Geteilte Güte bleibt volle Güte oder: Warum es keinen Grund gibt, Gott ins Handwerk zu pfuschen.
1. Verortung im Evangelium
Die Erzählung vom Wirken und Verkündigen Jesu im Matthäusevangelium (Mt) stand zu Beginn ganz im Zeichen der verschiedenen Facetten der Sendung Jesu. So wurde Jesus in Mt 4,17-11,1 als Lehrer Israels und Messias gezeigt. Mit der Aussendung der Jünger in Mt 10,5-15 haben diese Anteil am Wirken Jesu. Der Abschnitt ab Mt 11,2 steht unter der Frage nach dem richtigen Verständnis der Person und des Handelns Jesu. Den Höhepunkt dieser Erzählungsreihe bildet die Frage Jesu an seine Jünger: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ und der Antwort des Petrus: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!“ (Mt 16,13-20).
Seit Mt 16,21 sind die Erzählungen des Evangeliums geprägt von der Perspektive des kommenden Leidens Jesu. Denn ab Mt 16, 21 zieht Jesus mit den Jüngern südwärts und damit etappenweise auf Jerusalem und die Passion hin. Auf diesem letzten Wegabschnitt geht es für die Jünger einerseits darum, auch die kommenden Ereignisse als Teil der Sendung Jesu zu verstehen. Andererseits werden sie noch einmal tiefer in die Botschaft vom Himmelreich eingeführt.
Mit Mt 19,1 verlässt Jesus Galiläa und zieht nun durch Judäa, die Begegnungen unterwegs geben den Worten Jesu immer wieder neue Akzente. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg ist geprägt durch die vorangehende Begegnung mit einem reichen Jüngling (Mt 19,16-22) und der anschließenden Unterhaltung mit den Jüngern (Mt 19,23-30). Diese endete mit der Mahnung: „Viele Erste werden Letzte sein und Letze Erste“, die auch das Gleichnis abschließt. Thematisch geht es um die Frage, wie eine bestimmte Verhaltensweise im Himmelreich entlohnt wird.
2. Aufbau
Die Verse 1-2 leiten das Gleichnis ein und schildern die Ausgangssituation (Anwerben von Arbeitern am Morgen), die in den Versen 3-7 durch weitere konkrete Situationen ergänzt wird (Anwerben von Arbeitern in der 3., 6., 9. und 11. Stunde). Vers 8 leitet über zur Auflösung der Situation, die in zwei Anläufen erfolgt: Verse 9-12 (Reaktion der Arbeiter) und Verse 13-15 (Reaktion des Gutsbesitzers). Vers 16 rundet das Gleichnis ab, schlägt aber zudem den Bogen zurück zu Mt 19,30 und beendet die Auseinandersetzung mit dem Thema „himmlische Entlohnung“ (vorerst).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1-2: Das Gleichnis wird als Himmelreich-Gleichnis eingeleitet, womit das Thema des reichen Jünglings (Mt 19,16: „Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“) wieder aufgenommen wird. Die Vergleichssituation wirkt zunächst alltäglich: Ein Weinbergbesitzer sucht zusätzliche Arbeiter, was gerade in arbeitsintensiven Zeiten vollkommen normal war, und geht dazu morgens auf den Markt, um Tagelöhner anzuheuern. Die vereinbarte Entlohnung ein Denar für einen Tag ist transparent. Sie ist ein üblicher, wenn auch nicht besonders hoher Preis und ist so bemessen, dass sie die alltäglichen Ausgaben deckt.
Verse 3-7: Nun wiederholt sich das Anwerbeverfahren zunächst drei Mal im drei Stunden Takt. Auch um die 3., 6. und 9. Stunde werden Arbeiter angeheuert. Wurde denen in Vers 4 angekündigt, einen gerechten Lohn zu bekommen, heißt es bei den beiden folgenden Gruppen nur, dass er mit ihnen ähnlich verfährt. Bereits jetzt ist die Situation aus dem Alltäglichen herausgehoben, indem mehrfach Arbeiter angeworben werden. Die Beschreibung des Lohns als „gerecht“ und die Taktung, in der die Arbeiter angeworben werden, lenkt auf die Annahme hin, dass der Ausgangslohn von einem Denar der Verkürzung der Arbeitszeit entsprechend verkleinert wird. Denn „gerecht“ ist ein Lohn, der sich an der Arbeitszeit oder der Leistung ausrichtet.
