Lesejahr B: 2023/2024

Evangelium (Mk 3,20-35)

20Jesus ging in ein Haus und wieder kamen so viele Menschen zusammen, dass sie nicht einmal mehr essen konnten.

21Als seine Angehörigen davon hörten, machten sie sich auf den Weg, um ihn mit Gewalt zurückzuholen; denn sie sagten: Er ist von Sinnen.

22Die Schriftgelehrten, die von Jerusalem herabgekommen waren, sagten: Er ist von Beelzebul besessen; mit Hilfe des Herrschers der Dämonen treibt er die Dämonen aus.

23Da rief er sie zu sich und belehrte sie in Gleichnissen: Wie kann der Satan den Satan austreiben?

24Wenn ein Reich in sich gespalten ist, kann es keinen Bestand haben.

25Wenn eine Familie in sich gespalten ist, kann sie keinen Bestand haben.

26Und wenn sich der Satan gegen sich selbst erhebt und gespalten ist, kann er keinen Bestand haben, sondern es ist um ihn geschehen.

27Es kann aber auch keiner in das Haus des Starken eindringen und ihm den Hausrat rauben, wenn er nicht zuerst den Starken fesselt; erst dann kann er sein Haus plündern.

28Amen, ich sage euch: Alle Vergehen und Lästerungen werden den Menschen vergeben werden, so viel sie auch lästern mögen;

29wer aber den Heiligen Geist lästert, der findet in Ewigkeit keine Vergebung, sondern seine Sünde wird ewig an ihm haften.

30Sie hatten nämlich gesagt: Er hat einen unreinen Geist.

31Da kamen seine Mutter und seine Brüder; sie blieben draußen stehen und ließen ihn herausrufen.

32Es saßen viele Leute um ihn herum und man sagte zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und suchen dich.

33Er erwiderte: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?

34Und er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder.

35Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.

Überblick

Teufelspakt? Die Anklage im heutigen Evangelium gegen Jesus zeigt wie wenig die Menschen Gottes Wirken unter ihnen für möglich halten.

1. Verortung im Evangelium
Der Evangelist Markus unternimmt es als erster eine Jesuserzählung zu schreiben und die zuvor meist mündliche Überlieferung zu einer fortlaufenden Geschichte zusammenzustellen. Das Markusevangelium (Mk) entsteht kurz nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n.Chr.) im Jüdischen Krieg. Der Verfasser ist unbekannt, auch wenn es innerhalb der kirchlichen Tradition eine Verbindung zu Markus einem Judenchristen hellenistischer Herkunft gibt. Dieser ist einerseits Paulusbegleiter (Apostelgeschichte 12,12) und andererseits Vertrauter des Petrus (1. Petrusbrief 5,13).
Das Markusevangelium beginnt in der Wüste (Mk 1,1-13) mit dem Auftreten des Täufers und der Taufe Jesu. Dann schildert es den Beginn der Verkündigung Jesu in Galiläa (Mk 1,14-8,26) und den Weg nach Jerusalem (Mk 8,27-10,52) und endet mit den Ereignissen in Jerusalem (Mk 11,1-16,20). Das ursprüngliche Ende des Evangeliums war die Begegnung der Frauen mit dem Engel am leeren Grab (Mk 16,8). Die Erweiterung um die Erscheinungserzählungen sind später hinzugefügt worden (Mk 16,9-20).
Der Abschnitt Mk 3,20-35 schließt unmittelbar an die Auswahl der zwölf Apostel und deren namentliche Nennung in Mk 3,13-19 an. Zuvor hatte Jesus auf vielfache Weise seiner Vollmacht als Gottes Sohn Ausdruck verliehen. Er hatte Dämonen ausgetrieben, Kranke geheilt und mit den jüdischen Autoritäten diskutiert.

 

2. Aufbau
Der Evangeliumstext besteht aus drei Szenen, die miteinander verschachtelt sind. Markus verwendet diese Technik zum Beispiel auch bei der Erzählung von der Tochter eines Synagogenvorstehers und der Heilung einer kranken Frau (Mk 5,21-43). Hier wird ein Vorwurf der Familie Jesu (Verse 20-21) und die damit verbundene Frage nach der wahren Familie Jesu (Verse 31-35) unterbrochen durch den Vorwurf der Jerusalemer Schriftgelehrten und die Antwort Jesu (Verse 22-30).

 

3. Erklärung einzelner Verse

Verse 20-21: Das Haus, in dem sich Jesus aufhält, wird nicht genauer lokalisiert. Denkbar wäre, dass auch diese Szene in Kafarnaum spielt, dort war Jesus schon mehrfach in einem Haus/Häusern eingekehrt. In Mk 2,1-2 erzählt der Evangelist von einer Rückkehr Jesu nach Kafarnaum, die sofort die Menschenmassen anzieht. Die Darstellung in Vers 20 hat eine gewisse Parallelität. Der Andrang auf Jesus resultiert aus seiner „Lehre mit Vollmacht“ (Mk 1,22), sie verbindet die Verkündigung des Gottesreiches mit Zeichen der Wirkmacht Gottes.
Wer zur Gruppe der „Angehörigen“ (wörtlich: der Seinigen) gehört, wird erst in Vers 31 aufgelöst. Hier stehen zunächst nicht die Personen, sondern deren Ansinnen und Vorwurf im Vordergrund. Sie wollen Jesus zu sich zurückholen. Im Griechischen steht hier das Wort krateo (griechisch: κρατέω), es meint „sich bemächtigen“ oder auch „festhalten“ und wird im Markusevangelium mehrfach verwendet. Unter anderem wird es in der gesamten Passionserzählung benutzt, wenn es um den Plan und die Umsetzung der Gefangennahme Jesu geht (z.B. Mk 14,1 und 14,46). Die ganze Tragweite hinter dem Vorgehen der Angehörigen wird durch deren Einschätzung auf die Spitze getrieben. Sie halten ihn für besessen oder „von Sinnen“ und damit nicht zurechnungsfähig.

