Schlüsselgewalt. Petrus als Sprecher der Apostel und Grundpfeiler der nachösterlichen Verkündigung.
1. Verortung im Evangelium
Mit Kapitel 11 des Matthäusevangeliums (Mt) beginnt eine Phase des Wirkens Jesu, die stark geprägt ist von der Frage nach dem richtigen Verständnis des Wirkens Jesu. Der Evangelist lässt daher zwischen Mt 11,2-16,20 verschiedene Situationen eintreten, in denen die unterschiedlichen Reaktionen von Menschen auf die Verkündigung Jesu gezeichnet werden. Es beginnt mit der Frage Johannes des Täufers in Mt 11,2: „Bist du der, der kommen soll?“, die nicht nur den Abschnitt einleitet, sondern zugleich deutlich macht, dass die Menschen von einer Sehnsucht angetrieben werden. Sie suchen nach Halt und Orientierung und strecken sich aus nach dem in den Schriften verheißenen Messias, der dem politisch unterdrückten Volk neue Hoffnung gibt. Die Suche nach dem Verstehen Jesu führt über Streitgespräche mit den religiösen Autoritäten (Pharisäer und Schriftgelehrte, z.B. Mt 15,1-6), über die exklusive Unterweisung der Jünger über das Himmelreich (Mt 13,36-53) und vollmächtiges Wirken (Mt 14,13-36). Den Höhepunkt dieser Erzählungsreihe bildet die Frage Jesu an seine Jünger: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ Trotz des klaren Bekenntnisses der Jünger durch Petrus, wird diese Frage auch die folgenden Erzählungen weiter durchziehen.
2. Aufbau
Vers 13a bietet seine knappe Einführung in die Szene. In den Versen 13b-14 wird die erste Frage Jesu an die Jünger und deren Antwort geschildert. Dabei geht es zunächst darum, dass die Jünger wiedergeben, was die Menschen, also „die Volksmenge“, von ihm denkt. In Vers 15-16 stellt Jesus den Jüngern die Frage direkt und erhält von Petrus eine Antwort. In den Versen 17-19 reagiert Jesus auf die Antwort des Petrus. Vers 20 schließt die Erzählung mit einem Schweigebefehl ab.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 13a: Mit Cäsarea Philippi ist Jesus am nördlichsten Punkt seiner Route angekommen. Mit dem Ende der Erzählung (Mt 16,21) wandert Jesus südwärts und damit Jerusalem entgegen.
Verse 13b-14: Mit einem Wortspiel fragt Jesus die Jünger danach, wie das Volk über ihn denkt. Er möchte die Meinung der Menschen über den Menschensohn wissen. Diese Bezeichnung für Jesus verwendet Matthäus immer dort, wo das Leben und Wirken Jesu in seiner gesamten zeitlichen Dimension (Geburt bis Wiederkunft) im Blick ist. Der Titel des „Menschensohn“ ist durch die alttestamentliche Überlieferung geprägt und der Gemeinde des Matthäus bekannt. In der Verwendung „Menschensohn“ auf Jesus hin, ruft Matthäus die Hoffnung auf eine heilbringende, aber auch richtende Gestalt in Erinnerung und verbindet sie mit der Erfahrung des Wirkens Jesu. Die Jünger sind mit dieser Bezeichnung als Titel Jesu offenbar vertraut, denn sie können ohne Probleme darauf antworten. Dabei erinnert die Frage Jesu an die des Täufers in Mt 11,2. Der Evangelist Matthäus spielt zusätzlich damit, indem er die Jünger als erste Antwort die Meinung wiedergeben lässt, er würde von einigen als wiedergekommener Johannes der Täufer gesehen. Damit wird die Ansicht des Herodes in Mt 14,2 aufgenommen, die nun aber von der Einzelmeinung zu einer Gruppenmeinung wird. Wie Johannes in die Reihe der Propheten gehört, so auch die anderen Gestalten, die die Jünger anführen: Elija, der von Gott auf einem Feuerwagen entrückt wurde (2. Buch der Könige 2,11) oder Jeremia. Neben dieser direkten Zuordnung gilt aber die grundsätzlich die Einschätzung des Volkes: Jesus gehört in die Reihe der Propheten!
Interessant ist, dass Matthäus als einzige neutestamentliche Schrift, den Propheten Jeremia explizit erwähnt. Dies könnte in der grundsätzlich kritischen Haltung des Propheten gegenüber den religiösen Führern seiner Zeit begründet sein. Der Evangelist Matthäus setzt in seiner Darstellung der Jesusgeschichte einen besonderen Akzent auf die Auseinandersetzung Jesu mit ebendiesen Autoritäten seiner Zeit. So wie Jeremia die schlechte Führung Israels durch die falschen Hirten bemängelt (Jeremia 10,21), so spricht Jesus von den erschöpften und orientierungslosen Menschen (Mt 9,36).
Verse 15-16: Die allgemeine Frage Jesu bereitet die eigentliche Rückfrage an die Jünger nur vor. Ihre Einschätzung ist wichtig, weshalb „ihr aber“ in der Frage auch betont ist. Nach der direkten Auslegung der Gleichnisse und den letzten Vollmachtstaten sollten die Jünger zu einer differenzierteren Sicht auf das Wirken Jesu gekommen sein als das die übrigen Menschen. Wie in Mt 15,15 ist Petrus der Sprecher der Jünger. Den Doppelnamen „Simon Petrus“ benutzt der Evangelist nur hier, sonst spricht er immer von „Petrus“. Angesichts der Erklärung des Beinamens „Petrus“, erscheint es ihm hier aber hilfreich, den eigentlichen Namen „Simon“ noch einmal einzuführen.
