Das Ende ist der Anfang. Der Auferstandene hat im Matthäusevangelium das letzte Wort und versetzt damit die Jünger in Aufbruchsstimmung.
1. Verortung im Evangelium
Das Matthäusevangelium (Mt) zeichnet sich durch fünf große Reden Jesu aus: Bergpredigt (Mt 5,1-7,29), Aussendungsrede (Mt 9,36-11,1), Gleichnisrede (Mt 13,1-52), Gemeinderede (Mt 18,1-35) und Endzeitrede (Mt 24,3-25,46). Auf diese Weise kommt dem verkündigenden Wort Jesu eine besondere Bedeutung zu. Diesem „roten Faden“ seiner Darstellung bleibt der Evangelist auch beim Abschluss seiner Erzählung treu: Er lässt das Evangelium mit einem Wort des Auferstandenen enden. Dies unterscheidet das Matthäusevangelium von den anderen Jesuserzählungen der Evangelisten Markus, Lukas und Johannes; sie schließen ihre Werke jeweils mit „eigenen Worten“ oder einem Kommentar des Erzählers.
Der Abschnitt Mt 28,16-20, der vor allem aus den letzten Worten Jesu an seine Jünger besteht, schließt die „Osterereignisse“ im Matthäusevangelium ab. Dabei setzt er dort ein, wo Mt 28,9-10 aufhörte: mit der Aufforderung Jesu an die Frauen, die Jünger sollen nach Galiläa gehen, um ihn dort zu treffen.
2. Aufbau
Der Schwerpunkt des Abschnitts liegt auf den Worten Jesu in den Versen 18-20. Die Verse 16-17 leiten diese Szene ein, indem sie zum einen (Vers 16) darstellen, dass die Jünger der Aufforderung Jesu in Mt 28,10 Folge leisten. Zum anderen (Vers 17) geben sie einen Einblick in die innerliche Situation der elf Jünger, die nach dem Verrat des Judas (Mt 26,48-50), der Verleugnung durch Petrus (Mt 26,69-75), dem Tod Jesu (Mt 27,50) und der Botschaft vom leeren Grab (Mt 28,8) zwischen Staunen und Zweifel schwanken.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 16: Die Jünger folgen dem Auftrag, den Jesus den Frauen am Ostermorgen mitgegeben hatte. Sie selbst sind bis jetzt dem Auferstandenen nicht begegnet, sondern haben nur die Worte der beiden Marias, die am ersten Tag der Woche das Grab leer aufgefunden und den Auferstandenen auf dem Weg getroffen hatten. Der Evangelist Matthäus berichtet nur von zwei Erscheinungen des Auferstandenen. Die Reduzierung auf diese zwei Szenen gibt jeder eine eigene Bedeutung. Die Frauen sind die „Zeugen“ des Geschehens am Ostermorgen. Sie finden das Grab leer, hören die Botschaft des Engels und werden von ihm und dem Auferstandenen mit der Weitergabe der frohen Kunde betraut (Mt 28,1-10). Die Erscheinung vor den Jüngern dient der Beauftragung zur Weitergabe des Evangeliums an alle Völker. Damit wird der Umfang der Zeugenschaft von den Frauen zu den Elf erweitert (Verkündigung der Auferstehung – Verkündigung des Evangeliums), zugleich behält jede „Zeugengruppe“ ihre Bedeutung. Die Verkündigung an die Völker löst die Botschaft vom leeren Grab nicht ab, sondern erweitert sie.
Die Tatsache, dass die Jünger nach Galiläa gehen, nimmt einen Faden auf, der das Evangelium durchzog: Jerusalem ist der Ort der Bedrohung, Galiläa der Raum, in dem Jesus verkündigen und Wunder wirken kann.
Ebenso ist der Berg als besonderer Ort bereits mehrfach im Evangelium betont worden. Jesus lehrt auf dem Berg (Mt 5,1), er heilt dort (Mt 15,29-31) und zieht sich dorthin zurück, um zu beten (Mt 14,23). Mit einem Berg verbunden sind auch zwei Szenen, die die Gottessohnschaft Jesu und seine Vollmacht besonders in den Blick nehmen: Die letzte Versuchung des Teufels in der Wüste (Mt 4,8-10) und die Verklärung Jesu (Mt 17,1-9). Die Verse Mt 28,16-20 sind vor allem mit diesen beiden Situationen eng verbunden.
Vers 17: Die Erscheinung des Auferstandenen ist im Vergleich zu anderen Darstellungen in den Evangelien eher unspektakulär (vgl. Johannesevangelium 20,26). Die Reaktion der Jünger ist dem Evangelisten wichtiger als die Art und Weise der Begegnung. Denn das Wiedersehen mit Jesus ruft eine doppelte Reaktion in der Jüngerschaft hervor. Das Niederfallen als Zeichen der Ehrerbietung und Anerkennung ist seit der Huldigung durch die Sterndeuter in Mt 2,11 ein wiederkehrendes Motiv im Evangelium. Den Zweifel, der von einigen Jüngern berichtet wird, hatte Matthäus bisher nur einmal verwendet. In der Erzählung von Petrus, der Jesus auf dem See Gennesaret entgegengehen will (Mt 14,28-31), werden die Worte Angst, Zweifel und Kleinglaube miteinander verbunden. Petrus zweifelt in dieser Szene offenbar an dem Ruf Jesu, ihm übers Wasser entgegenzukommen und dieser „Kleinglaube“ lässt ihn untergehen. Der Zweifel, von dem Matthäus hier berichtet, ist ähnlich zu verstehen. Es geht nicht um eine Infragestellung der Erscheinung Jesu, sondern um die innere Unsicherheit, wie das Miteinander zwischen dem Auferstandenen und seinen Jüngern fortgesetzt werden kann – nach den Ereignissen der Passion.
