Das Himmelreich ist nahe! Eine Botschaft gegen Erschöpfung und Orientierungslosigkeit
1. Verortung im Evangelium
Das Matthäusevangelium (Mt) setzt ein mit dem Stammbaum Jesu, der seine Verbindung mit dem Geschlecht Davids verdeutlichen soll (Mt 1,1-17). Ebenso wichtig wie die Verbindung zu David und der damit verbundenen Hoffnung auf einen Retter für das Haus Israel, den Messias, ist die göttliche Herkunft Jesu. Diese wird durch die Ankündigung seiner Geburt und seines Namens (Immanuel = Gott mir uns) ausgedrückt und in den Erzählungen von der Anbetung der Magier, der Flucht nach und Heimkehr aus Ägypten durch göttliche Fügung bestärkt (Mt 2,1-23). Nach diesen spezifischen Zügen der matthäischen Jesusgeschichte wird Johannes der Täufer vorgestellt (Mt 3,1-12) und von der Taufe Jesu (Mt 3,13-17) und der Versuchung in der Wüste berichtet (Mt 4,1-11). Bevor Jesus in Mt 4,17 mit den Worten „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe“ seine Verkündigung beginnt, werden bereits die Adressanten seiner Worte in den Blick genommen. Mit den Worten des Propheten Jesaja heißt es über Israel: „Das Volk, das im Dunkel saß, hat ein helles Licht gesehen; denen, die im Schatten des Todes wohnten, ist ein Licht erschienen.“
Diese Verheißung ist für den vorliegenden Evangeliumsabschnitt wichtig, setzt sie doch den Rahmen innerhalb dessen die Verkündigung Jesu und die Seiner ausgesandten Jünger zu verstehen ist. Der Abschnitt Mt 9,36-10,8 setzt ein nachdem Jesus bereits einige Zeit in Galiläa unterwegs ist und die Botschaft vom Reich Gottes in der Bergpredigt (Mt 5,1-7,29) präzisiert und durch zahlreiche Wundertaten sichtbar gemacht hat.
2. Aufbau
Vers 36 liest sich als programmatische Feststellung und Auftakt zum folgenden Geschehen. Die Verse 37-38 bereiten die konkrete Aussendung vor, die in 10,1 eingeleitet und in den Versen 5-8 konkretisiert wird. In den Versen 2-4 werden die Ausgesendeten namentlich vorgestellt und damit zum ersten Mal der Kreis der Zwölf im Matthäusevangelium erwähnt.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 36: Der Evangelist stellt der Aussendung der Apostel eine ausführliche und durch ein eindringliches Bild untermalte Begründung voran. Die Motivation für das Entsenden der Zwölf ist die Wahrnehmung Jesu von einer ermatteten und orientierungslosen Menschenmenge. Das Bild von den „Schafen ohne Hirten“ greift das im Alten Testament oft verwendete Motiv des Hirten auf. Matthäus hat hier vor allem das 34. Kapitel des Buches Ezechiel vor Augen, in dem der Prophet im Namen Gottes mit den aktuellen Anführern des Volkes ins Gericht geht und Gott als den wahren Hirten Israels in Erinnerung ruft. Ezechiel beginnt dabei mit dem Negativbeispiel: Die aktuellen Hirten, d.h. Anführer Israels, kümmern sich mehr um sich selbst als um die Herde. Sie nutzen die Herde aus, kümmern sich aber nicht um die Schwachen und Kranken, sie weiden die Herde nicht, so dass die Herde zerstreut wird und schutzlos ist. Das Negativbeispiel mündet in der bedrückenden Feststellung: „Doch da ist keiner, der fragt, und da ist keiner, der auf die Suche geht.“ (Ezechiel 34,6) Diesem Bild stellt der Prophet die Zusage Gottes gegenüber: „Siehe, ich selbst bin es, ich will nach meinen Schafen fragen und mich um sie kümmern. Wie ein Hirt sich um seine Herde kümmert, an dem Tag, an dem er inmitten seiner Schafe ist, die sich verirrt haben, so werde ich mich um meine Schafe kümmern“ (Ezechiel 34,11-12a). Die Zusage wird Realität in der Einsetzung Davids als Hirten und Führer des Volkes Israel durch Gott selbst (Ezechiel 34,23).
Diese den Lesern des Evangeliums bekannte Stelle greift Matthäus hier motivisch auf. Sie bezieht sich auf das zuvor erlebte Leid aber auch die die Sehnsucht der Menschen, über die der Evangelist in Mt 9,35 noch einmal zusammenfassend berichtet hatte: „Jesus zog durch alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen, verkündete das Evangelium vom Reich und heilte alle Krankheiten und Leiden.“
Jesu Mitleid mit den erschöpften Menschen ohne richtige Anführer und Ansprache ist der Ausgangspunkt für die folgenden Verse. Die Größe der Not hat zur Folge, dass Jesus seine Jünger in das einbezieht, was seiner Sendung als Messias aus dem Hause Davids entspricht: Das Volk richtig zu leiten, die Schwachen aufzubauen und sich um die Herde zu kümmern. Jesus und mit der Aussendung auch seine Jünger übernehmen damit die Aufgabe, die eigentlich die aktuellen religiösen Führern Israels ausfüllen sollen.
