Lesejahr B: 2023/2024

Evangelium (Mk 4,35-41)

35Am Abend dieses Tages sagte er zu ihnen: Wir wollen ans andere Ufer hinüberfahren.

36Sie schickten die Leute fort und fuhren mit ihm in dem Boot, in dem er saß, weg; und andere Boote begleiteten ihn.

37Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm und die Wellen schlugen in das Boot, sodass es sich mit Wasser zu füllen begann.

38Er aber lag hinten im Boot auf einem Kissen und schlief. Sie weckten ihn und riefen: Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?

39Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich und es trat völlige Stille ein.

40Er sagte zu ihnen: Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?

41Da ergriff sie große Furcht und sie sagten zueinander: Wer ist denn dieser, dass ihm sogar der Wind und das Meer gehorchen?

Überblick

Wellenbrecher und Sturmstiller. Einmal mehr überrascht die Vollmacht Jesu auch die eigenen Jünger.

1. Verortung im Evangelium
Der Evangelist Markus unternimmt es als erster eine Jesuserzählung zu schreiben und die zuvor meist mündliche Überlieferung zu einer fortlaufenden Geschichte zusammenzustellen. Das Markusevangelium (Mk) entsteht kurz nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n.Chr.) im Jüdischen Krieg. Der Verfasser ist unbekannt, auch wenn es innerhalb der kirchlichen Tradition eine Verbindung zu Markus einem Judenchristen hellenistischer Herkunft gibt. Dieser ist einerseits Paulusbegleiter (Apostelgeschichte 12,12) und andererseits Vertrauter des Petrus (1. Petrusbrief 5,13).
Das Markusevangelium beginnt in der Wüste (Mk 1,1-13) mit dem Auftreten des Täufers und der Taufe Jesu. Dann schildert es den Beginn der Verkündigung Jesu in Galiläa (Mk 1,14-8,26) und den Weg nach Jerusalem (Mk 8,27-10,52) und endet mit den Ereignissen in Jerusalem (Mk 11,1-16,20). Das ursprüngliche Ende des Evangeliums war die Begegnung der Frauen mit dem Engel am leeren Grab (Mk 16,8). Die Erweiterung um die Erscheinungserzählungen sind später hinzugefügt worden (Mk 16,9-20).
Der Abschnitt Mk 4,35-41 schließt unmittelbar an die Gleichnisrede Jesu (Mk 4,1-34) an und eröffnet eine Reihe von Wundererzählungen.

 

2. Aufbau
Vers 35 schafft einen Anschluss der Seesturm-Erzählung zur vorangegangenen Gleichnisrede. Vers 36 erweitert die Exposition der Szene. Die Verse 37-39 schildern die wundersame Stillung des Seesturms. Die Verse 40-41 berichten von einer doppelten Reaktion auf das Ereignis: einen Tadel Jesu an die Jünger und deren Staunen.

3. Erklärung einzelner Verse

Verse 35-36: „Dieser Tag“ auf den sich der Evangelist Markus bei der Einleitung in die Seesturm-Erzählung beruft, ist der Tag, der mit Mk 4,1 begann und an dem Jesus zu der Volksmenge und den Jüngern in Gleichnissen über das Geheimnis des Gottesreiches sprach. Mk 4,33-34 hatte betont, dass Jesus den Jüngern „alles erklärte“, der Menge aber so verkündigte „wie sie es aufnehmen konnten“. Die damit getroffene Unterscheidung zwischen der Volksmenge und den Jüngern setzt sich in der Einleitung zum Seesturm fort. Jesus ergreift die Initiative, die Seeseite zu wechseln. Die Jünger bleiben bei ihm, die „Leute“ werden fortgeschickt. So wird ein exklusiver Moment zwischen Jesus und denjenigen geschaffen, die von ihm „alles erklärt“ bekommen und immer bei ihm sind.
Wichtig ist: Es sind nicht nur die 12 Apostel, die Jesus begleiten. Sie sind als diejenigen zu denken, die mit ihm im selben Boot sind, die weiteren Boote bieten der erweiterten Jüngerschar Platz, spielen aber im weiteren Verlauf der Erzählung keine Rolle.

 

Verse 37-39: Die Dramatik der Situation wird vom Umfang her knapp, aber doch eindringlich geschildert. Nicht nur das unvermittelte Einsetzen des Sturms („plötzlich“), sondern auch die doppelte Schilderung, dass ein „heftiger Wirbelsturm“ entsteht und „die Wellen ins Boot schlugen“ dramatisiert die Situation. Im Kontrast zu den existentiell bedrohlichen Ereignissen wird Jesus selbst beschrieben: Er liegt im Boot und schläft – nicht vor Erschöpfung, sondern in Sicherheit. Die Erwähnung des Kissens, auf dem Jesus ruht, spitzt sie Szene zusätzlich zu. Jesus ist entspannt, die Jünger angespannt. Sie sehen keine andere Chance als Jesus zu wecken. Ihre Frage an Jesus beinhaltet einen eindeutigen Vorwurf: „Kümmert es dich nicht?“. Die Anrede „Meister“ wird hier das erste Mal von den Jüngern im Markusevangelium verwendet. Die Umschreibung der Szene mit „zugrunde gehen“ verdeutlicht die unterschiedliche Wahrnehmung der Situation zwischen Jesus und den Jüngern.

