Das Gebot der Liebe und das erneute Scheitern der Pharisäer.
1. Verortung im Evangelium
Das Matthäusevangelium (Mt) erreicht mit dem Beginn von Kapitel 21 den letzten großen Schauplatz des Wirkens Jesu: Jerusalem. Nach seinem Einzug in die heilige Stadt (Mt 21,1-11) hatte Jesus in der Tempelreinigung (21,12-17) auf zwei wesentliche Aspekte seiner Sendung verwiesen: Er zeigt einerseits auf, wo das Wesentliche der Beziehung zu Gott in den Hintergrund rückt, um durch seine Verkündigung, eine Neuausrichtung des Lebens aufzuzeigen. Andererseits lässt er durch die ganz konkrete Zuwendung zu den Menschen, die Heilung von Lahmen und Blinden (21,14) den Kern der Botschaft (Liebe, Güte) sichtbar werden.
An die Tempelreinigung schließen sich ab 21,23 weitere Episoden an, die auf dem Tempelgelände spielen. So kommen die Hohepriester und Ältesten zu ihm und wollen wissen, mit welcher Vollmacht er lehrt und handelt. Als Antwort erzählt Jesus drei Gleichnisse: von den beiden Söhnen eines Weinbergbesitzers (Mt 21,28-32), von den bösen Winzern (21,33-44) und vom königlichen Hochzeitsmahl (Mt 22,1-14). In der Deutung der Gleichnisse entlarven die jüdischen Autoritäten sich selbst als diejenigen, die dem Ruf der Umkehr nicht gefolgt sind (Mt 21,32), die keine richtige Frucht bringen (Mt 21,41-43) und die Einladung Gottes ausschlagen (Mt 22,5-6).
In der Folge dieser Auseinandersetzungen kommt es zu wiederholten Versuchen der Pharisäer, Jesus eine Falle zu stellen. Der Evangelist Matthäus nimmt damit sowohl Bezug auf den Tötungsbeschluss aus Mt 12,14 als auch auf den Wunsch, Jesus zu ergreifen, den sie aus Furcht vor der Menge bisher nicht in die Tat umsetzen (Mt 21,46). Direkt vor der Perikope (Erzählabschnitt) berichtet der Evangelist Matthäus von einem Dialog zwischen Sadduzäern und Jesus zur Frage nach der Auferstehung.
2. Aufbau
Vers 34 stellt eine Verbindung der pharisäischen Frage zur davorliegenden Szene mit den Sadduzäern her. Die Verse 35 und 36 erweitern die grundlegende Einordnung der Szene, indem sie mit dem Gesetzeslehrer den Akteur vorstellen, der dieses Mal mit einer Frage an Jesus herantritt. Die Antwort Jesu umfasst die Verse 37-40 und reagiert nicht nur auf die Fangfrage des Gesetzeslehrers, sondern setzt Frage und Antwort in einen größeren Kontext.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 34-36: Vers 34 knüpft an Mt 22,15 und den dort gefassten Beschluss der Pharisäer, Jesus eine Falle zu stellen an. Die Episode mit den Sadduzäern (Mt 22,23-33) bleibt so ein Intermezzo zwischen den Anläufen der Pharisäer, Jesus zu einer für ihre Zwecke verwertbaren Aussage herauszufordern. Also tritt ein Gesetzeslehrer aus den Reihen der Pharisäer vor und stellt Jesus eine eigentlich nicht sonderlich spektakuläre Frage. Denn die Überlegung, welches Gebot das Wesentlichste ist, zeugt erst einmal von der Auseinandersetzung mit den Geboten und ihrer Verhältnisbestimmung zueinander und entspricht der Tradition jüdischer Gelehrsamkeit. Der nähere Kontext dieser Frage hier im Matthäusevangelium deutet jedoch darauf hin, dass die Frage dazu gedacht ist, den Konflikt zwischen den Pharisäern und Jesus zu verschärfen. Denn über die Auslegung von Gesetzesvorschriften in konkreten Lebenssituationen gab es bereits zuvor Differenzen. So zum Beispiel bei der Frage nach einer Heilung am Sabbat in Mt 12,9-14, die in den Tötungsbeschluss mündet. Es geht dem Gesetzeslehrer bei seiner Frage nicht um die gemeinsame Suche nach dem Umgang mit den Gesetzen, sondern um eine Äußerung Jesu, die sein „falsches“ Verhältnis zu den Gesetzen so offenkundig macht, dass die Pharisäer eine Anklage auch vor dem Volk rechtfertigen können.
Verse 37-40: Wie bei den vorherigen Versuchen misslingt es den Pharisäern auch diesmal, Jesus mit einer Frage in Bedrängnis zu bringen. Vielmehr antwortet Jesus unter Verwendung zweier Schriftzitate so geschickt, dass der Versuch der Pharisäer, Gottesliebe und Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten gegeneinander auszuspielen, offenkundig wird. Zunächst greift Jesus auf die Formulierung des Gebots zur Gottesliebe im Buch Deuteronomium (Dtn 6,5) zurück. Allerdings nutzt der Evangelist Matthäus entsprechend einer Variante aus der griechisch-sprachigen Überlieferung des Alten Testaments, der Septuaginta, bei dem letzten Glied der Umschreibungen statt „mit ganzer Kraft“ die Formulierung „mit ganzem Denken“. Das Voranstellen der Gottesliebe entkräftet den unausgesprochenen Vorwurf der Pharisäer, dieses Gebot zugunsten der Barmherzigkeit abzuwerten. Jesus stellt der Gottesliebe aber im gleichen Atemzug die Nächstenliebe zur Seite als zweiten Ausgangspunkt aller weiteren Gesetze und deren Auslegung durch die Propheten. Bei der Formulierung des Gebots der Nächstenliebe nimmt der Evangelist auf das Buch Levitikus (Lev 19,18b) Bezug.