Das Buch Rut

Rut 1,1-5: Die Vorgeschichte

11Zu der Zeit, als die Richter regierten, kam eine Hungersnot über das Land. Da zog ein Mann mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen aus Betlehem in Juda fort, um sich als Fremder im Grünland Moabs niederzulassen.

2Der Mann hieß Elimelech, seine Frau Noomi, und seine Söhne hießen Machlon und Kiljon; sie waren Efratiter aus Betlehem in Juda.

Als sie im Grünland Moabs ankamen, blieben sie dort.

3Elimelech, der Mann Noomis, starb und sie blieb mit ihren beiden Söhnen zurück.

4Diese nahmen sich moabitische Frauen, Orpa und Rut, und so wohnten sie dort etwa zehn Jahre lang.

5Dann starben auch Machlon und Kiljon und Noomi blieb allein, ohne ihren Mann und ohne ihre beiden Söhne.

Überblick

Eine Familie flieht vor einer Hungersnot und am Ende der zwischenzeitlichen Rettung ist aus der Familienmutter, Noomi, eine kinderlose Witwe geworden. Das Buch Rut beginnt mit einer Katastrophe, die den Identitätsverlust Noomis bedeutet. 

 

1. Verortung im Buch

Die eigentliche Geschichte des Buches beginnt erst später mit dem Dialog zwischen Noomi und ihren verwitweten Schwiegertöchtern (Verse 6-19a). Die ersten Verse erzählen die Vorgeschichte und eröffnen doch zugleich den Hauptbogen. Die allein zurückgebliebene Witwe Noomi wird am Ende des Buches durch das heilende Eingreifen Gottes von der sie existentiell bedrohenden Kinderlosigkeit erlöst.  Durch Rut wird ihr ein Kind geboren, in dem der Name des verstorbenen Familienvaters weiterleben wird (Rut 4,5.10.16).

 

2. Aufbau

Hunger und Tod sind die Themen, die die ersten Verse des Buches Rut beherrschen. Die Auswanderung nach Moab wegen der Hungersnot in Betlehem umrahmt die beiden ersten Verse. Der Tod, vor dem die Familie geflohen ist, holt sie in der Fremde ein. Verse 3-5 werden durch den Tod zuerst des Familienvaters, Elimelech, und dann der Söhne, Machlon und Kiljon, gerahmt. Noomi und Rut, die beiden Hauptpersonen des Buches werden in den Versen 2 und 4 scheinbar nur nebenbei erwähnt. Doch zwischen den beiden Teilen der Exposition (Verse 1-2 und 3-5) geschieht ein wichtiger Perspektivenwechsel. Am Anfang wird Noomi als Elimelechs Frau eingeführt. Mit seinem Tod nimmt der Erzähler oder die Erzählerin jedoch nicht die zu vermutenden Perspektive der Söhne als Nachfolger ihres Vaters ein, sondern die Familie wird ausgehend von der Mutter beschrieben: Elimelech war der Mann Noomis; Machlon und Kiljon sind ihre Söhne. Noomi wird in den Fokus der Erzählung gerückt. Am Ende ist sie am Tiefpunkt angelangt. Sie ist in der Fremde und hat ihre gesamte Familie verloren. Im Hebräischen Text wird Noomi sogar in Vers 5 nicht mal mehr mit ihrem Namen genannt, sondern nur als „die Frau“ (האישה) bezeichnet. Mit ihrer Familie hat sie in der damaligen Welt ihre Identität verloren.

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 1: Die Erzählung spielt in der Zeit bevor das Volk einen König hatte und einzelne von Gott erwählte Führungspersönlichkeiten, die Richter genannt wurden, das Volk je nach einem Abfall von Gott und der Bedrohung durch andere Völker retteten. Im Buch Rut geht es aber weder um die Erwählung eines Richters, noch um den Abfall des Volkes von Gott oder einer Bedrohung durch ein fremdes Volk. Vielmehr findet eine israelitische Familie Zuflucht und Versorgung in dem fremden Land Moab und rettet sich so vor der Hungersnot im eigenen Land.