Verse 18-20: Die Reaktion Jesu auf Staunen und Zweifel der Jünger entspricht seiner Reaktion auf das ungläubige Staunen von Johannes, Jakobus und Petrus auf dem Verklärungsberg (Mt 17,7). Die Beauftragung zur Verkündigung an die Völker wird eingeleitet durch das Herantreten Jesu an seine Jünger. Nur hier und in der Verklärungserzählung wird im Matthäusevangelium davon berichtet, dass Jesus an jemanden herantritt – sonst sind es andere, die auf ihn zugehen. Anders als auf dem Berg der Verklärung fasst Jesus die Jünger hier aber nicht an, um sie zu ermutigen. War das Berühren auf dem Verklärungsberg notwendig, um den Jünger deutlich zu machen, dass die himmlische Szene nur eine Momentaufnahme war, wird dies hier durch den Inhalt der Worte Jesu deutlich. Das Hinzutreten zeigt jedoch, dass es trotz der Passionsereignisse keine Distanz seinen Jüngern gegenüber gibt – ihre Zweifel sind unbegründet.
Die Worte Jesu beginnen mit der Klarstellung seiner Vollmacht, woher sie kommt, das hatte Jesus seinen Jüngern bereits in Mt 11,27 erklärt: „Alles ist mir von meinem Vater übergeben worden“. Die Umschreibung „alles“ wird hier mit „alle Vollmacht im Himmel und auf Erden“ präzisiert. Der Besitz dieser Macht ist also nicht neu, wohl aber wird deutlich worauf sie sich bezieht. Neu – und damit das bisherige Verständnis der Vollmacht Jesu erweiternd – ist die Tatsache, dass Jesus diese Vollmacht frei ausübt, wie er es durch die Beauftragung (Verse 19-20a) macht. Ein ganz wichtiges Motiv des Matthäusevangeliums war seit der Taufe durch Johannes (Mt 3,13-17) und der Versuchung durch den Satan in der Wüste (Mt 4,1-11) die Art und Weise, wie Jesus seine Gottessohnschaft lebte und mit der damit verbundenen Vollmacht umging. Er lebte und handelte im Gehorsam gegenüber dem Vater wie das Gebet in Getsemani zeigt (Mt 26,42). Obwohl er alle Vollmacht hat, setzt er sie nicht beliebig ein, sondern er übt sie so aus, wie es dem Willen des Vaters entspricht. Deshalb heilt er Kranke, treibt Dämonen aus, ermutigt die Menschen und verkündigt die Botschaft vom Himmelreich, aber er benutzt die Vollmacht nicht zu seinen eigenen Zwecken (vgl. Mt 26,53-54).
Erst jetzt, da er durch das Leiden hindurch in die Herrlichkeit des Vaters auferstanden ist, übt er seine Macht aus und sendet seine Jünger in die Welt. Mit allen Völkern sind Juden und Nicht-Juden und damit alle Menschen gemeint, sie alle sollen hineingenommen werden in die göttliche Heilsbotschaft. War Jesu Tätigkeit im Matthäusevangelium einerseits konzentriert auf „die verlorenen Schafe Israels“ (Mt 15,24), so war doch andererseits alle Menschen als Adressaten der Heilsbotschaft im Blick. Dies zeigt sich sowohl im Beginn des Stammbaums bei Abraham, als auch bei den Sterndeutern, die als erste in Jesus den neuen König erkennen und sich von Gottes Stern nach Bethlehem führen lassen (Mt 2,1-12). Und auch an anderen Stellen ist diese Perspektive mitgedacht (z.B. Mt 12,21). War die Aussendung der Jünger in Mt 10,5-6 noch auf Israel fokussiert, wird sie nun nach Ostern ausgeweitet auf alle Völker. Die Sendung zu den Völkern soll diese zu Jüngern Jesu machen und damit zu Menschen, die sich an seinen Worten orientieren und wie er den Willen Gottes leben. Dies drückt sich in den Worten Jesu in zwei Dingen aus: Sie werden getauft und mit dem notwendigen Wissen ausgestattet. Die Form der Taufformel („auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“) zeigt, dass diese bereits in der matthäischen Gemeinde gebräuchlich war. Die Taufe dürfte für alle der entscheidende Ritus der Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde gewesen sein. Nicht-Juden konnten ihren Glauben an den einen Gott, den Vater Jesu Christi, durch den Akt der Taufe bekennen und wurden nicht zuerst beschnitten.
Neben dem Akt des Bekenntnisses zu Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, sollen die Menschen „gelehrt“ bekommen, was die Jünger von Jesus gelernt haben. Angesichts der Verortung der Abschlussszene auf einem Berg ist hier sofort an die Worte der Bergpredigt (Mt 5,1-7,29) zu denken. In ihr hatte Jesus den Willen des Vaters erläutert und geholfen, die bisherigen Bezugsgrößen „Gesetz und Propheten“ (Mt 5,17-19) zu verstehen.
Die Sendung der Jünger zu allen Völkern und der Auftrag diese durch Taufe und Lehre zu Jüngern zu machen wird von der Zusage Jesu in Vers 20b gestützt. Die Zusage seiner bleibenden Gegenwart knüpft an die Offenbarung seines Namens an Josef an (Mt 1,23): Jesus ist der, der zeigt, dass Gott immer da ist – bis ans Ende aller Tage.