„Das Himmelreich ist nahe.“ Wie der Blick auf das Kommende zur Einladung wird.
1. Verortung im Evangelium
Die Jesuserzählung des Matthäusevangeliums (Mt) beginnt mit dem Stammbaum Jesu (Mt 1,1-17) und den Ereignissen seiner Geburt bis hin zur Rückkehr der Familie aus Ägypten (Mt 1,18-2,23). Bevor in Mt 3,13-17 mit der Erzählung von der Taufe Jesu die Geschichte des Gottes Sohnes weitererzählt wird, liegt das Augenmerk in Mt 3,1-12 auf der Person Johannes‘ des Täufers.
2. Aufbau
Der Abschnitt lässt sich in zwei größere Abschnitte teilen, die jeweils noch einmal unterteilt sind. Im ersten Teil wird Johannes der Täufer vorgestellt (Verse 1-6). Dies geschieht in einer Charakterisierung seiner Person durch Botschaft, Kleidung, Herkunft (Verse 1-4), im Anschluss wird die Reaktion des Volkes auf ihn geschildert (Verse 5-6). Im zweiten Teil steht die Predigt des Täufers im Vordergrund (Verse 7-12). Dabei geht es erst um die Umkehr- und Gerichtsbotschaft an Sadduzäer und Pharisäer (Verse 1-10), danach um die Ankündigung des Stärkeren und dessen Gericht (Verse 11-12).
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 1-2: Bei der Vorstellung des Täufers liegt das Gewicht auf der verkündeten Botschaft, denn der Evangelist Matthäus stellt sie bewusst der äußeren Darstellung voraus. Die Einleitung „in jenen Tagen“ stellt eine bewusste Kontinuität zu den erzählten Ereignissen der Geschichte Jesu her. Der Ort des Auftretens, die Wüste, ruft sofort verschiedene Erinnerungen an Episoden der Geschichte Israels in Erinnerung. Vor allem ist die „Wüste Judäas“ jedoch eine lokal-historische Angabe. Sie gehört zur Provinz Juda und entsprechend ziehen in Vers 5 Menschen aus dem gesamten Umland zu ihm.
Die ersten Worte des Täufers sind kurz und knapp und stellen ganz die Botschaft in den Vordergrund. Mit eben diesen Worten beginnt in Mt 4,17 Jesus selbst seine Verkündigung und die Kurzform „das Himmelreich ist nahe“ ist die Botschaft, die den Jüngern zur Weitergabe aufgetragen wird (Mt 10,7). Die Formulierung „Himmelreich“ tritt im Matthäusevangelium an die Stelle des Begriffs „Reich Gottes“, den Matthäus nur selten verwendet. Die Formulierung „Himmelreich“ entspricht dem Sprachgebrauch der Synagogengemeinde und wohl auch dem der Gemeinde, für das Matthäus sein Evangelium schreibt. Dies verweist auf das ehemals enge Verhältnis zwischen der christlichen Gemeinde des Matthäus und der jüdischen vor Ort.
Verse 3-4: Aussehen und Auftreten des Johannes werden bewusst in einen prophetischen Kontext gesetzt. Die Kleidung trägt asketische Züge und erinnert an Sacharja 13,4 (Mantel) und Elija, mit dem Johannes auch an anderen Stellen in Verbindung gebracht wird (2. Buch der Könige 1,8).
Das Auftreten selbst wird mit den Verheißungen des Propheten Jesaja verbunden. Matthäus zeichnet den Täufer durch das verwendetet Zitat als Vorläufer für den Herrn, er stellt ihn damit in Kontinuität zu den Schriften des Alten Testaments. Jedoch verzichtet er auf eine „Erfüllungsformel“, wie sie bei Rückverweisen der Jesuserzählung verwendet werden (vgl. Mt 1,22).
Verse 5-6: Der Evangelist betont den Erfolg der Verkündigung. Das Volk kommt in einer großen Zahl zu Johannes und bildet damit einen Kontrast zu den Führern (Vers 7). Die Scharen kommen und bekennen ihre Sünden und lassen sich taufen. Der Evangelist Matthäus verzichtet auf eine explizite Bezugnahme auf ein Vergebungsgeschehen. Ob er dies mit dem Bekenntnis bereits zusammendenkt oder die Vergebung der Sünden nur mit dem Wirken Jesu verbindet, ist nicht klar zu entscheiden. Fest steht jedenfalls, dass das Bekenntnis der Sünden und das Zeichen der Taufe eine Umkehr und damit Lebenswende deutlich macht und für das Volk eine hohe Anziehungskraft besaß.
