Wer, wenn nicht wir? Eine Ermutigung und Verheißung für die Menschen, die das Himmelreich schon auf Erden erlebbar gemacht haben.
1. Verortung im Evangelium
Das Matthäusevangelium (Mt) setzt ein mit dem Stammbaum Jesu (Mt 1,1-17) und endet mit dem Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums und der Zusicherung Jesu, alle Tage da zu sein (Mt 28,16-20). Im Spannungsfeld zwischen Herkunft aus dem Volk Israel und Sendung zu allen Völkern verkündet Jesus die Botschaft vom Reich Gottes. Dabei wird die Jesusgeschichte des Matthäusevangeliums durch fünf große Redeeinheiten gegliedert. Die erste Rede und zugleich die erste inhaltliche Entfaltung der Botschaft vom Reich Gottes ist die sogenannte „Bergpredigt“. Eine weitere Besonderheit des Matthäusevangeliums ist, dass der Evangelist statt Reich Gottes den Begriff Himmelreich verwendet, um den Bereich zu umschreiben, in dem Gottes Wille Wirklichkeit wird.
Der vorliegende Evangeliumsabschnitt umfasst den Beginn der Rede und ihren programmatischen Start.
Zur Überlieferung der Seligpreisungen: Die Seligpreisungen finden sich sowohl im Matthäus- als auch im Lukasevangelium (Lukasevangelium 6,20-26), wenn auch mit Unterschieden. Die übereinstimmenden Seligpreisungen werden die beiden Evangelisten der sogenannten Spruchquelle Q entnommen haben. Diese Quelle bestand vornehmlich aus Aussprüchen Jesu, wie sie von umherziehenden Wanderpredigern, wiedergegeben wurden. Die inhaltliche Ausrichtung der ersten, zweiten und vierten Seligpreisung macht es wahrscheinlich, dass es sich hier um Worte handelt, die direkt auf Jesus zurückgehen. Weil in der neunten Seligpreisung mit dem Thema der Verfolgung der Bezug zu einer Gemeindesituation vorliegt, ist diese wohl eine Erweiterung, der jesuanischen Worte durch die Verkündiger. Bei den Textteilen, die Lukas und Matthäus überliefern, gilt, dass Lukas meist die ursprünglichere Textversion überliefert.
Die Seligpreisungen, die sich nicht bei beiden Evangelisten finden, gehen jeweils auf den Evangelisten und möglicherweise nur ihm bekannte Überlieferungen zurück.
2. Aufbau
Die Verse 1-2 bilden die Redeeinleitung und die szenische Einführung zur gesamten Rede auf dem Berg. In den Versen 3-10 folgen acht Seligpreisungen, die in der 3. Person Plural formuliert sind. Sie lassen sich in zwei ungefähr gleichlange Strophen unterteilen (Verse 3-6 und 7-10). Die erste und letzte Seligpreisung enden mit dem gleichen Nachsatz: „denn ihnen gehört das Himmelreich“. Sie bilden einen Rahmen um diese beiden Strophen. Die neunte Seligpreisung ist in der 2. Person Plural formuliert und unterscheidet sich durch diese direkte Anrede und ihre Länge von den Übrigen. Sie schließt die Seligpreisungen ab und leitet zugleich über zu den folgenden Bildworten (Salz der Erde und Licht der Welt).
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 1-2: Die szenische Einleitung lässt offen, ob das Volk auch zu den Hörern der folgenden Worte Jesu gehört, oder nicht. Das Ende der Bergpredigt in Mt 7,28 jedoch macht deutlich, dass auch „die Menge“ den Worten Jesu zuhört. Das bedeutet, die folgenden Weisungen sind sowohl an die Jünger als auch an die interessierten Zuhörer gerichtet. Entsprechend geht es bei den Weisungen der Bergpredigt nicht nur um den speziellen Kreis der Jünger in der direkten Nachfolge. Es handelt sich also nicht um eine bloße „Binnen-Ethik“ für den Kreis der Erwählten. Die Worte der Bergpredigt sind an alle gerichtet, die mit Jesus unterwegs sind. Diese Menge war im vorangehenden Vers (Mt 4,25) als „Scharen von Menschen aus Galiläa, der Dekapolis, aus Jerusalem und Judäa und aus dem Gebiet jenseits des Jordan“ beschrieben.
Als Ort der ersten öffentlichen Unterweisung Jesu wird der Berg dargestellt. Das Hinaufsteigen auf den Berg weckt Assoziationen an den Aufstieg des Mose auf den Sinai (Exodus 19,3). Der Leser ist also darauf vorbereitet, dass nun ähnlich wie die Übergabe der Gesetze an Mose eine Vermittlung göttlicher Lebensordnung vorgenommen wird.
