Das Buch Amos

Gegen die Fremdvölker, Juda und Israel (Am 1,3 - 2,16)

Damaskus / Aram: 1,3–5

3So spricht der HERR:

Wegen der drei Verbrechen von Damaskus / und wegen der vier nehme ich es nicht zurück:

Weil sie Gilead / mit eisernen Dreschschlitten zermalmten,

4darum schicke ich Feuer gegen Hasaëls Haus; / es frisst Ben-Hadads Paläste.

5Ich zerbreche den Riegel von Damaskus, / ich vernichte den Herrscher von Bikat-Awen / und den Zepterträger von Bet-Eden;

das Volk von Aram muss in die Verbannung nach Kir, / spricht der HERR.

Gaza / Philister: 1,6–8

6So spricht der HERR:

Wegen der drei Verbrechen von Gaza / und wegen der vier nehme ich es nicht zurück:

Weil sie ganze Gebiete entvölkerten, / um die Verschleppten an Edom auszuliefern,

7darum schicke ich Feuer in Gazas Mauern; / es frisst seine Paläste.

8Ich vernichte den Herrscher von Aschdod / und den Zepterträger von Aschkelon.

Ich wende meine Hand gegen Ekron / und der Rest der Philister wird verschwinden, / spricht GOTT, der Herr.

Tyrus: 1,9–10

9So spricht der HERR:

Wegen der drei Verbrechen von Tyrus / und wegen der vier nehme ich es nicht zurück:

Weil sie Verschleppte scharenweise an Edom auslieferten / und nicht mehr an den Bund mit ihren Brüdern dachten,

10darum schicke ich Feuer in die Mauern von Tyrus; / es frisst seine Paläste.

Edom: 1,11–12

11So spricht der HERR:

Wegen der drei Verbrechen von Edom / und wegen der vier nehme ich es nicht zurück:

Weil Edom seinen Bruder mit dem Schwert verfolgte / und jedes Mitleid unterdrückte,

weil es unversöhnlich festhielt an seinem Zorn / und nie abließ von seinem Groll,

12darum schicke ich Feuer gegen Teman; / es frisst Bozras Paläste.

Ammon: 1,13–15

13So spricht der HERR:

Wegen der drei Verbrechen der Ammoniter / und wegen der vier nehme ich es nicht zurück:

Weil sie in Gilead die Schwangeren aufschlitzten, / als sie ihr Gebiet erweitern wollten,

14darum lege ich Feuer an die Mauern von Rabba; / es frisst seine Paläste

unter Geschrei am Tag des Krieges, / unter Getöse am Tag des Sturms.

15Ihr König muss in die Verbannung, / er und alle seine Großen, / spricht der HERR.

Moab: 2,1–3

21So spricht der HERR:

Wegen der drei Verbrechen von Moab / und wegen der vier nehme ich es nicht zurück:

Weil Moab die Gebeine des Königs von Edom / zu Kalk verbrannte,

2darum schicke ich Feuer gegen Moab; / es frisst die Paläste von Kerijot

und Moab stirbt im Getümmel, / im Geschrei, beim Schall der Hörner.

3Ich vernichte den Herrscher aus seiner Mitte / und erschlage zusammen mit ihm alle seine Großen, / spricht der HERR.

Juda: 2,4–5

4So spricht der

HERR:

Wegen der drei Verbrechen von Juda / und wegen der vier nehme ich es nicht zurück:

Weil sie die Weisung des HERRN missachteten / und seine Gesetze nicht bewahrten,

weil sie sich irreführen ließen von ihren Lügengöttern, / denen schon ihre Väter gefolgt sind,

5darum schicke ich Feuer gegen Juda; / es frisst Jerusalems Paläste.

Israel: 2,6–16

6So spricht der HERR:

Wegen der drei Verbrechen von Israel / und wegen der vier nehme ich es nicht zurück:

Weil sie den Unschuldigen für Geld verkaufen / und den Armen wegen eines Paars Sandalen,

7weil sie den Kopf des Geringen in den Staub treten / und das Recht der Schwachen beugen.

Sohn und Vater gehen zum selben Mädchen, / um meinen heiligen Namen zu entweihen.

