegertöchter haben sich getrennt und eine neue Zweiheit hat sich durch Rut begründet: „So gingen die zwei, bis sie nach Bethlehem kamen“.

Auslegung

Um ihre materielle Not zu lindern, kehrt Noomi zurück in ihre Heimat und auf dem Weg dahin wendet sich auch ihre soziale Not. Die Rückkehr verändert die Beziehung zwischen Noomi und Rut.

  • Das zentrale Leitwort im ersten Kapitel ist „zurückkehren“. Zuerst wird nur gesagt, dass Noomi in ihre Heimat zurückehrt und ihre Schwiegertöchter sie dabei begleiten (Vers 6). Aber dann heißt es, dass alle drei gemeinsam in die Heimat Noomis zurückkehren (Vers 7). In dem folgenden Gespräch zwischen Noomi und ihren Schwiegertöchtern geht es darum, wer wie wohin zurückkehrt. Nach den erzählenden ersten Worten folgt direkt die sich mehrfach wiederholende Aufforderung Noomis: „Kehrt zurück!“ (Verse 8.11.12) Sie sollen zu ihren Familien, zur ihrem Volk und zu ihrem Gott zurückkehren. Anfangs sprechen sie noch mit einer Stimme: „Nein, mit dir wollen wir zurückkehren zu deinem Volk!“ Doch dann lässt sich Orpa von Noomis Argumenten überzeugen. Orpas Rückkehr wird von Noomi als vernünftiges Vorbild gepriesen (V 15), aufgrund ihrer Rückkehr zu ihrem Volk und ihrem Gott. Rut verneint aber deutlich diese Möglichkeit für sich, denn eine Rückkehr nach Moab würde eine Abkehr von Noomi bedeuten (Vers 16). Rut identifiziert sich mit Noomi und definiert Heimat nicht mehr ihre eigene religiöse und kulturelle Herkunft. So wird sie an der Seite Noomis zu einer Rückkehrerin in die Heimat ihrer Schwiegermutter.
  • Anfangs verdeutlicht Noomi im Gespräch mit ihren Schwiegertöchtern ihre Autoritätsposition. Sie beginnt das Gespräch auf dem Weg und eröffnet es mit einem Imperativ. Auch die Anrede „meine Töchter“ zeigt auf, dass sie zueinander in keiner gleichberechtigen Beziehung stehen. Aber Noomi kann ihren Schwiegertöchtern nicht vorschreiben, wie sie zu handeln haben, sondern sie versucht sie mit Argumenten zu überzeugen. Während in diesem Gespräch Orpa dem Wunsch Noomis folgt, erhebt sich Noomi zur Gesprächspartnerin, die radikal die Perspektive wechselt. Ohne das der Erzähler Orpas Handeln verurteilt, gibt es doch einen deutlichen Unterschied zwischen beiden Schwiegertöchtern. Orpa wählt die für sie bessere Option. Rut hingegen fragt nicht, was sie durch ihr Tun selbst erhält, sondern was sie durch ihr Handeln Noomi Gutes tun kann. Während Noomi ihr Schicksal nicht freiwillig wählen kann, nimmt Rut Noomis Schicksal freiwillig auf sich. In bedingungsloser Solidarität findet sie ihre Identität nicht aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit oder ihres Glaubens, sondern in der Beziehung zu Noomi.  

Kunst etc.

Eindrücklich hat der englische Maler William Blake (1757-1827) das unterschiedliche Verhalten der beiden Schwiegertöchter in einem Bild dargestellt. Orpa wendet sich von Noomi ab, nicht fröhlich aufgrund der sie in Moab erwartenden besseren Zukunft, sondern traurig aufgrund der Trennung von ihrer Schwiegermutter. Rut hingegen klammert sich fest an Noomi, die mit leeren Händen, vom Leben gezeichnet dasteht.

William Blake, Naomi entreating Ruth and Orpah to return to the land of Moab, 1795 - Lizenz: gemeinfrei
William Blake, Naomi entreating Ruth and Orpah to return to the land of Moab, 1795 - Lizenz: gemeinfrei