Vers 2: Namen haben im Buch Rut eine besondere Bedeutung und es handelt sich fast immer um sogenannte „sprechende Namen“. Sie haben für die Erzählung relevante Bedeutungen (zum Namen „Rut“ siehe die Einleitung). Der Familienvater heißt Elimelech, was auf Hebräisch „Mein Gott ist König“ bedeutet. Scheinbar kann aber Gott als König ihn nicht versorgen und so flieht Elimelech in ein anderes Königreich. In Vers 6 wird sich Gott jedoch ein erstes Mal in diesem Buch als König erweisen, indem er die Hungersnot in Betlehem beendet. Der Name der Mutter der Familie ist Noomi, „meine Wonne“. Dieser ist wahrscheinlich eine Kurzform für „Gott ist meine Wonne“. Dass Gott liebevoll an Noomi handelt, bestätigt sich jedoch in den ersten Versen der Erzählung nicht und so ändert sie später in Vers 20 ihren Namen zu Mara: „Nennt mich nicht mehr Noomi, Liebliche, sondern Mara, Bittere; denn viel Bitteres hat der Allmächtige mir getan.“ Die Katastrophen, die über Noomi hineinbrechen, werden bereits in den Namen ihrer Söhne sichtbar. Machlon und Kiljon bedeuten übersetzt „der Kränkliche und der Schwächliche“, womit schon auf deren baldigen Tod vorausgewiesen wird. Auch der Name der zweiten Schwiegertochter verweist voraus, auf das Kommende. Der Name leitet sich von dem hebräischen Begriff für „Nacken“ ab und bedeutet „die den Nacken Zukehrende“. In ihrem Namen deutet sich schon das in Rut 1,6-19a erzählte Geschehen: Rut begleitet Noomi zurück nach Betlehem, aber Orpa wird zurückkehren, wo sie hergekommen ist.

Verse 3-5: Nachdem in Vers 3 berichteten Tod des Familienvaters scheint neue Hoffnung in den Familiengründungen der beiden Söhne zu liegen. Doch der Eheschließung folgt kein Babyglück, sondern der Text stellt nur fest, dass zehn Jahre vergingen. Nach diesen zehn Jahren sterben beide Söhne und hinterlassen keine Nachkommen. Am Ende steht Noomi alleine dar.

Auslegung

Noomi verlässt nicht nur ihre Heimat, sondern sie verliert in der Fremde auch ihre gesamte Familie und somit nach damaligen Verständnis ihre Identität und Versorgung. Moab wird somit für sie zum Ort des Lebenstiefpunktes.