Verse 7-10: Im Kontrast zu Vers 5 und dem Volk, das positiv auf die Verkündigung des Täufers reagiert, geraten nun zwei Gruppen aus der „Führungsschicht“ Israels in den Fokus. Mit „Pharisäern und Sadduzäern“ bringt der Evangelist Matthäus zwei Gruppen zusammen, die eigentlich nicht zueinander passen. Zumeist werden „Pharisäer und Schriftgelehrte“ als gemeinsame Kritiker- oder Gegnergruppe benannt, da diese aufgrund ihrer inhaltlichen Ausrichtung auch einfacher eine Solidargemeinschaft bilden. Schließlich stehen beide Gruppen für ein schriftgemäßes Leben, das die Tora (Bücher des Moses) und die weiteren Überlieferungen zur Grundlage nimmt. Zudem stehen beide Gruppen dem Synagogengottesdienst näher und existieren auch zur Zeit der Abfassung der Evangelien noch. Die Sadduzäer hingegen erkennen lediglich die Überlieferung der Tora als verbindlich an und gehören zu einer geistlich-priesterlichen Elite, die sich rund um den Tempel versammelt. Sie gehen quasi mit dem Tempel gemeinsam im Jahr 70 n.Chr. unter und sind zur Zeit der Evangelien eine historische und keine reale Größe mehr. Wenn Matthäus nun also mit den Pharisäern und Sadduzäern zwei eigentlich konträre Gruppen der Zeit des Täufers und Jesu gemeinsam auftreten lässt, zeigt er an, dass sich eine breite Front gegen die Verkünder des Himmelreiches bildet. Was die führenden Kreise Israels zu Johannes lockt, lässt sich nur indirekt erschließen. In Kombination mit der Anziehungskraft der Botschaft für das Volk (Vers 5) ist denkbar, dass die Pharisäer und Sadduzäer sich selbst ein Bild von der Lage machen wollen. Offenbar tritt mit dem Täufer jemand auf, der für das Volk eine Leitfigur ist oder zu werden droht.
Die mit Vers 7 beginnende Predigt ist zunächst explizit an die führenden Kreise gerichtet. Die Frage des Täufers zu Beginn lässt sich vor dem Hintergrund der Verse 8-9 nur ironisch-rhetorisch verstehen. Sie reagiert auf die Selbstsicherheit der Gruppen, mit der eigenen Auslegung der Schrift eine Heilsgewissheit zu verbinden. Die bloße Zugehörigkeit zu Abraham aber, so macht Johannes deutlich entbindet nicht von der Notwendigkeit zur Umkehr und der damit verbundenen Bereitschaft zu einem Leben nach dem Willen Gottes. Entsprechend sind die „Früchte“, zu denen Johannes auffordert, sichtbare Zeichen eines Lebens aus der Verheißung. Sie sind das Kriterium für das Bestehen im „Zorngericht“, das Johannes ankündigt. Die konkrete Form der Taten wird im Matthäusevangelium erst die Verkündigung Jesu ausformulieren.
Eine bewusste Verbindungslinie zwischen der Verkündigung des Täufers und dem Wirken Jesu baut Matthäus über einzelne Wortverknüpfungen auf. So nutzt auch Jesus das Bild der „Schlangenbrut“ im Hinblick auf Pharisäer (Mt 12,34) und Pharisäer und Schriftgelehrte (Mt 23,33). Und auch das Abschlagen eines Baumes als Bild für das kommende Gericht findet in der Verkündigung Jesu Verwendung (Mt 7,19). Die Radikalität dieses Bildes in den Worten des Johannes bringt eine deutliche Infragestellung Israels oder seiner führenden Kreise mit sich. Denn ein Baum, der wirklich an der Wurzel zerschlagen ist, kann nicht mehr austreiben. Die Dringlichkeit des Umkehrrufes wird also unmissverständlich deutlich.
Verse 11-12: Offensichtlich findet mit Vers 11 ein Adressatenwechsel statt, denn der Verweis auf die Taufe nimmt das Volk und weniger die Führenden in den Blick. Johannes ordnet sein eigenes Tun nun ein im Vergleich zu dem, der nach ihm kommen wird. Im Bild vom Lösen der Sandalen, das eine Sklaventätigkeit darstellt, macht er die Größe dessen deutlich, der kommen wird. So ist seine „Wassertaufe“ zur Umkehr auch nur Vorbereitung auf die Taufe mit Geist und Feuer. Der Evangelist Matthäus will hier wohl zwei Vorgänge voneinander unterscheiden: die christliche Taufe, die seine Gemeinde als Praxis kennt (Geisttaufe) und die Taufe mit Feuer, die für das Gericht am Ende der Zeit steht. Matthäus lässt Johannes also nicht nur auf das irdische Wirken Jesu verweisen, sondern auch auf dessen Rolle im endzeitlichen Gericht. Diese Thematik wird durch die dreimalige Aufnahme des Wortes „Feuer“ (Verse 10.11.12) zu einem zentralen Inhalt der Predigt des Täufers. In diesem Sinne ist auch Vers 12 als eine eindeutige Warnung zu verstehen: Es wird der Zeitpunkt kommen, da sich die Früchte zeigen werden und sich nach den Früchten das Schicksal des Einzelnen entscheidet. Ähnlich wie im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24-30) ist auch hier vorausgesetzt, dass es erst einmal beides (Gutes und Böses) gibt, in Israel wie in der christlichen Gemeinde. Die Unterscheidung zwischen dem einen und dem anderen ist Sache Gottes, nicht der Menschen.