Der Gestus des Sitzens entspricht den Gepflogenheiten eines Lehrers im Synagogengottesdienst, sowohl das Sitzen als auch das „Öffnen des Mundes“ steigern die Feierlichkeit der Situation.
Allgemeine Bemerkung zum Begriff „selig“: Im griechischen Text steht das Wort makarios (griechisch: μαϰάριος, glücklich/gesegnet), es wird zunächst ausschließlich auf die Götter angewendet. Im Griechischen der neutestamentlichen Zeit umschreibt es einen Zustand des Glücklichseins, der nicht zu überbieten ist. Da das Wort „glücklich“ im heutigen Sprachgebrauch leicht banal klingt, kommt in der Übersetzung das Wort „selig“ zum Einsatz. Auch dieses ist nicht einfach zu verstehen und hat keine alltagssprachliche Relevanz. Zudem erweckt es leicht den Eindruck, es ginge dabei um einen Zustand, der nur im Jenseits zu erreichen ist. Dies entspricht jedoch nicht der Aussageabsicht der Seligpreisungen des Evangeliums. Sie sind eine Aussage über das Hier und Jetzt von Menschen, die dann näher beschrieben werden. Mit dem Ausruf der Seligpreisung wird etwas Wirklichkeit, was den Adressaten in einen neuen, anderen Zustand versetzt.
Vers 3: Die „arm sind vor Gott“ sind im griechischen Originaltext eigentlich die „arm sind im Geist“. Die eine wie die Übersetzung wirft die Frage auf, wie „arm“ zu verstehen ist. Geht es um wirtschaftliche Armut oder es im metaphorischen Sinne als niedrig, entbehrend zu verstehen? Hier liegt der Schwerpunkt der Bedeutung auf einer inneren Not und der Haltung der Demut. Es geht also um eine ethische Haltung, die die materiellen Verhältnisse offen lässt. „Arm vor Gott“ umschreibt entsprechend eine Einstellung der Einfachheit, Zurückhaltung und Offenheit, mit der man vor Gott tritt.
Wie in allen Seligpreisungen geht es beim Nachsatz nicht um Belohnungen, sondern um Verheißungen. Die Verheißung des Himmelreichs, die sich in Vers 10 wiederholt und eine Klammer bildet, macht auf gewisse Weise den Horizont deutlich, vor dem die weiteren Seligpreisungen und ihre Zusagen stehen. Sie entfalten, was das Himmelreich für die benannten Personen bedeutet und lassen damit ein Bild dieser Wirklichkeit Gottes entstehen.
Vers 4: Gegenüber dem sehr konkreten und eindringlichen „weinen“ der ursprünglichen Formulierung, die im Lukasevangelium erhalten ist (Lk 6,21), formuliert das Matthäusevangelium „trauern“. Dieser Begriff ist weiter zu fassen als das Weinen und entsprechend meint auch „trösten“ nicht nur, dass keine Tränen mehr fließen. Die Abwesenheit von Trauer ist ein Charakteristikum der Gegenwart Gottes, wie sie im Bild des Himmelreichs verheißen wird. So formuliert es auch die Offenbarung des Johannes mit Blick auf das himmlische Jerusalem: „Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal“ (Offenbarung des Johannes 21,3-4).
Vers 5: Auch der Begriff der Sanftmütigen ist nicht leicht inhaltlich zu fassen. Andere Übersetzungsmöglichkeiten wie freundlich, mild oder demütig bleiben ähnlich unzulänglich wie die Übertragung mit dem Wort „sanftmütig“. Gemeint ist eine Demut, die sich in Freundlichkeit und Milde äußert. Insofern schließt die dritte Seligpreisung an die zweite an. Der Sanftmütige ist nicht aufbrausend und setzt seinen Willen nicht gnadenlos durch, er agiert mit Blick auf den Nächsten – so könnte man den Begriff versuchen zu fassen. Die Verheißung des Landes macht deutlich, dass die grundlegende Aussicht auf das Himmelreich eine Verwandlung des Diesseits einschließt.
Vers 6: Der Begriff der Gerechtigkeit ist für die Bergpredigt und das Matthäusevangelium insgesamt zentral. Gerechtigkeit meint im Matthäusevangelium ein bestimmtes menschliches Verhalten. Dabei bleibt der Evangelist im alttestamentlichen Denken und versteht Gerechtigkeit als das Verhalten, das Gott seinem Volk auferlegt. In Mt 5,20-48 beschreibt er das menschliche Tun genauer: Feindesliebe, Tötungsverbot, die andere Wange hinhalten etc.