  • Moab: Im Namen Noomis Heimatortes, Betlehem, erklingt eigentlich eine Verheißung. Man könnte ihn mit „Haus des Brotes“ übersetzen. Doch eine Hungersnot, deren Grund nicht erzählt wird, verkehrt den Namen in sein Gegenteil. Für die Familie wird Moab zur neuen Hoffnung, auf dessen Feldern sie sich niederlassen, um dort als Fremde zu leben. Moab lag östlich von Israel auf der anderen Seite des Toten Meeres und umschloss einen Teil des sehr fruchtbaren Hochplateau Mischor, das als Kornkammer des Nahen Ostens galt. Wenn man annimmt, dass die moabitische Gesetzgebung der israelischen ähnlich war, so standen die Früchte der Nachlese den Armen und Fremden zu (siehe zum Beispiel Levitikus 19,10). In der biblischen Darstellung ist es nicht untypisch, dass einzelne Personen das Land wegen einer Hungersnot zeitweise verließen. Mit denselben hebräischen Worten wie in Rut 1,1 wird von Abraham erzählt, dass er aufgrund einer Hungersnot nach Ägypten zog (siehe Genesis 12,10). Anders als Ägypten ist jedoch Moab nach den Erzählungen im Buch Genesis ein „Bruderstaat“ Israels. Lot, der Neffe Abrahams, wurde von seiner ältesten Tochter unter Einfluss von Alkohol seines Samens beraubt, wodurch Moab gezeugt wurde (siehe Gen 19,30-38). Diese Geschichte zeigt die schwierige Beziehung, die zwischen den beiden Staaten gegeben war. Israel führte mehrere Kriege gegen Moab (siehe zum Beispiel Richter 3,12-30 und 1 Sam 14,47) und die Propheten richteten mehrere Drohworte an Moab (siehe zum Beispiel Amos 2,1-3). Zugleich steht das Land Moab unter besonderem Schutz Gottes (siehe Deuteronomium 2,9) und David brachte seine Eltern nach Moab, damit sie dort in Sicherheit leben konnten (siehe 1 Sam 22,1-5). In Rut 1,1-5 wird Moab nicht negativ dargestellt, sondern dient als positiver Kontrast zu der von Hungersnot geplagten Davidsstadt Betlehem. Noomis Familie wird in Vers 2 als Efratiter bezeichnet. Dies war ein Geschlecht Betlehems aus dem auch der Vater Davids und somit David selbst stammten (siehe 1 Sam 17,12). Aus dieser Stadt flieht Noomi mit ihrer Familie und in ihr wird am Ende des Buches durch Rut, die Moabiterin, Obed geboren – der Großvater König Davids.
  • Identität: Dass der Großvater König Davids von einer Moabiterin abstammt kann aus der Perspektive bestimmter biblischer Bücher als ein Skandal gewertet werden. Gemäß dem Buch Nehemia darf jemand, der eine fremdländische Herkunft hat, nicht zum Volk gehören (siehe Nehemia 13,1-3). Im Buch Deuteronomium wird im Besonderen darauf hingewiesen, dass Moabiter und ihre Nachkommen niemals zum Volk Israel dazugehören dürfen (siehe Deuteronomium 23,4). Aber das Buch Rut berichtet, dass die Söhne Noomis Moabiterinnen heirateten. Besonders auffallend hierbei ist die Wortwahl im Hebräischen. Die Wendung mit der die Eheschließung ausgedrückt ist (נשא + אישה, wörtlich: „eine Frau holen“), wird meistens für irreguläre Ehe verwendet, wie zum Beispiel die in den Büchern Esra und Nehemia verurteilen Mischehen. Im Buch Rut wird die Eheschließung jedoch weder positiv noch negativ kommentiert. Es geht nicht um die Hochzeit, sondern um den in den Versen 3-5 erzählten Tod des Familienvaters und dessen kinderlosen Nachfolgern. In der patriarchalen Gesellschaftsordnung, die in der Zeit der Bibel vorherrschte, bedeutete dies für Noomi den Verlust der sozialen Sicherheit. Ihre Versorgung war nicht mehr gesichert – sie wurde zu einem Niemand, deren letzte Hoffnung eine Rückkehr nach Betlehem in den Kreis ihrer weiteren Verwandtschaft war, um entweder neu zu heiraten oder im Schutz ihrer Herkunftsfamilie zu leben. Frauen wurden in der patriarchalen Gesellschaftsordnung als Besitz des Ehemanns verstanden, der ihre Versorgung garantierte. Noomi ist als kinderlose Witwe am Tiefpunkt ihres Lebens angekommen. Hoffnung gibt es für sie nur noch in Betlehem – aber dort herrscht noch die Hungersnot.

Kunst etc.

Die illustrierte Initiale aus einer von 1507 stammenden Bibel zeigt die beiden femininen Hauptpersonen des Buches: Noomi und Rut. Im Rücken Noomis sieht man Betlehem angedeutet, der Ort, aus dem sie stammt und zu dem sie zurückkehren wird. Beide Personen befinden sich in einer grünen Landschaft, die für den Nahrungsreichtum Moabs steht, der auch durch den mit Fischen übervollen Fluss dargestellt wird. Zugleich trennt dieser Fluss wie auch die Initiale beide Personen. Auf der einen Seite die Moabiterin und auf der anderen Seite die kinderlose Witwe aus Israel.

Walters Art Museum.  Walters Manuscript W.805, fol. 155v - Lizenz: gemeinfrei.
Walters Art Museum. Walters Manuscript W.805, fol. 155v - Lizenz: gemeinfrei.