Das Buch Rut

Rut 1,19b-22: Ankunft in Betlehem

19Als sie in Betlehem ankamen, geriet die ganze Stadt ihretwegen in Bewegung. Die Frauen sagten:

Ist das nicht Noomi?

20Doch sie erwiderte:

Nennt mich nicht mehr Noomi. Liebliche, sondern Mara, Bittere; denn viel Bitteres hat der Allmächtige mir getan.

21Reich bin ich ausgezogen, aber mit leeren Händen hat der Herr mich heimkehren lassen.

Warum nennt ihr mich noch Noomi, da doch der Herr gegen mich gesprochen und der Allmächtige mir Schlimmes angetan hat?

22So kehrte Noomi mit Rut, ihrer moabitischen Schwiegertochter, aus dem Grünland Moabs heim. Zu Beginn der Gerstenernte kamen sie in Betlehem an.

Überblick

Verbittert kehrt Noomi nach Betlehem zurück. Aus ihr ist in Moab ein weiblicher Ijob geworden. Ihre Ankunft ist kein Freudenereignis.

 

1. Verortung im Buch

Am Ende des ersten Kapitels ist man wieder am Ort des Anfangs angekommen.  Noomi kehrt wieder zurück nach Betlehem, von wo sie mit ihrer Familie wegen einer Hungersnot geflohen war. Passend zur Gerstenernte trifft sie ein. Verbittert klagt sie zurückblickend über Ihr Schicksal, aber auf den Erntefeldern wird sich in den nächsten Kapiteln ihr erfahrenes Unheil in Heil wandeln.

 

2. Aufbau

Rut und Noomi kommen in Bethlehem an. Diese Aussage rahmt diesen Abschnitt. Die Rückkehr bedeutet Heil, weil Gott sich – wie es in Vers 6 erzählt wurde – seinem Volk wieder angenommen und ihm Nahrung gegeben hatte. Im Zentrum dieses Abschnittes steht jedoch die in Worte gefasste Verzweiflung Noomis – wörtlich übersetzt: „Ich, voll bin ich gegangen, aber leer hat mich JHWH zurückkehren lassen.“ (Vers 21) Um dieses Leid legt Noomi in ihrer Rede wie eine Klammer die doppelte Aufforderung, dass man sie fortan nicht mehr Noomi, d.h. die Wonne, nennen soll, sondern Mara, d.h. die Bittere.

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 19b: Das Ende des Kapitels liest sich wie sein Anfang. Sowohl in Vers 1 als auch hier heißt es im Hebräischen „Und es geschah …“. Es deutet sich ein Neuanfang an. Doch zuerst ist der Blick in die Vergangenheit gewendet. Die Nachricht über Noomis Rückkehr verbreitet sich wie ein Lauffeuer.

Vers 20: Anhand ihres Namens erklärt Noomi ihr Schicksal. Aus der Wonne ist die Bitterkeit geworden – sie will fortan nicht mehr Noomi, sondern Mara, d.h. die Bittere, genannt werden. Bereits in Vers 13 sagt sie, dass sie „bitter“ ist, weil sie ihre Schwiegertöchter nicht versorgen kann. Bitter ist im Alten Testament nicht nur das Gegenteil von einem süßen Geschmack, sondern bezeichnet auch wie im Deutschen einen Gemütszustand im Unglück. So wird zum Beispiel im Buch Jesaja eine tödliche Krankheit als „bitteres Leid“ bezeichnet (Jesaja 38,17). Der Grund für das bittere Leid Noomis, das ihre Identität prägt, ist aus ihrer Perspektive Gott, den sie beim Namen nennt und als שַׁדַּי (gesprochen: Schaddaj) benennt. Diese Gottesbezeichnung bedeutet „der Allmächtige“, im positiven wie im negativen Sinne (siehe Auslegung).

Vers 21: In Vers 5 hat der Erzähler die hilflose Verlassenheit Noomi berichtet: „Noomi [wörtlich: die Frau] blieb allein, ohne ihren Mann und ohne ihre beiden Söhne.“ Dieses Schicksal beklagt sie nun in ihren eigenen Worten: „Reich [wörtlich: voll] bin ich ausgezogen, aber mit leeren Händen [wörtlich: leer] hat der HERR mich heimkehren lassen“. Der Gott, der gemäß Vers 6 sein Volk von der Hungersnot gerettet hat, wird von Noomi für ihre Lebenssituation verantwortlich gemacht.

Vers 22: Am Ende betont der Text zweimal, dass Rut und Noomi nach Bethlehem zurückgekehrt sind. Erst berichtet der Erzähler, dass Noomi nach Betlehem heimgekehrt ist und Rut sie begleitet. Im Hebräischen folgt dann dieser Aussage der Teilsatz: „die Rückkehrerin von den Feldern Moab“, der grammatikalisch auf Rut bezogen ist (siehe Rut 2,16). Hier formuliert der Erzähler eine bewusste Spannung, die die Erzählung fortan begleiten wird. Rut kommt in ihrer neuen Heimat an, aber sie bleibt doch zuerst eine Fremde, wie es in den folgenden Kapiteln mehrmals betont wird: „Rut, die Moabiterin“ (siehe zum Beispiel Rut 2,2).