8Sie strecken sich auf gepfändeten Kleidern aus / neben jedem Altar,

Wein von Bußgeldern trinken sie / im Haus ihres Gottes.

9Dabei bin ich es gewesen, / der vor ihren Augen den Amoriter vernichtete,

der groß war wie die Zedern / und stark wie die Terebinthen;

ich habe oben seine Frucht vernichtet / und unten seine Wurzeln.

10Ich bin es gewesen, der euch / aus dem Land Ägypten heraufgeführt

und euch vierzig Jahre lang / durch die Wüste geleitet hat, / damit ihr das Land des Amoriters in Besitz nehmen konntet.

11Ich habe einige eurer Söhne zu Propheten gemacht / und einige von euren jungen Männern zu Nasiräern.

Ist es nicht so, ihr Söhne Israels? / - Spruch des HERRN.

12Ihr aber habt den Nasiräern / Wein zu trinken gegeben

und den Propheten habt ihr befohlen: / Prophezeit nicht!

13Seht, ich lasse es unter euch schwanken, / wie ein Wagen schwankt, der voll ist von Garben.

14Dann gibt es auch für den Schnellsten keine Flucht mehr, / dem Starken versagt die Kraft, / auch der Held kann sein Leben nicht retten.

15Kein Bogenschütze hält stand, / dem schnellen Läufer helfen seine Beine nichts / noch rettet den Reiter sein Pferd.

16Selbst der Tapferste unter den Kämpfern, / nackt muss er fliehen an jenem Tag / - Spruch des HERRN.

Überblick

„Brutalst mögliche Aufklärung!“ Diese sprachlich etwas entgleiste, aber nicht schwer zu deutende Ansage hörte man schon öfters aus Politikermund, wenn wieder einmal unsägliche Machenschaften ans Licht gebracht wurden. Die Verwirklichung verläuft nicht selten im Sande. Die erste große Redekomposition des Amosbuches löst hingegen das hinter der Formulierung stehende Versprechen tatsächlich ein.

1. Aufbau

Auffällig: Es fehlt bei dieser ersten großen Redekomposition jegliche Szenerie. Kein Ort und kein menschlicher Sprecher werden benannt, auch kein wirklicher Ansprechpartner. Alles ist ein „Reden über“, und zwar über ganze Völker. Zwar lässt die am Anfang jeder Strophe stehende sog. Botenspruchformel („So spricht der HERR“) einen Sprecher erahnen, der wohl mit dem Propheten Amos identifiziert werden soll. Aber ausdrücklich steht nichts davon im Text. Fast wie aus einem Lautsprecher in einem Sportstadion vernimmt man eine Stimme. Doch was sie zu sagen hat, sind nicht die Worte des Sprechers, sondern einzig Gottes Worte.

Formal ist die Rede als ein Gedicht in 8 Strophen gestaltet. Es reimt sich zwar nichts,  aber es gibt einen regelmäßigen Aufbau mit Einstiegsrefrain, Schuldbenennung und Strafansage. Im Detail lauten die Einzelemente:

Botenspruchformel: So spricht der Herr
gestaffelter Zahlenspruch: Wegen dreier Vergehen von NN …, wegen vier …
Unwiderruflichkeitsformel: … nehme ich es nicht zurück
Schuldaufweis: je ein Vergehen
Unheilsankündigung: Feuer: Siehe, ich sende Feuer
weitere Unheilsankündigung: z. B.: ich zerbreche den Riegel
Gottesspruchformel: Spruch des Herrn (EÜ: spricht der HERR)

Exakt folgen diesem Muster die Damaskus-, Gaza-, Ammon- und Moab-Strophe. Sie sind wahrscheinlich die erste Ergänzung zur ursprünglichen Israelstrophe (Am 2,6-8.13-16), die als einzige auf Amos selbst zurückgehen dürfte. Sie unterscheidet sich vom angeführten Muster durch die Ausweitung des Schuldaufweises von einem Vergehen auf mindestens vier (Menschenverkauf, Rechtsbeugung, sexueller Missbrauch sowie Umgang mit Strafersatzleistungen; man kann auch noch detaillierter zählen und kommt auf sieben Vergehen). Außerdem ist die Unheilsankündigung eine völlig andere und eigenständige. Letzte Zutat sind Tyrus-, Edom- und Juda-Strophe, die zumindest zwei Vergehen nennen und dafür die Unheilsankündigung auf die Feuerandrohung kürzen.

