„Ich aber sage euch“ Wie Jesus seinen Jüngern hilft, den wahren Gehalt der Gebote zu erkennen.
1. Verortung im Evangelium
Mit dem 5. Kapitel des Matthäusevangeliums (Mt) beginnt die „Bergpredigt“, die erste von fünf großen Reden Jesu, die die Jesusgeschichte des Matthäus gliedern. Sie steht am Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu, das in Mt 4,17 begonnen hatte und bildet eine erste inhaltliche Entfaltung der Botschaft vom Himmelreich. Die Bergpredigt beginnt mit den Seligpreisungen (Mt 5,3-12), in denen bestimmten „Personengruppen“ aufgrund ihres Verhaltens das Himmelreich zugesprochen wird. Im Anschluss daran spricht Jesus seinen Jünger zu, „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ zu sein. Er macht ihnen aber auch deutlich, dass sich ihr Jüngersein daran messen lassen muss, inwieweit sie mit ihren Taten für die Menschen sichtbar sind (Mt 5,13-16).
Hieran schließt der vorliegende Evangeliumsabschnitt an. Für die Jünger, die in Mt 5,16 zu guten Taten aufgerufen werden, sind die folgenden Weisungen Jesu und sein Verständnis der Tora richtungsweisend für ihr eigenes Wirken.
2. Aufbau
Der Abschnitt setzt ein mit einer grundlegenden Aussage zum Wirken Jesu vor dem Hintergrund der Tora, der Gebote Gottes (Mt 5,17-20). Danach werden „Antithesen“ formuliert. In ihnen werden Forderungen zum Zusammenleben, die aus einem bestimmten Toraverständnis heraus vermittelt wurden, durch Jesus reformuliert. Hier werden die ersten vier von sechs Antithesen in den Blick genommen. Sie beschäftigen sich mit dem Verbot zu töten (Mt 5,21-26), dem Verbot die Ehe zu brechen (Mt 5,27-30), dem Verbot der Ehescheidung (Mt 5,31-32) und dem Gebot, nicht zu schwören (Mt 5,33-37).
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 17-20: Wie in den vorangegangenen Versen mit dem Bildwort vom Salz und Licht (Mt 5,13-16) gelten die Worte Jesu insbesondere seinen Jüngern. Sie können ihre Aufgabe Salz der Erde und Licht der Welt zu sein nur erfüllen, wenn sie sich an Jesus, seinem Handeln und Verkündigen und damit auch an seiner Auslegung der Tora orientieren.
Der Evangelist Matthäus wählt bewusst die direkte Anrede „denkt nicht“ und richtet sich damit gegen unterschiedliche Vorwürfe und Denkrichtungen, die im Umfeld seiner vornehmlich judenchristlichen Gemeinde existieren. Dabei ist sowohl an innerchristliche Tendenzen einer Abwertung der Tora als auch an Vorwürfe aus pharisäischen Kreisen zu denken, Jesus (und seine Jünger) würde die Gebote der Tora nicht ausreichend achten. In unmissverständlicher Weise setzt Jesus beiden Denkrichtungen entgegen, nicht für das Aufheben, sondern für das Erfüllen von Gesetz und Propheten gekommen zu sein. Die Formulierung „Gesetz und Propheten“ steht für Gottes Willen, den er in der Tora, aber auch durch die Weisungen der Propheten kundgetan hat (vgl. Mt 7,12 und 22,40). Wer Gesetz und Propheten erfüllt, der handelt entsprechend dem Willen Gottes. Eine Erfüllung zeigt sich sowohl im praktischen Tun als auch in der verkündigenden Weitergabe wie Vers 19 mit „halten und halten lehren“ beschreibt. Weil Jesus als Gottes Sohn den Willen Gottes in einzigartiger Weise kennt und kundtun kann, ist seine Auslegung und sein Verständnis von Gesetz und Propheten die entscheidende Richtschnur für seine Jünger und die Gemeinde des Matthäus. Der Evangelist fasst dies an anderer Stelle in dem Satz zusammen: „nur einer ist euer Lehrer, Jesus Christus“ (Mt 23,10). Mit dem Beginn seines Wirkens ist Jesu Auslegung des Willens Gottes in Verkündigung und Handeln maßgeblich. Vor diesem Hintergrund formuliert er die Antithesen (Verse 21-48).