Jesus antwortet nicht den Jüngern, sondern spricht direkt das wundertätige Wort. Wind und See werden persönlich angesprochen, die Wortwahl „schweig, sei still“ erinnert an Exorzismusgeschichten wie in Mk 1,25. Zugleich stehen die Worte Jesu im Kontext alttestamentlicher Gottesvorstellungen, in denen er allein der Bändiger der Urgewalten ist (vgl. Psalm 107,28-29; Psalm 69,2-3.15-16). So drastisch die Bedrohung durch Wind und Wasser in Vers 37 beschrieben wurden, so deutlich ist das Ergebnis des wunderwirkenden Wortes Jesu dargestellt („völlige Stille“).

 

Verse 40-41: Nun gehen Jesus und die Jünger das erste Mal in den direkten Dialog. Ähnlich direkt wie der Vorwurf der Jünger an Jesus ist der Tadel aus dem Mund Jesu. Er fragt nach dem Grund ihrer Angst – schließlich ist er doch bei ihnen. Und mit „Warum habt ihr noch keinen Glauben?“ klagt er ihren vermeintlichen Unglauben an. Einige griechische Textzeugen bieten die Variante „Warum habt ihr keinen Glauben?“ und setzen die Klage damit noch deutlicher ein.
Die Reaktion der Jünger ist eine doppelte: Ihre Furcht und ihre Frage („wer ist dieser?“) zeigen ihr Ringen um ein richtiges Verständnis und zugleich ihre Anerkenntnis der Macht Jesu, die sie gleichwohl noch nicht eindeutig einordnen können.

Auslegung

Jesus geht seine Jünger nach der Stillung des Sturms sehr direkt an. Vielleicht schwächt die von der Einheitsübersetzung gewählte Textvariante „Warum habt ihr noch keinen Glauben?“ die Anklage Jesu nicht ab, sondern profiliert sie eher. Gerade nach den vorangegangenen Unterweisungen Jesu explizit an die Jünger, denen er „alles erklärte, wenn er mit ihnen allein war“ (Mk 4,34), und den Erlebnissen in Kafarnaum (u.a. Heilungen eines Aussätzigen und eines Gelähmten, vgl. Mk 1,40-45 und 2,1-12), sollte diese doch schon ein größeres Verständnis der Vollmacht Jesu erlangt haben. Die Frage Jesu nach dem Grund ihrer Angst und ihrem fehlenden Glauben ist also durchaus verständlich.
Gleichzeitig spiegelt sich in der Situation wieder, wie verständnisüberschreitend das ist, was die Jünger mit Jesus erleben. Während sie selbst in Existenzängsten auf die Naturgewalten schauen, schläft Jesus seelenruhig und am Ende genügt ein einziges Wort, um der Bedrohung ein Ende zu bereiten. Die göttlichen Kräfte Jesu und seine Vollmacht gegenüber allen Mächten, Dämonen wie Naturgewalten, überfordern selbst die Jünger in diesem Moment. Das erstaunte Sprechen „zueinander“ und die verwunderte Frage der Jünger am Ende bringt dies zum Ausdruck: „Wer ist denn dieser?“ Die Jünger sind auf einem langen Weg, diese Frage nicht nur zu beantworten, sondern auch aus der Antwort heraus zu leben. In Mk 8,27-33 wird Petrus die Frage Jesu „Für wen haltet ihr mich?“ beantworten mit „Du bist der Christus!“. Es ist die Erfahrung der Vollmacht Jesu, sein Zugehen auf die Menschen, seine wirkmächtigen Worte und Taten, die das Bekenntnis des Petrus begründen. Doch nur wenige Sätze später zeigt sich, dass Petrus noch nicht in der Lage ist, dieses Bekenntnis selbst mit Leben zu füllen: Er weist Jesus zurecht, nicht von seinem zukünftigen Schicksal zu sprechen. Und Petrus ist nicht allein mit seinen Schwierigkeiten, das Bekenntnis, das in der Erfahrung begründet ist, auch in die Tat umzusetzen. Direkt nach der zweiten Leidensankündigung in Mk 9,30-32 streiten die Jünger darüber, wer der Größte sei. Und in der Passionserzählung werden allen Beteuerungen zum Trotz die Jünger fliehen und nicht bei Jesus sein, wenn dieser seine schwierigsten Stunden durchlebt.
Hier am See Gennesaret, noch relativ am Anfang des gemeinsamen Weges, sind die Jünger überrumpelt von den Ereignissen: Ihr „Meister“ schläft, während sie unterzugehen drohen. Und dann bringt er mit einem Wort Wind und Wellen zum Schweigen. Ihr Glauben ist im Moment wirklich noch nicht in der Lage, all das zu verstehen. Aber sie sind bereit, ihn wachsen zu lassen und mit neuen Erfahrungen zu erweitern, so dass er nach Ostern in Tat und Zeugnis mündet.

Kunst etc.

Rembrandt van Rijn, Christus im Sturm auf dem See Genezareth (1633)