In der vierten Seligpreisung geht es um die Menschen, die „hungern und dürsten“ nach der Gerechtigkeit. Es handelt sich hierbei nicht um ein Sehnen und damit ein rein passiv-spirituelles Verhalten, sondern ein Bemühen um und ein Unterwegssein hin zu einem Leben in Gerechtigkeit.
Vers 7: Die Seligpreisung der Barmherzigen (so wie auch die beiden folgenden) sind nahe an alttestamentlich-weisheitlichem Denken. „Barmherzigkeit“ ist eine zentrale Wesenseigenschaft Gottes (vgl. Exodus 34,6). Sie wird hier auch als menschliche Qualität genannt, die dem göttlichen Erbarmen entspricht. Damit ist weder ein Vorausgehen des göttlichen Erbarmens zum Ausdruck gebracht, noch gemeint, dass menschliches Erbarmen die Bedingung für göttliche Barmherzigkeit darstellt.
Vers 8: „Rein im Herzen“ sind Menschen, die ohne Schuld vor Gott stehen. Das Herz ist dabei der Ort menschlichen Wollens, Denkens und Fühlens. Wer in seinem Herzen kein Streben findet, dass sich Gott und seinem Willen entgegenstellt, der hat ein reines Herz (vgl. Psalm 73,1).
Die Verheißung Gott zu schauen, d.h. in seinem Wesen ganz zu erkennen ist eine Hoffnung, die eindeutig auf das Jenseits den Himmel zielt. Nur von Mose wird berichtet, dass er auf Erden Gott von Angesicht zu Angesicht schaute (Numeri 12,8). Für alle anderen bleibt diese Klarheit des Erkennens eine jenseitige Verheißung (vgl. auch 1. Korintherbrief 13,12). Gerade weil hier eine Verheißung ausgesprochen wird, geht es nicht darum, sich innerweltlich durch bestimmte Frömmigkeitsübungen in einen Zustand der ständigen „Gottesschau“ hineinzuversetzen. Weil die Reinheit des Herzens vom Tun des Menschen abhängig ist, ist das Handeln am Nächsten und das Verhalten ihm gegenüber immer mitgedacht.
Vers 9: Die siebte Seligpreisung ist denen gewidmet, die „Frieden stiften“. In der Umschreibung der Personengruppe kommt bereits eine Aktivität zum Ausdruck, die eine reine Haltung der Friedfertigkeit ausschließen. Es geht um ein aktives Bemühen um Frieden – nicht nur im direkten persönlichen Umfeld, sondern auch außerhalb von Familie und Gemeinde. Das in Mt 5,44-48 folgende Gebot der Feindesliebe macht dies deutlich. Die Verheißung der Gotteskindschaft lässt sich nur mit Blick auf Jesus, den Sohn Gottes, im Zusammenhang mit der Seligpreisung der Friedensstifter in Verbindung bringen. Jesus erweist sich als Sohn Gottes, indem er so handelt, wie es dem Willen Gottes entspricht. So führt auch das Frieden stiften im Auftrag Gottes zur erhofften Gotteskindschaft.
Vers 10: Die achte Seligpreisung betont die beiden Hauptakzente der vorangegangenen Worte: Es geht um das menschliche Verhalten entsprechend der Gebote Gottes (Gerechtigkeit) und die damit verbundene Verheißung einer Nähe zu Gott (Himmelreich). Die Situation der Verfolgung, die hier hineinkommt, schlägt zum einen den Bogen zum Thema der Verfolgung, das auch in Mt 5,44 noch einmal aufgenommen wird, zum anderen schließt Verfolgung ein bloßes Sehnen nach Gerechtigkeit aus. Verfolgung erleidet man nicht für seine Gedanken, sondern für seine Taten. Zur Gerechtigkeit gehört daher das Bekenntnis und das Handeln nach dem Vorbild Jesu.
Verse 11-12: Die letzte Seligpreisung schließt an das Thema der Verfolgung an. Wenn nun die Jünger und die Menge direkt angeredet werden, spiegelt sich hier wohl die Situation der Gemeinde des Evangelisten Matthäus wieder. Wer sich zu Jesus als dem Sohn Gottes bekennt und nach seinen Maßstäben lebt, der muss mit Schmähungen, Verfolgung und übler Nachrede rechnen. Dies erlebt auch die matthäische Gemeinde im ausgehenden 1. Jahrhundert nach Christus. Entscheidend ist, dass die Verfolgung aufgrund des Bekenntnisses zu Christus erfolgt.
Die Umschreibung „jubelt und freut euch“ drückt dasselbe aus wie „selig“. Denn wer in der Verfolgung um Christi willen steht, der wird im Himmelreich Lohn empfangen.