Dramaturgisch läuft die Gesamtkomposition unter einem doppelten Gesichtspunkt allein auf das Todesurteil über Israel zu.


1.1 Geographisch

Die erste Fassung der Komposition umzingelt das Doppelreich Israel (Nordreich mit Samaria als Hauptstadt)  und Juda (Südreich mit Jerusalem als Hauptstadt):

Damaskus als Hauptstadt Arams (heute Syrien) bildet den Nordriegel (außer dem schmalen Küstenstreifen Phöniziens gegenüber von Zypern),

die beispielhaft aus insgesamt 5 bedeutenden Städten ausgewählten Philisterorte  (Gaza, Aschdod, Ekron) markieren die Westgrenze (die Philister siedelten, wie die Phönizier, an der Mittelmeerküste, aber weiter südlich auf der Höhe des Toten Meeres).

Ammon und Moab sind die östlich angrenzenden Länder (heute nördliches und mittleres Jordanien).

Die Ergänzungen machen die Einkesselung komplett, indem sie die „Nordwest-Lücke“ Phönizien mit der Stadt Tyrus und das südlich-südwestlich von Juda liegende Edom (heute Südjordanien mit der berühmten Ausgrabungsstätte Petra) nachtragen.

Da Amos als zwar aus Juda stammender, aber ausschließlich im Nordreich wirkender Prophet selbst kein Wort Gottes für das Südreich hatte, ist auch dieses als Nachtrag anzusehen.  Die Ursprungsabsicht des Amos bleibt aber erhalten, insofern Israel das Schlussglied der gesamten Strophenkette bleibt.


1.2  Formal

Die Israel-Strophe ist selbst in ihrem ursprünglichen Wortlaut (s. o.) die ausführlichste sowohl hinsichtlich der genannten Vergehen als auch der göttlichen Unheilsmaßnahmen.


1.3  Paarbildungen (Exkurs)

In diesem geographischen Konzept gibt es zugleich noch eine inhaltliche Binnenstruktur, insofern von den Völkern paarweise gesprochen wird. Die Nebeneinanderstellung von Aram- und Philisterstrophe-Strophe (Am 1,3-5.6-8) erinnert an Jes 9,11: „Aram vom Osten, die Philister vom Westen / und sie fraßen Israel mit gierigem Maul.“ Beide Staaten sind die Bedränger Israels schlechthin, wobei die Brutalität der Aramäer vielfach bezeugt ist, während die Gewalttätigkeit der Philister in der Gestalt Goliats legendarische Ausdrucksgestalt gefunden hat (vgl. 2 Samuel 17). Die nahezu sprichwörtliche Paarung beider Reiche findet sich übrigens in Am 9,7 in umgekehrter Reihenfolge wieder. Politisch verweist die Aram-Strophe wohl auf König Ben-Hadad III., der ab 802 v. Chr. regierte. Der sonst nicht bezeugte Kampf gegen Gilead setzt auf jeden Fall die dessen Autonomie voarus, die 734 v. Chr. durch die Assyrer beendet wurde. Bei den Philisterstädten fehlt Gat. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Text erst nach 711 v. Chr. formuliert wurde, als Gat ebenfalls durch die Assyrer erobert wurde.

Tyrus und Edom bilden das nächste Paar (Am 1,9-10.11-12). Politisch gehören sie als Verbündete Babylons zusammen, die sich nach der Zerstörung Jerusalems 586 v. Chr. als Kriegsgewinnler gerieren und für die unterlegenen Judäer nur Häme und Spott übrig haben (zu Edom vgl. Obadja 11-14; kaum zufällig folgt  dieses Prophetenbüchlein direkt auf Amos; zu Tyrus/Phönizien vgl. Ezechiel 26,1 – 28,19). Das Bruderschaftsmotiv, das beide Strophen verbindet, leitet sich jeweils unterschiedlich her: Für Edom gilt Esau als Stammvater, des Israel-Stammvaters Jakob Bruder (vgl. Genesis 36,9.43). Für Tyrus wird von einer Art „Vertrags-Bruderschaft“ zwischen Israels König Salomo und Tyrus‘ König Hiram  berichtet (1 Kön 9,10-14). Damit liegt der Schwerpunkt bei diesem Strophenpaar weniger auf der Brutalität als auf der Rücksichtslosigkeit, der selbst „Bruderschaft“ nichts gilt und keine Schranke bedeutet.