Jesus betont nicht nur die fortdauernde Gültigkeit der Weisungen Gottes („bis Himmel und Erde vergehen“), sondern zugleich die Bedeutung aller Gebote. Die Formulierung „Jota und Häkchen“, aber auch die Rede von „kleinsten Geboten“ nimmt dabei Bezug auf die verschiedene Gewichtung von Geboten. Es wird deutlich, dass die Tora als Ganze ihre Gültigkeit behält, jedoch wird auch jemand, der die eines der kleinen Gebote aufhebt, nicht aus dem Himmelreich und damit aus der Gemeinschaft mit Gott ausgeschlossen. Der Evangelist Matthäus selbst steht damit für eine durchaus liberale Haltung gegenüber kleineren, rituellen Geboten. Entscheidend ist es, den Gesamtcharakter des Willens Gottes in Gesetz und Propheten zu erfassen und zu leben. Eine solche Lebensweise ist es, die Matthäus immer wieder mit dem Begriff der Gerechtigkeit umschreibt. In diese Richtung weist auch die abschließende Mahnung in Richtung der Jünger. Jene sollen eine andere Form der Gerechtigkeit leben als die Pharisäer und Schriftgelehrten, denen damit eine defizitäre Haltung gegenüber dem Willen Gottes unterstellt wird. In Mt 23,23 wird Jesus dies auch offen tun und ihnen vorwerfen, die kleinen Gebote akribisch zu befolgen, dabei aber die großen Gebote (Recht, Barmherzigkeit und Treue) außer Acht zu lassen.
Zu den Antithesen allgemein:
Der Evangelist Matthäus überliefert insgesamt sechs Antithesen (Mt 5,21-48), die sich in zwei Blöcke mit jeweils drei Thesen unterteilen lassen. Gliederungssignal ist die jeweils ausführliche Einleitungsformel „ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist (Vers 21 und 33). Zudem sind jeweils die letzten beiden Antithesen eines Blocks (2+3 und 5+6) inhaltlich eng verbunden. Und die Formulierung „jeder, der“ wird nur bei den ersten drei verwendet.
Ziel der Antithesen ist nicht die Kritik an der Tora selbst, sondern an einer bestimmten Interpretation der Tora, die sich auf den Wortsinn beruft oder den Geltungsbereich des Gebotes einschränkt („ihr habt gehört, dass gesagt worden ist“). Im direkten Anschluss an Vers 20 und den Verweis auf die Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten wird deutlich, dass es um eine Auslegung der Tora durch diese Gruppen geht. Ihr wird die Deutung der Tora durch Jesus und damit seine Interpretation des darin zum Ausdruck kommenden Willen Gottes gegenübergestellt. Matthäus lässt Jesus also ein vertieftes und eigentliches Verständnis der Gebote Gottes präsentieren, das für die Zuhörer der Bergpredigt und insbesondere seine Jünger verbindlich sein soll.
Verse 21-26: Die Antithese in Vers 21-22 wird durch zwei Erläuterungen (Verse 23-34 und 25-26) ergänzt, die in Form von positiven Weisungen formuliert sind.
Ausgangspunkt der ersten Antithese ist das Tötungsverbot aus den 10 Geboten (Exodus 20,13). Dieses wird ergänzt durch den Hinweis wie im Falle eines Verstoßes gegen das Gebot, also im Falle eines Tötungsdelikts, vorzugehen ist. Die Auslegung Jesu („ich aber sage euch“) führt in ein anderes Verständnis des Tötungsverbotes hinein. „Töten“ wird dabei nicht mehr nur auf die Beraubung des Lebens reduziert, sondern ausgedehnt auf jede aggressive Grundhaltung gegenüber dem Nächsten („Bruder“), die in die Tat umgesetzt wird. „Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt“ ist dabei die Überschrift, unter der sowohl die nachfolgenden Beispiele der Schmähungen als auch der Mord als Handeln aus Zorn zu fassen sind. Damit ist das Verständnis des Tötungsverbots Jesu grundlegender als das, was durch den Rechtssatz („wer aber jemanden tötet…“) abgebildet wird. Der Zorn als aggressive Regung des Menschen, die in eine Handlung übergeht und erst zu Schmähungen und dann zur Tötung führen kann, ist ein so klarer Verstoß gegen den Willen Gottes, dass entsprechend auch das Gericht Gottes und nicht menschliche Rechtssätze am Ende entscheidend sind. „Gericht“ in Vers 22 ist also im Sinne eines endzeitlich göttlichen Gerichts gemeint.
Die beiden Zusätze in den Versen 23-24 und 25-26 erweitern die vertiefte Interpretation des Tötungsverbots. Sie raten dazu, sich um Versöhnung zu bemühen und Schulden zu begleichen und so innere wie äußere Störungen des Miteinanders abzuwenden, die zu Zorn führen könnten. Im ersten Beispiel geht es um die persönliche Disposition beim Tempelopfer. Hier sollen vor der kultischen Handlung alle zwischenmenschlichen Disharmonien beseitigt werden. Für den Evangelisten Matthäus ist damit klar, dass Gottesverehrung untrennbar mit sozialem Verhalten verbunden ist. Der Gedanke, dass die zwischenmenschliche Versöhnung dem Hinwenden zu Gott notwendig vorausgehen muss, ist bereits im Alten Testament ausgedrückt (Psalm 24,3-6). Die Aussöhnung tritt aber nicht anstelle des Kultus wie Vers 24 verdeutlicht.
Das zweite Beispiel nimmt Bezug auf Schuldprozesse. Die Aufforderung zur Aussöhnung ist hier sehr pragmatisch formuliert, es geht darum einen Prozess im letzten Moment („solange du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist“) abzuwenden. Da aber bereits in Vers 22 das Gericht als göttliches Gericht zu verstehen war, sollte dies auch hier mitgedacht werden. In gewisser Weise geht es bei der Aussöhnung vor einem Prozess auch darum, den „Gegner“ nicht zum Ausleben seines Zorns und damit zum Verstoß gegen das Tötungsverbot zu provozieren.
