„Brutalst mögliche Aufklärung!“ Diese sprachlich etwas entgleiste, aber nicht schwer zu deutende Ansage hörte man schon öfters aus Politikermund, wenn wieder einmal unsägliche Machenschaften ans Licht gebracht wurden. Die Verwirklichung verläuft nicht selten im Sande. Die erste große Redekomposition des Amosbuches löst hingegen das hinter der Formulierung stehende Versprechen tatsächlich ein.
1. Aufbau
Auffällig: Es fehlt bei dieser ersten großen Redekomposition jegliche Szenerie. Kein Ort und kein menschlicher Sprecher werden benannt, auch kein wirklicher Ansprechpartner. Alles ist ein „Reden über“, und zwar über ganze Völker. Zwar lässt die am Anfang jeder Strophe stehende sog. Botenspruchformel („So spricht der HERR“) einen Sprecher erahnen, der wohl mit dem Propheten Amos identifiziert werden soll. Aber ausdrücklich steht nichts davon im Text. Fast wie aus einem Lautsprecher in einem Sportstadion vernimmt man eine Stimme. Doch was sie zu sagen hat, sind nicht die Worte des Sprechers, sondern einzig Gottes Worte.
Formal ist die Rede als ein Gedicht in 8 Strophen gestaltet. Es reimt sich zwar nichts, aber es gibt einen regelmäßigen Aufbau mit Einstiegsrefrain, Schuldbenennung und Strafansage. Im Detail lauten die Einzelemente:
Botenspruchformel: So spricht der Herr
gestaffelter Zahlenspruch: Wegen dreier Vergehen von NN …, wegen vier …
Unwiderruflichkeitsformel: … nehme ich es nicht zurück
Schuldaufweis: je ein Vergehen
Unheilsankündigung: Feuer: Siehe, ich sende Feuer
weitere Unheilsankündigung: z. B.: ich zerbreche den Riegel
Gottesspruchformel: Spruch des Herrn (EÜ: spricht der HERR)
Exakt folgen diesem Muster die Damaskus-, Gaza-, Ammon- und Moab-Strophe. Sie sind wahrscheinlich die erste Ergänzung zur ursprünglichen Israelstrophe (Am 2,6-8.13-16), die als einzige auf Amos selbst zurückgehen dürfte. Sie unterscheidet sich vom angeführten Muster durch die Ausweitung des Schuldaufweises von einem Vergehen auf mindestens vier (Menschenverkauf, Rechtsbeugung, sexueller Missbrauch sowie Umgang mit Strafersatzleistungen; man kann auch noch detaillierter zählen und kommt auf sieben Vergehen). Außerdem ist die Unheilsankündigung eine völlig andere und eigenständige. Letzte Zutat sind Tyrus-, Edom- und Juda-Strophe, die zumindest zwei Vergehen nennen und dafür die Unheilsankündigung auf die Feuerandrohung kürzen.
Dramaturgisch läuft die Gesamtkomposition unter einem doppelten Gesichtspunkt allein auf das Todesurteil über Israel zu.
1.1 Geographisch
Die erste Fassung der Komposition umzingelt das Doppelreich Israel (Nordreich mit Samaria als Hauptstadt) und Juda (Südreich mit Jerusalem als Hauptstadt):
Damaskus als Hauptstadt Arams (heute Syrien) bildet den Nordriegel (außer dem schmalen Küstenstreifen Phöniziens gegenüber von Zypern),
die beispielhaft aus insgesamt 5 bedeutenden Städten ausgewählten Philisterorte (Gaza, Aschdod, Ekron) markieren die Westgrenze (die Philister siedelten, wie die Phönizier, an der Mittelmeerküste, aber weiter südlich auf der Höhe des Toten Meeres).
Ammon und Moab sind die östlich angrenzenden Länder (heute nördliches und mittleres Jordanien).
Die Ergänzungen machen die Einkesselung komplett, indem sie die „Nordwest-Lücke“ Phönizien mit der Stadt Tyrus und das südlich-südwestlich von Juda liegende Edom (heute Südjordanien mit der berühmten Ausgrabungsstätte Petra) nachtragen.