Spätestens mit der Anwerbung der letzten Gruppe um die 11. Stunde fällt das Gleichnis aus einem realistischen Rahmen heraus. Wer in der 11. Stunde anfängt zu arbeiten, hat nur noch eine Stunde vor sich. Nicht nur die Uhrzeit und verbleibende Arbeitszeit lenkt aber den Blick auf diese letzte Gruppe, sondern auch ihre Ansprache. Der Evangelist bezeichnet sie als diejenigen, die niemand wollte: „Niemand hat uns angeworben“, sie sind also die Übriggebliebenen oder Schwervermittelbaren.
Vers 8: Am Ende des Tages steht die Entlohnung an, die durch den ansonsten nicht in Erscheinung getretenen Verwalter vorgenommen wird. Er handelt explizit auf Weisung des Weinbergbesitzers, wenn er den Lohn von einem Denar auszahlt und zwar beginnend bei den Arbeitern der letzten Stunde. Auf diese Weise werden die übrigen Arbeiter Zeuge der Lohnverteilung und der Leser ist gespannt, wer nun wieviel erhält – immer ausgehend von der Überzeugung, dass der Lohn der Arbeitszeit angepasst wird. Durch die Verwendung von „Erste“ und „Letzte“ wird einerseits die Zuspitzung auf diese beiden Gruppen angebahnt und zugleich an Mt 19,30 erinnert.
Verse 9-12: Die Arbeiter der 11. Stunde werden wie angekündigt zuerst entlohnt und erhalten den Tagesbetrag von einem Denar. Dies weckt die Erwartung bei den Ersten, einen prozentual höheren Lohn zu erhalten, die dann enttäuscht wird. Ihr „Murren“ ruft Erzählungen aus der Wüstenzeit Israels in Erinnerung, wenn das Volk gegen Gott und Mose murrt. Ihre Einlassung gegenüber dem Gutsherrn zeigt, dass sie die Gleichstellung der Letzten mit ihnen, die die Ersten für unberechtigt halten – weil sie für ihre höhere Leistung (längere Zeit) und die erlittene Härte der Arbeit (Mittagshitze) nicht entsprechend gewürdigt werden.
Verse 13-15: Der Gutsbesitzer erwidert einem aus der ersten Gruppe nun persönlich und spricht ihn mit „Freund“ an, was im Matthäusevangelium eine distanzierte Form der Anrede darstellt (vgl. Mt 22,12 und 26,50). In seiner Antwort geht er nicht auf die Argumente der Kritik ein, sondern nimmt die Tatsache des Vergleichens in den Blick. Der Arbeiter hat erhalten, was vereinbart war. Es gibt von Seiten des Gutsbesitzers keinen Vertragsbruch. Zum Problem wird nicht die Handlung des Besitzers, sondern die vergleichende Haltung des Arbeiters, der sich zudem in etwas einmischt, was ihn nicht betrifft. Die beiden Fragen in Vers 15 bleiben unbeantwortet und die Erzählung des Gleichnisses bricht ab, ohne dass die Leser erfahren, wie der Arbeiter reagiert. Mit der Rede vom „bösen Auge“ hallt die Frage nach der Missgunst des Arbeiters gegenüber denen der 11. Stunde in besonderer Weise nach. War von Beginn an klar, dass der Gutsbesitzer für Gott steht, wird dies mit der Aussage „weil ich gut bin“ noch betont; denn „gut“ ist die wesentliche Eigenschaft Gottes.
Vers 16: Das Wort von den Letzten und den Ersten greift nur teilweise das Geschehen des Gleichnisses direkt auf. Denn die Letzten werden bei der Entlohnung zwar wie die Ersten behandelt, aber Entlohnung wird für die Ersten nicht umgekehrt. Aufgrund von Gottes Güte, die jedem, das Notwendige (= das Gerechte) zuteilwerden lässt, erhalten die Letzten genauso viel wie die Ersten. Die Ersten aber werden weniger durch die Verteilung zu Letzten, als sie sich durch ihre Missgunst oder ihren Neid selbst ins Abseits stellen.