Ammon und Moab (Am 1,13-15; 2,1-3) sind politische Nachbarn auf der anderen Seite des Jordan (s. o.), denen zugleich Bruderschaft schon in das Stammbuch ihres Werdens hineingeschrieben wird – allerdings eine inzestuöse (Gen 19,30-38). Aufgrund übler Vorerfahrungen in Zeiten der Flucht aus Ägypten in das verheißene Land wird Zugehörigen beider Völker dauerhaft der Zugang zur Gemeinde Israels per Gesetz verwehrt (Deuteronomium 23,4-7). Dieser Generalmaßnahme wird in sehr viel späterer Zeit das Buch Rut mit seiner Erzählung von einer vorbildlichen und sich zum Gott Israels hinwendenden Moabiterin widersprechen. Die im Amos-Text geschilderten Brutalitäten, die auf die Tötung des werdenden wie auf die Entwürdigung des vergangene Lebens (der im jüdischen Kontext an sich undenkbare Akt der Exhumierung und Verbrennung der Überreste) zielen, nehmen eher Maß an assyrischen Grausamkeiten. Das beide Strophen verbindende Motiv der Kreigspanik („Geschrei“, „Getöse“, „Getümmel“) scheint besonders für Moab fest verankert zu sein, Denn auch Jeremia 48,45 nennt Moab „Söhne des Getümmels“ (EÜ: „lärmende Schreier“).Die Paarung Juda und Israel ist angesichts des Doppelreichs quasi „naturgegeben“. Auffällig ist einzig die Voranstellung Judas, die sich aber aus der Zielsetzung der Gesamtkomposition ergibt, die im Folgenden  auch formal und inhaltlich verdeutlicht werden wird. Inhaltlich klingt die Juda-Strophe wie eine Zusammenfassung von 2 Könige 17,13-15. Sie will wohl angesichts der Allgemeinheit ihrer Aussagen als theologisches „Vorwort“ zur Israelstrophe gelesen werden: Alles, was diese an sozialen Grausamkeiten aufzeigt, ist das Ergebnis, wenn man die Tora des HERRN verwirft und „Lügengöttern“ nachläuft. Dieser in der hebräischen Bibel einmalige Begriff mit langer Vorgeschichte („denen schon ihre Väter gefolgt sind“) erinnert an Jos 24,2 einerseits wie er auf die selbstgemachten Götter in Am 5,26 voraus verweist. Insofern „Lügengötter“ auch lügnerischer Propagandisten bedürfen, schwingt vielleicht hinter der Formulierung auch die Rede von den „Lügenpropheten“ in Mi 2,11mit, die man sich nach Am 2,11-12 selbst herangezogen hat.

 

2. Dramaturgie

Als Gesamtdramaturgie ergibt sich eine fiktive Szene: Amos steht vor dem ganzen Volk Israel und fängt an, über die ausländischen Völker der Umgebung „herzuziehen“: Sie zeichnen sich aus durch  

  • maßlose Brutalität,
  • Menschenhandel,
  • Vergehen gegen Frauen,
  • Menschenverachtung (Beispiel: Leichenschändung)
  • und gnadenlose Rücksichtslosigkeit (auch „Bruderschaft“ schützt nicht).

Selbst Juda wird in dieser Dramaturgie zu einem Land, auf das man von außen schaut:

  • Verachtung der Weisung Gottes im Grundsätzlichen
  • und Fremdgötterverehrung im Besonderen

lautet hier der vernichtende Vorwurf. Bleibt man in der Szene, darf sich der Prophet bis zu dieser Stelle gewiss sein, die Hörerschaft auf seiner Seite zu habe: „Jawohl“ - so kann Israel sagen - die anderen Völker sind alle (Kriegs-)Verbrecher und stehen jenseits der ‚Achse des Bösen‘. Deshalb trifft sie Gottes Strafe völlig zu Recht.“