Da Amos als zwar aus Juda stammender, aber ausschließlich im Nordreich wirkender Prophet selbst kein Wort Gottes für das Südreich hatte, ist auch dieses als Nachtrag anzusehen. Die Ursprungsabsicht des Amos bleibt aber erhalten, insofern Israel das Schlussglied der gesamten Strophenkette bleibt.
1.2 Formal
Die Israel-Strophe ist selbst in ihrem ursprünglichen Wortlaut (s. o.) die ausführlichste sowohl hinsichtlich der genannten Vergehen als auch der göttlichen Unheilsmaßnahmen.
1.3 Paarbildungen (Exkurs)
In diesem geographischen Konzept gibt es zugleich noch eine inhaltliche Binnenstruktur, insofern von den Völkern paarweise gesprochen wird. Die Nebeneinanderstellung von Aram- und Philisterstrophe-Strophe (Am 1,3-5.6-8) erinnert an Jes 9,11: „Aram vom Osten, die Philister vom Westen / und sie fraßen Israel mit gierigem Maul.“ Beide Staaten sind die Bedränger Israels schlechthin, wobei die Brutalität der Aramäer vielfach bezeugt ist, während die Gewalttätigkeit der Philister in der Gestalt Goliats legendarische Ausdrucksgestalt gefunden hat (vgl. 2 Samuel 17). Die nahezu sprichwörtliche Paarung beider Reiche findet sich übrigens in Am 9,7 in umgekehrter Reihenfolge wieder. Politisch verweist die Aram-Strophe wohl auf König Ben-Hadad III., der ab 802 v. Chr. regierte. Der sonst nicht bezeugte Kampf gegen Gilead setzt auf jeden Fall die dessen Autonomie voarus, die 734 v. Chr. durch die Assyrer beendet wurde. Bei den Philisterstädten fehlt Gat. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Text erst nach 711 v. Chr. formuliert wurde, als Gat ebenfalls durch die Assyrer erobert wurde.
Tyrus und Edom bilden das nächste Paar (Am 1,9-10.11-12). Politisch gehören sie als Verbündete Babylons zusammen, die sich nach der Zerstörung Jerusalems 586 v. Chr. als Kriegsgewinnler gerieren und für die unterlegenen Judäer nur Häme und Spott übrig haben (zu Edom vgl. Obadja 11-14; kaum zufällig folgt dieses Prophetenbüchlein direkt auf Amos; zu Tyrus/Phönizien vgl. Ezechiel 26,1 – 28,19). Das Bruderschaftsmotiv, das beide Strophen verbindet, leitet sich jeweils unterschiedlich her: Für Edom gilt Esau als Stammvater, des Israel-Stammvaters Jakob Bruder (vgl. Genesis 36,9.43). Für Tyrus wird von einer Art „Vertrags-Bruderschaft“ zwischen Israels König Salomo und Tyrus‘ König Hiram berichtet (1 Kön 9,10-14). Damit liegt der Schwerpunkt bei diesem Strophenpaar weniger auf der Brutalität als auf der Rücksichtslosigkeit, der selbst „Bruderschaft“ nichts gilt und keine Schranke bedeutet.