Verse 27-30: Die zweite Antithese beginnt mit dem Hinweis auf das siebte der 10 Gebote „du sollst nicht die Ehe brechen“. Wie in der ersten Antithese geht es in Jesu Auslegung des Gebots darum, den Kern des Gebots zu verstehen: die Achtung vor der Beziehung anderer. Entsprechend wird findet Ehebruch nicht erst da statt, wo ein Mann mit der Frau eines anderen eine sexuelle Beziehung eingeht – diese Auslegung wird unterstellt und abgelehnt. Vielmehr umfasst das Gebot in den Augen Jesu bereits das Begehren einer verheirateten Frau durch Blicke. Die Blicke sind – vergleichbar mit den Schmähungen – bereits Ausdruck von einer im Herzen begangenen Missachtung der existierenden Beziehung.
Wie in den Versen 23-26 folgen nun ab Vers 29 weiterführende Weisungen, die in drastische Bilder gekleidet sind. Jesu Mahnung zielt darauf, jede Form eines entstehenden Verlangens abzuwehren. Die dramatischen Beispiele vom herausgerissenen Auge und der abgeschlagenen Hand sollen einerseits unterstreichen, dass Verlangen bereits in seiner Entstehung unterbunden werden soll. Andererseits veranschaulichen die Beispiele, dass es hier um „Tatbestände“ und Verhalten geht, die nur vor Gott, aber nicht vor Menschen belangt werden können. Auch hier ist damit Gottes Gericht maßgeblich wenn es darum geht, Handeln in seinem Willen oder gegen seinen Willen zu beurteilen.
Verse 31-32: Durch den engen Zusammenhang mit der zweiten Antithese wird bei der dritten auf eine ausführliche Einleitung verzichtet. Im Hintergrund steht die Regelung aus dem Buch Deuteronomium 24,1-4 zu einem geordneten Scheidungsverfahren durch einen Scheidungsbrief. Da die Thematik in einem Streitgespräch mit Pharisäern in Mt 19,3-12 erneut auftaucht, ist davon auszugehen, dass es sich hier um einen mit den Pharisäern ausgetragenen Konfliktstoff handelt. Die Haltung Jesu ist eindeutig: das Ausstellen einer Scheidungsurkunde führt zum Ehebruch und ist damit gegen den Willen Gottes. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um die Heirat mit einer zuvor bereits verheirateten Frau geht oder um die Entlassung der eigenen Frau aus der Ehe. Die Legitimität einer Scheidung bleibt auf den konkreten Fall einer „Unzucht“ als Scheidungsgrund beschränkt. Damit führt die dritte Antithese das Verbot des Ehebruchs aus der zweiten Antithese fort.
Verse 33-37: Die vierte Antithese findet eine inhaltliche Parallele im Neuen Testament im Jakobusbrief (Jak 5,12) und greift alttestamentlich unter anderem zurück auf das Buch Levitikus (Lev 19,12). Eine Kritik am Schwurverhalten im alltäglichen Gebrauch findet sich aber auch außerhalb der Bibel im Frühjudentum.
Der Fokus der These liegt auf der falschen Grundlage jeglichen Schwörens. Denn neben der Tatsache, dass Meineide und Schwüre das soziale Miteinander belasten, sind sie immer auch ein Verstoß gegen das Gebot, den Namen Gottes nicht zu entheiligen. Genau um diese tiefere Dimension der Thematik geht es Jesus in seiner Stellungnahme zum offensichtlich alltäglichen Phänomen des Schwörens. Wie der Schlusssatz (Vers 37) klarstellt, soll jeder menschlichen Rede Wahrhaftigkeit innewohnen – nur dann wird sie den Mitmenschen und Gott gerecht und erfüllt so den Willen Gottes. Wer jedoch sein Reden mit Schwüren untermauert, der kalkuliert die Möglichkeit der Unwahrhaftigkeit menschlichen Redens ein und versucht sich davon abzugrenzen. Indem dabei der Name Gottes hinzugezogen wird, wird Gott unrechtmäßig in die Realität des menschlichen Sprechens und Verhaltens und dessen Fehlerhaftigkeit hineingezogen. Die genannten Beispiele (der Himmel als Gottes Thron, die Erde als der Schemel seiner Füße, Jerusalem als seine Stadt) beruhen auf dem Gedanken des Königtum Gottes. In gewisser Weise schließt sich Vers 36 daran an. Denn die Mahnung, nicht auf das eigene Haupt zu schwören, bringt in Erinnerung, dass man selbst nicht über sein Dasein verfügt, sondern ganz Gottes Macht und Güte anvertraut ist. Vermutlich sollen das weiße und schwarze Haar die verschiedenen Lebensalter zum Ausdruck bringen, die man nicht selbst herbeiführen oder verlängern kann.