Doch genau an dieser Stelle dreht sich die Dramaturgie: Es folgt nicht eine von der Hörerschaft Israel erwartete Heilsansage nach dem Motto:“Du aber, Israel, hast Gott auf deiner Seite.“ Vielmehr lautet die Botschaft: Und ihr Israeliten seid keinen Deut besser; im Gegenteil: ihr seid schlimmer. Denn was die anderen Völker  Ausländern  antun oder unter Inanspruchnahme fremder Götter, das tut ihr euren eigenen Landsleuten, Mitgliedern desselben Gottesvolkes und Glaubensbrüdern an und schämt euch nicht, euer Unrecht in die Heiligtümer eures Gottes hineinzutragen. Ja, eure Vergehen sind dieselben:

  • Brutalität (den Armen in lebensbedrohlicher Weise nachstellen: sie „um die Ecke bringen“ bzw. ihnen den Weg zu fairer Gerichtsbarkeit abschneiden),
  • Menschenhandel (Verkauf von tatsächlich oder angeblich zahlungsrückständigen Schuldsklaven, also von Familienangehörigen, die sich zur Abtragung von Krediten beim Kreditgeber zu für bestimmte Zeiten zu Arbeitsleistungen verpflichteten),
  • sexueller Missbrauch von Frauen (Schuldsklavinnen werden statt zur Unterstützung der Frau des Kreditgebers bei der Hausarbeit von Sohn und seinen Erziehungsauftrag vernachlässigendem Vater gleichermaßen zu sexuellen „Dienstleistungen“ ausgenutzt),
  • Menschenverachtung (der als Sicherheitspfand einbehaltene Mantel, der über Nacht als wärmende Decke dem Gepfändeten zurückzugeben war und im Orient auch als so etwas wie der „Personalausweis“ galt, wird „in den Dreck gezogen“ und dient als Sitzunterlage auf dem Erdboden des Heiligtum-Vorhofs; Ersatzleistungszahlungen bei Gericht zur Unterstützung der geschädigten Opfer („Wein von Bußgeldern“) werden von den „hohen Herren“, die zu Gericht sitzen, einbehalten und am Tempel als Opfergabe abgegeben. So kann man den eigenen Weinkeller auf Kosten von Unschuldigen schonen.

Das alles

  • widerspricht natürlich der Weisung Gottes, also dem geltenden Gesetz des Gottesvolkes: danach sind Schuldsklaven nach spätestens 7 Jahren freizulassen (vgl. Exodus 21,1); zum o. g. Pfandrecht vgl, z. B. Ex  22,25 und zur Bußgeldzahlung im Sinne der Opferunterstützung vgl. Ex 21,22;
  • und es wird auch noch versucht, durch die formale Verehrung Gottes fromm zu kaschieren.

3. Vergleich der Dramaturgie mit anderen Prophetenbüchern

Mit diesem Einstieg entspricht das Buch Amos am ehesten dem Buch Jesaja (dieser Prophet gehört ins ausgehende 8. Jh. v. Chr.; der Beginn der Verschriftlichung der zugehörigen Kapitel 1-39 liegt mit dem beginnenden 7. Jh v. Chr. wahrscheinlich nur wenige Jahrzehnte nach den Anfängen der ersten Amos-Verschriftlichung). Beide Schriften zeichnen sich dadurch aus, dass die Lesenden als Erstes ohne Hinführung mit der Botschaft des Propheten konfrontiert werden. Wenn man so will: Amos wie Jesaja fallen direkt „mit der Tür ins Haus“.

Damit wird zugleich eine Erwartungshaltung geweckt: Wie ist der Prophet dazu gekommen, mit dieser Botschaft aufzutreten? Die Antwort auf diese Frage reichen die Berufungsberichte nach – im Buch Amos in den 5 Visionen (Kap. 7-9*), im Buch Jesaja in Kap. 6. Fasst man Micha 3,8 zumindest als Hinweis auf eine erfolgte Berufung auf, ordnet sich auch dieses Prophetenbuch hier ein.