Ammon und Moab (Am 1,13-15; 2,1-3) sind politische Nachbarn auf der anderen Seite des Jordan (s. o.), denen zugleich Bruderschaft schon in das Stammbuch ihres Werdens hineingeschrieben wird – allerdings eine inzestuöse (Gen 19,30-38). Aufgrund übler Vorerfahrungen in Zeiten der Flucht aus Ägypten in das verheißene Land wird Zugehörigen beider Völker dauerhaft der Zugang zur Gemeinde Israels per Gesetz verwehrt (Deuteronomium 23,4-7). Dieser Generalmaßnahme wird in sehr viel späterer Zeit das Buch Rut mit seiner Erzählung von einer vorbildlichen und sich zum Gott Israels hinwendenden Moabiterin widersprechen. Die im Amos-Text geschilderten Brutalitäten, die auf die Tötung des werdenden wie auf die Entwürdigung des vergangene Lebens (der im jüdischen Kontext an sich undenkbare Akt der Exhumierung und Verbrennung der Überreste) zielen, nehmen eher Maß an assyrischen Grausamkeiten. Das beide Strophen verbindende Motiv der Kreigspanik („Geschrei“, „Getöse“, „Getümmel“) scheint besonders für Moab fest verankert zu sein, Denn auch Jeremia 48,45 nennt Moab „Söhne des Getümmels“ (EÜ: „lärmende Schreier“).Die Paarung Juda und Israel ist angesichts des Doppelreichs quasi „naturgegeben“. Auffällig ist einzig die Voranstellung Judas, die sich aber aus der Zielsetzung der Gesamtkomposition ergibt, die im Folgenden auch formal und inhaltlich verdeutlicht werden wird. Inhaltlich klingt die Juda-Strophe wie eine Zusammenfassung von 2 Könige 17,13-15. Sie will wohl angesichts der Allgemeinheit ihrer Aussagen als theologisches „Vorwort“ zur Israelstrophe gelesen werden: Alles, was diese an sozialen Grausamkeiten aufzeigt, ist das Ergebnis, wenn man die Tora des HERRN verwirft und „Lügengöttern“ nachläuft. Dieser in der hebräischen Bibel einmalige Begriff mit langer Vorgeschichte („denen schon ihre Väter gefolgt sind“) erinnert an Jos 24,2 einerseits wie er auf die selbstgemachten Götter in Am 5,26 voraus verweist. Insofern „Lügengötter“ auch lügnerischer Propagandisten bedürfen, schwingt vielleicht hinter der Formulierung auch die Rede von den „Lügenpropheten“ in Mi 2,11mit, die man sich nach Am 2,11-12 selbst herangezogen hat.
2. Dramaturgie
Als Gesamtdramaturgie ergibt sich eine fiktive Szene: Amos steht vor dem ganzen Volk Israel und fängt an, über die ausländischen Völker der Umgebung „herzuziehen“: Sie zeichnen sich aus durch
- maßlose Brutalität,
- Menschenhandel,
- Vergehen gegen Frauen,
- Menschenverachtung (Beispiel: Leichenschändung)
- und gnadenlose Rücksichtslosigkeit (auch „Bruderschaft“ schützt nicht).
Selbst Juda wird in dieser Dramaturgie zu einem Land, auf das man von außen schaut:
- Verachtung der Weisung Gottes im Grundsätzlichen
- und Fremdgötterverehrung im Besonderen
lautet hier der vernichtende Vorwurf. Bleibt man in der Szene, darf sich der Prophet bis zu dieser Stelle gewiss sein, die Hörerschaft auf seiner Seite zu habe: „Jawohl“ - so kann Israel sagen - die anderen Völker sind alle (Kriegs-)Verbrecher und stehen jenseits der ‚Achse des Bösen‘. Deshalb trifft sie Gottes Strafe völlig zu Recht.“
Doch genau an dieser Stelle dreht sich die Dramaturgie: Es folgt nicht eine von der Hörerschaft Israel erwartete Heilsansage nach dem Motto:“Du aber, Israel, hast Gott auf deiner Seite.“ Vielmehr lautet die Botschaft: Und ihr Israeliten seid keinen Deut besser; im Gegenteil: ihr seid schlimmer. Denn was die anderen Völker Ausländern antun oder unter Inanspruchnahme fremder Götter, das tut ihr euren eigenen Landsleuten, Mitgliedern desselben Gottesvolkes und Glaubensbrüdern an und schämt euch nicht, euer Unrecht in die Heiligtümer eures Gottes hineinzutragen. Ja, eure Vergehen sind dieselben:
- Brutalität (den Armen in lebensbedrohlicher Weise nachstellen: sie „um die Ecke bringen“ bzw. ihnen den Weg zu fairer Gerichtsbarkeit abschneiden),
- Menschenhandel (Verkauf von tatsächlich oder angeblich zahlungsrückständigen Schuldsklaven, also von Familienangehörigen, die sich zur Abtragung von Krediten beim Kreditgeber zu für bestimmte Zeiten zu Arbeitsleistungen verpflichteten),
- sexueller Missbrauch von Frauen (Schuldsklavinnen werden statt zur Unterstützung der Frau des Kreditgebers bei der Hausarbeit von Sohn und seinen Erziehungsauftrag vernachlässigendem Vater gleichermaßen zu sexuellen „Dienstleistungen“ ausgenutzt),
- Menschenverachtung (der als Sicherheitspfand einbehaltene Mantel, der über Nacht als wärmende Decke dem Gepfändeten zurückzugeben war und im Orient auch als so etwas wie der „Personalausweis“ galt, wird „in den Dreck gezogen“ und dient als Sitzunterlage auf dem Erdboden des Heiligtum-Vorhofs; Ersatzleistungszahlungen bei Gericht zur Unterstützung der geschädigten Opfer („Wein von Bußgeldern“) werden von den „hohen Herren“, die zu Gericht sitzen, einbehalten und am Tempel als Opfergabe abgegeben. So kann man den eigenen Weinkeller auf Kosten von Unschuldigen schonen.