Verse 37-38: Das Bild von der Ernte greift an dieser Stelle vor auf das, was Jesus seinen Jüngern in 10,13-15 ankündigt. Die Reaktion der Menschen auf die Botschaft vom nahen Reich Gottes wird über ihr Schicksal entscheiden – wer die Jünger als Boten des Heils aufnimmt, die werden das Heil erfahren. Wer die Jünger ablehnt, lehnt damit auch die an sie gerichtete Verheißung ab. Obwohl das Bild der Ernte ein klassisches Gerichtsmotiv ist, steht hier die positive Aussage im Vordergrund. Die „Ernte“ ist die Sammlung der Menschen, die sich auf die Botschaft vom Himmelreich einlassen. Die „große Ernte“ zeigt die große Schar der Adressaten an. Zugleich ist aber die Anzahl der Erntehelfer begrenzt. Jesus wird nicht nur die Jünger als Arbeiter aussenden, sie sollen auch Gott, den Herrn der Ernte, um weitere Helfer bitten. Bevor sie selbst also ausgesandt werden, wird den Jüngern bereits verdeutlicht, dass nicht nur sie die Aufgabe haben werden, Hirten für die ermatteten Menschen zu sein.
Vers 1: Erstmals wird hier im Matthäusevangelium der Zwölferkreis als feste Größe benannt. Ihnen gibt er die Vollmacht, Anteil zu haben an seiner eigenen Sendung. Sie sollen wie er die Not des Volkes lindern, indem sie so handeln wie er es getan hat. Die Jünger können dabei an die Erfahrungen anknüpfen, die sie im Umherziehen mit Jesus gemacht haben (v.a. Mt 8-9).
Verse 2-4: Ebenfalls erstmals werden hier die Namen der engsten Jünger Jesu erwähnt. Nachdem Matthäus mit den Brüderpaaren (Simon und Andreas, Jakobus und Johannes) einsetzt, zählt er auch die übrigen Apostel jeweils in Zweierpaaren auf. Nur hier verwendet Matthäus die Bezeichnung „Apostel“, Gesandte; zusammen mit der expliziten Sendung zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“, der Anspielung an den Ezechiel-Text und die Bezeichnung als Zwölferkreis wird deutlich, dass die Apostel als neue Anführer der zwölf Stämme Israels in Erscheinung treten sollen – quasi als Statthalter des einen Hirten Jesus, des von Gott gesandten Sohnes.
Besonders hervorgehoben aus dem Zwölferkreis wird Petrus, der als „Erster“ auch später noch eine besondere Rolle im Evangelium erhält (Mt 16,18-19).
Verse 5-8: Noch einmal wird die Anzahl der nun ausgesendeten Jünger hervorgehoben und ihr Wirkungskreis klar umrissen: Ihre Zielgruppe ist das Volk Israel, eben jene Menschen, die Jesus bei seiner eigenen Tour durch die Dörfer und Städte als mutlos, müde und ohne Führung wahrgenommen hatte. Wenn von „verlorenen Schafen“ die Rede ist, ist damit nicht gesagt, dass es auch „gefundene Schafe“ in Israel gibt. Die Wahrnehmung des „Verlorenseins“ bezieht sich wie im Buch Ezechiel auf die gesamte Herde und nicht nur eine Teilgruppe. Alle sind sie auf der Suche nach jemandem, der Orientierung und Sicherheit schenkt, so wie es das Jesaja-Zitat in Mt 4,16 deutlich machte.
Nicht nur hier wird die explizite Hinwendung zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ in der Darstellung des Matthäusevangeliums betont (vgl. Mt 15,24). Das Wirken Jesu und auch das seiner Jünger ist zunächst ganz auf das Volk hin ausgerichtet, dass sich Gott zu seinem Volk erwählt hat. Erst mit der Beauftragung nach Ostern wird der Radius der Verkündigung explizit auf alle Völker hin ausgeweitet (Mt 28,19). Dies nimmt nicht hinweg, dass auch vor Ostern bereits Nicht-Juden in Jesus den Sohn Gottes und Retter erkennen (Sterndeuter (Mt 2,1-11), kanaanäische Frau (Mt 15,21-28), römischer Hauptmann (Mt 8,5-13)). Gerade die deutliche Fokussierung auf Israel hin im irdischen Wirken Jesu betont seine Rolle als von Gott gesandter Retter und Hirte.
Der konkrete Auftrag in den Versen 7-8a entspricht dem Wirken Jesu und damit seiner eigenen Sendung, wie er in Mt 4,17 beginnt. Wenn bei den Jüngern der „Ruf zur Umkehr“ weggelassen wird, dann verschiebt sich damit der Schwerpunkt umso mehr auf die Heilsbotschaft, die sich in den Wundertaten manifestiert.
Die Weisung in Vers 8b ist eine Brücke zu den ausführlichen Verhaltensregeln, die Matthäus ab Vers 9 anschließt. Zugleich wird mit den Mahnung, das Empfangene „umsonst“ weiterzugeben, daran erinnert, dass die Jünger zur Weitergabe einer Erfahrung aufgerufen werden, die ihnen selbst bereits ohne Vorleistung zuteilgeworden ist.