Dieses Konzept vermittelt zweierlei: Es imitiert das ursprüngliche Hörerlebnis. Die Zeitgenossen des Amos, die als Nordreichbewohner den judäischen Landwirt Amos überhaupt nicht kannten, wurden allein durch seine Reden auf ihn aufmerksam. Gegenstand dieser Rede ist nicht der Redner, sondern seine Botschaft. Angaben zur Person erfolgen bei Bedarf bzw. wenn es angebracht erscheint. Die bei uns heutzutage übliche Selbstvorstellung scheint damals keineswegs zwingend. So kommen z. B. die Bücher Obadja, Nahum, Zefanja oder Maleachi ohne jeglichen Berufungshinweis aus. Dieses „Verfahren“ findet sich übrigens bis in die Evangelien. Ohne deren Überschriften wäre aus keinem einzigen von ihnen der Name des Verfassers herauszufinden.

Zurück zum Aufbau des Amos-Buches. Dass er nicht selbstverständlich ist, zeigt ein Blick auf Jeremia, Ezechiel sowie Hosea. Sie beginnen jeweils mit der Berufung des Propheten (Jer 1; Ez 1-3; Hos 1,2-9), ehe die Prophetenpredigt folgt. Dieses Konzept ist eher biographisch orientiert, denn natürlich steht das Berufungserlebnis vor dem öffentlichen Auftreten. Die Funktion ist jetzt weniger eine erklärende (Wie kam der Prophet zu seiner Rede?), sondern eine legitimierende: Da spricht wirklich ein von Gott Berufener. Das wollen wir, die seine Worte niederschreiben, gleich zu Beginn einmal festhalten. Hier  geht also vor allem um die Glaubwürdigkeit des Boten, um der dann folgenden Botschaft umso mehr Gewissheit zu geben.

Auslegung

„So spricht der Herr: Wegen der drei Verbrechen von … und wegen der vier nehme ich es nicht zurück:“

So beginnt eine jede Strophe, obwohl bei genauem Nachzählen einzig die Israelstrophe vier Verbrechen (oder bei Durchzählung der Halbverse gar sieben Verbrechen) nennt. Alle anderen Strophen führen das, was die Formel ankündigt, nicht aus und nennen nur ein einziges Vergehen. Das ist ungewöhnlich und erklärt sich wohl einzig aus der Tatsache, dass die Israelstrophe ein Schema vorgibt, dass die Verfasser der anderen Strophen zwar aufgreifen, aber – um das Schergewicht auf der Israelstrophe zu lassen, nur andeutungsweise mit einem Beispiel-Verbrechen durchführen. Dafür spricht die Übernahme des Schemas aus dem Unterrichtswesen der Weisheit. Man spricht vom „gestaffelten Zahlenspruch“, der immer mit der Abfolge x/x+1 operiert. Beispiel: „Drei sind es, die nie satt werden, vier sagen nie: Genug: Die Unterwelt und der unfruchtbare Mutterschoß, die Erde, die nicht satt wird an Wasser, und das Feuer, das nie sagt: Genug!“ (Sprichwörter 30,16). Solche Aufzählreihen helfen einfach, sich Dinge gut einzuprägen und zu merken. Die Zahlen selbst sind keineswegs festgelegt und schwanken zwischen zwei (Psalm 62,12f.) und neun (Jesus Sirach 25,7-11). In der Regel ist eine Steigerung zum x+1ten Beispiel festzustellen. Damit wären für Amos die in Am 2,8 genannten Vergehen, die das Maß vollmachen: Schamlos wird das Unrecht in den Gottesdienstbereich hineingetragen.

Hier erfährt das Wort hebräische Wort für „Verbrechen“, paešaʻ, das eigentlich den politischen Loyalitätsbruch, den Abfall vom Herrscher meint, seinen spezifischen biblischen Gebrauch: Aberkennung der Herrschaft Gottes durch Taten, die Gottes Freiheit und Leben schaffendem Willen fundamental widersprechen. Selbstermächtigung mittels Menschenverachtung – das gilt aus der Sicht der Verfasser selbst als Verbrechen, wenn man gar nicht zum Volk JHWHs gehört, sondern etwa wie die Ammoniter dem Gott Milkom folgt, der in der Wendung „malkām – ihr König“ anklingt (Am 1,15).

