Ahnungslos? Nicht mit uns! Über das Privileg der Wachsamkeit
1. Verortung im Evangelium
Der Abschnitt aus dem 24. Kapitel des Matthäusevangeliums (Mt) beschäftigt sich mit der Frage nach dem, was geschieht, wenn der Menschensohn am Ende der Zeiten kommt. Jesus wendet sich hier an seine Jünger, mit denen er seit Mt 24,3 auf dem Ölberg in Jerusalem befindet. Angesichts seines unmittelbar bevorstehenden Leidens (Mt 26-27) spricht Jesus zu seinen Jüngern in Bildworten und Gleichnissen, um sie zugleich zu ermutigen und zu ermahnen.
Für die Leser des Evangeliums sind die Worte über das Ende der Zeit ebenfalls als Bestätigung und Aufforderung gemeint. Für sie geht es darum, nicht nachzulassen in der Erwartung, dass Jesus vom Himmel her wiederkehrt und das Reich Gottes endgültig Wirklichkeit wird.
2. Aufbau
Die Unvorhersehbarkeit der endzeitlichen Ereignisse wird zunächst durch einen Vergleich und Rückbezug zur Sintflut-Erzählung deutlich gemacht (Verse 37-39). Die Verse 40-41 führen dann inhaltlich aus, wie die Jünger sich die Ereignisse vorstellen sollen. Die Mahnung zur Wachsamkeit in Vers 42 bildet eine Brücke vom vorangegangenen Bildwort zum folgenden kurzen Gleichnis (Verse 34-44), sowie den weiteren Gleichnissen in Mt 24,45-25,46.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 37-39: Vers 37 leitet den Vergleich zwischen der Ankunft des Menschensohnes und den Tagen Noahs vor der Sintflut ein. Vergleichspunkt ist das unerwartete Eintreffen des Zeitpunkts X.
Wenn hier von der Ankunft des Menschensohns gesprochen wird, ist damit im Erzählen des Evangeliums die Wiederkunft Jesu Christi am Ende der Zeiten gemeint, die Parusie. Der Begriff „Menschensohn“ meint zunächst einmal so viel wie Mensch oder Menschenkind. Im Buch Ezechiel wird der Prophet immer wieder mit diesem Begriff angesprochen (vgl. Ezechiel 6,2). In der jüdisch-apokalyptischen Literatur, also den Schriften, die sich mit der Endzeit und ihren Ereignissen auseinandersetzen, verändert sich die Bedeutung. Nun ist mit dem Begriff „Menschensohn“ die Hoffnung auf eine menschenähnliche und von Gott herkommende Gestalt verbunden, die in den Ereignissen der Endzeit eine wichtige Funktion einnimmt (z.B. Daniel 7,13).
Die Verse 38 und 39 nehmen die Vergleichssituation der „Tage des Noach“ genauer in den Blick: Die Menschen sind dort beschäftigt mit den Alltäglichkeiten (essen, trinken, heiraten) und haben keine Ahnung von dem, was in Kürze eintritt. Die Flut und der damit einhergehende Tod kommt überraschend und plötzlich und trifft bis auf Noach alle vollkommen unvorbereitet. Der Vergleich mit den Tagen des Noach besteht hier nur in Bezug auf die Katastrophe, die hereinbricht. Es geht nicht um den Grund für die Katastrophe oder ein schuldhaftes Verhalten, das der Sintflut vorausgeht. Die Ahnungslosigkeit der Menschen ist das Entscheidende.
Verse 40-41: Das Gefühl der Unberechenbarkeit der Ereignisse wird in den folgenden Bildworten noch gesteigert. In einem Männer- und einem Frauenbeispiel wird gezeigt, dass bei der Parusie ohne Vorwarnung und plötzlich zwischen Menschen eine Trennung verläuft. Da gibt es die, die mitgenommen werden, und die, die zurückbleiben. Aufgrund des verwendeten Verbs „mitnehmen“ (paralambano, griechisch: παραλαμβανω, mit sich nehmen, annehmen) ist diese Seite die positive. Das Verb wird auch im Zusammenhang mit Entrückungen von Erwählten zu Gott verwendet (z.B. in Johannesevangelium 14,3). Auf diese Weise wird klar: Die Mitgenommenen sind die, deren Schicksal sich zum Guten wendet, sie finden ihren Platz bei Gott. Die Zurückgelassenen aber sind getrennt von Gott, sie trifft das Unheil der „Nicht-Gemeinschaft“ mit Gott. Aufgrund der gewählten Beispiele (Feldarbeit, Mahlen) wird die Bedrohlichkeit der Situation noch gesteigert. Denn beide Tätigkeiten entstammen dem direkten häuslichen Zusammenhang. Das bedeutet: Innerhalb einer Familie verläuft die Scheidung zwischen denen, die zur Gemeinschaft mit Gott mitgenommen werden und denen, die von ihm getrennt sind.
Vers 42: Die Unvorhersehbarkeit des Zeitpunkts wird noch einmal betont. Es gibt kein Wissen über den Zeitpunkt, an dem die Unterscheidung stattfindet. Der Aufruf zur Wachsamkeit jedoch bietet einen Ausweg aus dem Bedrohungsszenario. „Wachen“ und „wachsam sein“ ist ein wesentlicher Begriff christlicher Sprache. Neben der wörtlichen Bedeutung des Wachbleibens (Getsemani), wird das Begriffsfeld vor allem im übertragenen Sinne verwendet. Dabei geht es um ein bestimmtes christliches Verhalten, das sich mal im Hinblick auf das Ende der Welt oder mal als allgemeine Haltung zeigt. Weil der Begriff den Lesern des Matthäusevangeliums offenbar bekannt ist, wird zunächst nicht weiter erläutert, welches Verhalten mit dem Aufruf zur Wachsamkeit genau gemeint ist. Allgemein formuliert könnte man sagen, dass „wach sein“ meint, in lebendiger Beziehung zu Christus zu stehen. Vor allem die weiteren Gleichnisse in Lk 24,45-25,46 werden dies ausdifferenzieren: Die Beziehung zu Christus zeigt sich im Verhalten gegenüber den Mitmenschen, dem Umgang mit dem Anvertrauten und in der Liebe zu den Geringsten.
Verse 43-44: Die Verbindung der Motive des Wachens und des Diebs zur Veranschaulichung der Dringlichkeit eines Verhaltens findet sich nicht nur hier im Matthäusevangelium. So spricht beispielsweise auch der 1. Thessalonicherbrief vom Tag des Herrn (Parusie), die kommt „wie der Dieb in der Nacht“ und mahnt: „darum wollen wir nicht schlafen“ (1. Thessalonicherbrief 5,1-6).
Das Gleichnis vom Hausbesitzer soll den Weckruf von Vers 42 begründen. Wenn der Zeitpunkt des Einbruchs bekannt ist, bleibt der Mann wach, um sein Haus und sich vor Schaden zu bewahren. Der daraus gefolgerte Appell (Vers 44) nimmt das Thema der Wachsamkeit mit dem Begriff der Bereitschaft wieder auf. Zugleich erscheint er auf den ersten Blick paradox. Das Beispiel aus Vers 43 zeigte ja, dass man sich nicht gegen einen unbekannten Zeitpunkt wappnen kann. Nun sollen sich die Jünger bereit halten für eine Stunde, die sie nicht kennen.