Die Antwort des Petrus enthält ein doppeltes Bekenntnis: Zum einen identifiziert er Jesus als den Christus und damit als den ersehnten Retter Israels. Zum anderen erweitert er diese Zuschreibung um die Aussage „Sohn des lebendigen Gottes“. Dies ruft das Bekenntnis der Jüngergemeinde in Mt 14,3 in Erinnerung. Dort hatten die Jünger angesichts des Seewandels Jesu und seiner Rettung des Petrus bekannt: „Wahrhaftig, Gottes Sohn bist du.“ Durch diese direkte Aufnahme der „allgemeinen“ Jüngermeinung wird noch einmal unterstrichen, dass es nicht so sehr um ein persönliches Bekenntnis des Petrus, sondern vielmehr um ein neu qualifiziertes Bekenntnis der Jünger durch ihren Sprecher Petrus geht. Bereits am Anfang des Evangeliums hatte Matthäus für Jesus sowohl den Titel „Davidssohn“ wie auch den Titel „Gottesssohn“ eingeführt (Mt 1,18-25). Der Evangelist macht deutlich, dass auf Jesus beide Zuschreibungen zutreffen: Er ist einerseits „Sohn des Volkes“ (aus dem Stamm David), aus dem der Verheißung nach der Messias, der Retter, hervorgehen soll. Andererseits ist „Gottessohn“ eine Qualifizierung, die alle bisherigen Kategorien durchbricht. Dies zeigt sich sowohl in den „messianischen“, weil heilsbringenden Taten Jesu (vgl. Mt 11,4-5), als auch in den besonderen Vollmachtstaten Jesu wie der Speisung der 5000 oder dem Seewandel. Weil gerade die letzte Kategorie von Taten Jesu vornehmlich den Jüngern offenbar wurde, ist die Identifizierung Jesu als Gottessohn auch etwas, was sich nur ihnen erschließt.
Petrus spricht an dieser Stelle also stellvertretend für den Jüngerkreis ein Bekenntnis aus, das auch nur dieser so formulieren kann: Jesus ist der langersehnte Retter aus dem Hause Davids, der aber nicht nur Sohn Israels ist, sondern alle bisherigen Denkmuster überschreitet, weil er auch „Sohn des lebendigen Gottes“ und damit von nicht-menschlicher Abstammung ist. Petrus bekennt somit, dass Jesus menschliche und göttliche Heilsbringerqualitäten in sich vereint. Dass diese Erkenntnis noch weiter reifen muss, werden folgende Erzählungen zeigen.
Verse 17-19: Auf der Grundlage des Bekenntnisses wendet sich Jesus nun exklusiv dem Petrus zu. Die Seligpreisung des Petrus ist weniger in seiner eigenen Erkenntnisleistung begründet („Fleisch und Blut“) als in der Offenbarung durch den Vater (vgl. Mt 11,25-27). Dies verweist zurück auf das besondere Verständnis der Jünger, wie es sich auch in Mt 13,16 abzeichnete.
Obwohl Petrus zunächst als Sprecher der Jünger im Blick ist, wird nun eine persönliche Aussage über ihn berichtet, die jedoch zugleich in den Kontext des Jüngerkreises gehört. Jesus spricht Simon den Namen „Petrus“, Fels, offiziell zu und qualifiziert ihn damit als Grundlage für ein kommendes („werde ich“) Geschehen. In der Gemeinschaft der Menschen, die – wie jetzt die Jünger – Jesus als Gottessohn erkennen und bekennen, wird Petrus eine besondere Rolle einnehmen. Deshalb „werden ihm“ (für diese zukünftige Situation) auch bestimmte Aufgaben zugeschrieben. Petrus erhält die „Schlüssel zu Himmelreich“ insofern, als damit die Aufgabe verbunden ist, die Lehre Jesu authentisch weiterzugeben. „Lösen und binden“ sind im Vokabular des zeitgenössischen Judentums des Matthäus Vokabeln für „erlauben und verbieten“ und damit für Auslegungen der Tora. Petrus soll also in Zukunft – nach Ostern und damit in der Nachfolge Jesu – durch seine Auslegung der Tora und der Weisungen Jesu den Menschen den Zugang ins Himmelreich eröffnen. Verschlossen wird das Himmelreich weniger durch Petrus selbst als durch die Menschen, die sich seiner Auslegung verweigern. Die Zusage an Petrus und die Beschreibung seiner zukünftigen Aufgaben ist aber im Kontext von Mt 23,8-12 zu lesen. Damit wird die besondere Aufgabe des Petrus zugleich rückgebunden an die eigentliche Lehrfunktion Jesu selbst.
Verse 20: Aufgrund der Exklusivität der Erkenntnis der Jünger, dass Jesus der Gottessohn ist – dies hat ihnen der Vater offenbart, indem er sie die wirkliche Vollmacht Jesu erkennen ließ – ist der Schweigebefehl nicht verwunderlich. Er wird noch weiter erklärt durch die folgenden Erzählungen, in denen auch die Jünger ihr Verständnis erst richtig realisieren und verinnerlichen müssen (Mt 16,21-23).