Das alles
- widerspricht natürlich der Weisung Gottes, also dem geltenden Gesetz des Gottesvolkes: danach sind Schuldsklaven nach spätestens 7 Jahren freizulassen (vgl. Exodus 21,1); zum o. g. Pfandrecht vgl, z. B. Ex 22,25 und zur Bußgeldzahlung im Sinne der Opferunterstützung vgl. Ex 21,22;
- und es wird auch noch versucht, durch die formale Verehrung Gottes fromm zu kaschieren.
3. Vergleich der Dramaturgie mit anderen Prophetenbüchern
Mit diesem Einstieg entspricht das Buch Amos am ehesten dem Buch Jesaja (dieser Prophet gehört ins ausgehende 8. Jh. v. Chr.; der Beginn der Verschriftlichung der zugehörigen Kapitel 1-39 liegt mit dem beginnenden 7. Jh v. Chr. wahrscheinlich nur wenige Jahrzehnte nach den Anfängen der ersten Amos-Verschriftlichung). Beide Schriften zeichnen sich dadurch aus, dass die Lesenden als Erstes ohne Hinführung mit der Botschaft des Propheten konfrontiert werden. Wenn man so will: Amos wie Jesaja fallen direkt „mit der Tür ins Haus“.
Damit wird zugleich eine Erwartungshaltung geweckt: Wie ist der Prophet dazu gekommen, mit dieser Botschaft aufzutreten? Die Antwort auf diese Frage reichen die Berufungsberichte nach – im Buch Amos in den 5 Visionen (Kap. 7-9*), im Buch Jesaja in Kap. 6. Fasst man Micha 3,8 zumindest als Hinweis auf eine erfolgte Berufung auf, ordnet sich auch dieses Prophetenbuch hier ein.
Dieses Konzept vermittelt zweierlei: Es imitiert das ursprüngliche Hörerlebnis. Die Zeitgenossen des Amos, die als Nordreichbewohner den judäischen Landwirt Amos überhaupt nicht kannten, wurden allein durch seine Reden auf ihn aufmerksam. Gegenstand dieser Rede ist nicht der Redner, sondern seine Botschaft. Angaben zur Person erfolgen bei Bedarf bzw. wenn es angebracht erscheint. Die bei uns heutzutage übliche Selbstvorstellung scheint damals keineswegs zwingend. So kommen z. B. die Bücher Obadja, Nahum, Zefanja oder Maleachi ohne jeglichen Berufungshinweis aus. Dieses „Verfahren“ findet sich übrigens bis in die Evangelien. Ohne deren Überschriften wäre aus keinem einzigen von ihnen der Name des Verfassers herauszufinden.
Zurück zum Aufbau des Amos-Buches. Dass er nicht selbstverständlich ist, zeigt ein Blick auf Jeremia, Ezechiel sowie Hosea. Sie beginnen jeweils mit der Berufung des Propheten (Jer 1; Ez 1-3; Hos 1,2-9), ehe die Prophetenpredigt folgt. Dieses Konzept ist eher biographisch orientiert, denn natürlich steht das Berufungserlebnis vor dem öffentlichen Auftreten. Die Funktion ist jetzt weniger eine erklärende (Wie kam der Prophet zu seiner Rede?), sondern eine legitimierende: Da spricht wirklich ein von Gott Berufener. Das wollen wir, die seine Worte niederschreiben, gleich zu Beginn einmal festhalten. Hier geht also vor allem um die Glaubwürdigkeit des Boten, um der dann folgenden Botschaft umso mehr Gewissheit zu geben.