 

Auslegung

Auf den absoluten Liebesbeweis Ruts in den Versen 16-17 folgt in den Worten Noomis in den Versen 20-21 eine bittere Klage. Mit keinem Wort erwähnt sie bei ihrer Rückkehr Ruts selbstloses Handeln, sondern sie kreist verbittert um ihr eigenes Geschick im Angesicht Gottes. Sie ist – vergleichbar mit Ijob – eine leidende Gerechte, die mit ihrem Gott hadert, wenngleich sie nicht von ihm lässt.

  • Klage: In ihren Worten verweist Noomi siebenmal auf sich selbst und ihre Situation. Sie ist die Leidende. Die Fülle, in der sie Bethlehem aufgrund der Hungersnot verlassen hatte, ist ihr vor dem erneuten Aufblühen der judäischen Felder zur Leere geworden. Sie hat ihren Mann und die „Frucht ihres eigenen Leibes“ verloren und muss nun in der Welt alleine als alte Witwe bestehen. Hierfür macht sie Gott verantwortlich und klagt ihn in ihren Worten direkt an.  Schon in Moab hatte sie zu ihren Schwiegertöchtern gesagt: „mich hat die Hand des HERRN getroffen.“ (Rut 1,13). Nun, gegenüber den Frauen in Betlehem, beklagt sie in Vers 21, dass Gott sie erniedrigt und ihr Böses angetan hat. Die hier im Hebräischen verwendeten zwei Verben (ענה, gesprochen: ana, und רעע, gesprochen: ra’a) finden sich in der Hebräischen Bibel ansonsten nur noch ein zweites Mal gemeinsam in einem Vers. Mit diesen Worten sollen die Israeliten bei Opfer der Erstlingsfrüchte ihrer Knechtschaft in Ägypten gedenken: „Die Ägypter behandelten uns schlecht [רעע], machten uns rechtlos [ענה] und legten uns harte Fronarbeit auf.“ (Deuteronomium 26,6). So wird in der Wahl der Worte die Schwere des Schicksals Noomis ausgedrückt – aber nicht verursacht durch eine böse weltliche Macht, sondern durch Gott selbst. Der Erzähler selbst lässt die Ursache für Noomis Witwenschaft offen. Auch klagt er Gott nicht wegen der Hungersnot in Betlehem an, sondern nur das rettenden Eingreifen Gottes berichtet er. Am Ende des ersten Kapitels gibt es zudem keine Antwort auf Noomis Worte. Ihre Klage erfährt keine Erwiderung und bleibt offen stehen.
  • Ijob: Die Gottesbezeichnung שַׁדַּי (gesprochen: schaddaj), die in den Worten Noomi verwendet wird und in der Einheitsübersetzung mit „der Allmächtige“ wiedergegeben ist, kommt in der Hebräischen Bibel 47mal vor. Alleine 31mal findet man sie im Buch Ijob und dort steht sie für die Rätselhaftigkeit des göttlichen Handelns und dessen erdrückende, sowohl heilende als auch strafende Übermacht. Die genaue Übersetzung dieser Gottesbezeichnung ist umstritten. Die Septuaginta, die antike, griechische Übersetzung des Alten Testaments gibt sie im Buch Ijob mit dem griechischen Wort παντοκράτορα (gesprochen: pantokratora), das „der Allmächtige“ bedeutet, wieder. Im Hebräischen klingt in dieser Gottesbezeichnung das Verb שדד (gesprochen: schadad) an: „verheeren“, „verwüsten“. So klingt in ihr auch die Strenge Gottes an, wie zum Beispiel in Jesaja 13,5 zum Ausdruck kommt: „Sie kommen aus einem fernen Land, vom Ende des Himmels: der HERR und die Waffen seines Zorns, um die ganze Erde zu verwüsten [שדד].“ (Jesaja 13,5). Nicht nur die Gottesbezeichnung שַׁדַּי verweist ins Buch Ijob, sondern Noomi wird als seine weibliche Gegenfigur zu Ijob dargestellt. Sie leidet an Gott und hadert mit ihm, ohne aber von ihm abzulassen. Sie ist sich selbst keiner Schuld bewusst, die Gottes Handeln erkläre könnte. Anders jedoch als Ijob nimmt sie ihr Schicksal nicht nur an, sondern ergreift selbst die Initiative und bringt Veränderung in ihr Leben durch den Aufbruch von Moab und die Ankunft in Betlehem. Sie lebt ihr Leben trotz aller Bitterkeit weiter.

Kunst etc.

In einer Bibelillustration von Jim Padgett aus dem Jahr 1984 sind bei der Ankunft Noomis und Ruts in Betlehem zwei Männer zu sehen. Einer, der Noomi anlächelt, und einer, der Rut grimmig anguckt. In dieser Darstellung wird die Aussage in Vers 19 ausgedeutet: „Als sie in Betlehem ankamen, geriet die ganze Stadt ihretwegen in Bewegung.“ Die Bekannte kehrt nicht mir ihrer Familie, sondern mit einer Fremden heim. Die in der Frage der Frauen „Ist das nicht Noomi?“ zum Ausdruck kommende Verwunderung und Noomis Bitterkeit bei ihrer Rückkehr finden hingegen in dieser Darstellung keinen Ausdruck.

Jim Padgett (Sweet Publishing), 1984 - Lizenz: CC-BY-SA 3.0.
Jim Padgett (Sweet Publishing), 1984 - Lizenz: CC-BY-SA 3.0.