Die einleitende Botenspruchformel „So spricht der HERR“ stammt aus dem weltlichen Botenverkehr und verbrieft,dass  der Sprecher nicht seine eigenen Worte, sondern die seines Auftraggebers kundtut (vgl. Jesaja 36,4 im Zusammenhang der Kriegsrede des Feldherrn [„Rabschake“], der im Namen seines Herrn, des Königs von Assyrien, spricht). Die also aus dem Dipolmatenverkehr stammende Formel ist fest in das Vokabular der Propheten eingegangen: Sie sind nicht Verkünder persönlicher Wahrheiten, sondern verstehen sich als Sprachrohr Gottes, von em sie sich gerufen sehen (vgl. dazu die Auseinandersetzung Am 7,10-17).

„Dabei bin ich es gewesen …“ (Am 2,9-12)

In zwei Anläufen werden Erinnerungen an die Einnahme des Landes Kanaan durch die Israeliten unter der Führung JHWHs wachgerufen. Die Verse bedienen sich dabei eines Vokabulars, das sich z. B.  in Deuteronomium 1,27f.,; 2,12.21f.; 20,1; 2 Kön 17,36 findet. Sie greifen auf die Einrichtung von gottgeweihten Menschen zurück, die auf Haarschnitt und Alkohol verzichten („Nasiräer“, vgl. dazu Numeri 16 sowie Richter 13,7) und auch auf Dtn 18,18-20 (Einsetzung von Propheten durch Gott). Damit ist die sogenannte deuteronomistische Tradition, der die heilsgeschichtliche Führung Gottes ebenso wie das Prophetentum als Bewahrer des unverfälschten Wortes Gottes mehr als deutlich erkennbar. Eine Erklärung für diesen Einschub im 6. Jh. v. Chr. könnte sein, dass der Vorwurf aus Am 2,8 („neben jedem Altar“, „im Haus ihres Gottes“) im Sinne einer Fremdgötterverehrung verstanden wurde. Nach anderen deuteronomistischen Texten wie Josua 24,15-18; 1 Könige 21,26, 2 Könige 21,11sind aber die Amoriter als sagenhafte, riesige Vorbewohner Israels (Dtn 1,27f.) geradezu ein Paradebeispiel für Fremdgötterglaube. Wenn deren Stärke einst schon nichts genützt hat angesichts der Vernichtung durch Gott, darf sich Israel ausmalen, was es nun selbst angesichts seiner Taten zu erwarten hat.

Die Verse 10-12 verschieben den Ton etwas. Es geht nicht mehr so sehr um die Amoriter als um Israel selbst und sein Ausschalten der Menschen, die für die Wahrheit Gottes stehen. Mittels Alkohol oder auch durch wahrscheinlich massiv durchgesetzte Verbote will man sich durch „Gleichschaltung“ der Gottessprecher Gott selbst gefügig machen. Hier bahnt sich bereits an, was das Buch Amos in Am 7,10-17 als Hauptgrund für das kommende Ende Israels ausführen wird: Mit dem Rauschmiss des Propheten Amos wollte man Gott selbst mundtot machen. Bedenkt man, dass gerade Amos es war, der anfangs für Israel verwendete (Am 7,1-6), so hat man mit der Entfernung des Amos sich den Ast der Rettung selber abgesägt. Der Rest ergibt sich dann fast von selbst: Wer sich den Rettungsweg selbst verbaut, geht unter.

„Seht, ich lasse es unter euch schwanken …“ (Am 2,13-16)

Hier hört man den Landwirt Amos sprachlich heraus: Acker und Erntewagen bestimmen den Einstieg. Das gewählte Verb („schwanken“) ist vom Hebräischen her unklar. Doch egal, ob man von einem „schwankenden“, „Furchen aufreißenden“ oder „krachenden“ Erntewagen ausgeht – so die diskutierten Möglichkeiten –, ein Erdbeben steht bevor, das im wahrsten Sinne allen den Boden unter den Füßen wegzieht. Ob soldatische Kraft, Leichtfüßigkeit oder heldenhafter Mut – all das richtet jetzt nichts mehr aus. Erkennbar werden zwei Bildwelten für das kommende Ende miteinander vermischt: Naturkatastrophe und militärischer Untergang. Es muss offenbleiben, ob Amos die drohende Zukunft bewusst offenhalten wollte für die Möglichkeiten Gottes oder ob er selbst nur das Erdbebenbild wählte, das im Nachhinein, nach dem assyrischen Angriff, „korrigiert“ wurde.