 

Vers 22: Hier zeigt sich, wie die Verschachtelung der Szenen die Dramatik verstärkt. Würde man erwarten, mehr von dem Ansinnen der Angehörigen Jesu zu erfahren, schwenkt der Blick um auf eine nächste Konfrontation. Jerusalem steht im Markusevangelium für den Ort, an dem Jesus zu Tode gebracht wird, die Stadt der Feindschaft gegen den Gottessohn. Mit den Schriftgelehrten hatte Jesus schon zuvor diskutiert (Mk 2,6-12) und war mit ihnen verglichen worden (Mk 1,22). Die sich anbahnende Konfrontation zwischen Jesus und ihnen (und den Pharisäern) ist den Lesern also bekannt. Wenn nun „Schriftgelehrte aus Jerusalem“ kommen, ballt sich quasi die gegnerische Front zusammen.
Dies entspricht auch den geäußerten Vorwürfen. Die Schriftgelehrten werfen Jesus zum einen vor, besessen zu sein. Hier verbindet sich die Szene mit der vorherigen. Zum anderen halten sie Jesus vor, er würde mit dem Satan selbst („Herrscher der Dämonen“) einen Pakt eingehen. Damit reagieren die Schriftgelehrten auf die Austreibung von Dämonen (wie zum Beispiel in der Synagoge in Kafarnaum). Sie halten ein solches Vorgehen nur für möglich, wenn Jesus selbst mit Satan gemeinsame Sache macht.

 

Verse 23-27: Die Anklage der Schriftgelehrten erfolgt offenbar nicht ins Angesicht Jesu, denn er „ruft sie zu sich“, um auf die Vorwürfe zu reagieren. Das Reden „in Gleichnissen“, das in Mk 4 das gesamte Kapitel prägen wird, ist eine Form Jesu, mit dem Volk und seinen Gegnern zu sprechen. Mit seinen Jüngern aber spricht er offen und ohne Bilder über das Reich Gottes (Mk 4,34).
In einem ersten Gedanken (Verse 23b-26) führt Jesus aus, was es bedeuten würde, wenn der Vorwurf der Schriftgelehrten stimmen würde: Es gäbe Aufstand im Reich der Dämonen. Wenn jemand mit Satans Hilfe Dämonen austreiben würde, wäre das Reich Satans in sich gespalten und dem Untergang geweiht. Diesen Gedanken führt Jesus im Bild der Familie, die in sich gespalten ist, fort. Auch dann wird die Familie keinen Bestand haben. Hier weißt die Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten voraus auf die Verse 31-35, wo die Frage nach Zusammengehörigkeit als Familie thematisiert wird. Vers 26 formuliert als Vorausschau das, was sich durch das vollmächtige Wirken Jesu durchsetzen wird: Der Satan wird seine Macht verlieren, „er kann keinen Bestand haben“.
Vers 27 schaut ebenfalls als kleines Gleichnis auf das Handeln Jesu und dessen Macht. In das Haus eines Starken kann nur jemand eindringen und etwas rauben, der stärker ist – auch wenn Markus diesen Begriff meidet – und den Hausherrn überwältigt und fesselt. Jesus erweist sich als der stärkere gegenüber dem Satan, wenn er Dämonen austreibt.

 

Verse 28-30: Mit der Einleitung „Amen“ wird deutlich gemacht, dass die folgenden Worte Jesu offenbarenden Charakter haben. Sie wollen eine göttliche Wahrheit verkünden, die nur er als Gottessohn den Menschen mitteilen kann. Zwei grundlegende Aussagen folgen: 1. Gottes Wille zur Vergebung ist umfassend („alle Vergehen und Lästerungen“). 2. Es gibt nur eine einzige Lästerung oder auch Leugnung, die niemals („in Ewigkeit keine Vergebung“) vergeben wird. Es ist die Lästerung gegen den Heiligen Geist. Der Heilige Geist ist Gottes Wirkmacht, er ist zugleich die Vollmacht, mit der Jesus seine Taten vollbringt, denn als Gottessohn ist er mit dem Geist verbunden, wie es sich in der Taufe Jesu zeigte (Mk 1,9-11). Wer also gegen die Wirkmacht spricht, die Jesus auszeichnet, lästert den Heiligen Geist und begeht ein Vergehen, das in Ewigkeit keine Vergebung findet. Um sicherzustellen, dass die Leser des Evangeliums die Klarheit der Worte Jesu und deren Anklage gegen die Schriftgelehrten richtig verstehen, ruft Vers 30 noch einmal deren Aussage in Erinnerung. Das diese Anschuldigung („er hat einen unreinen Geist“) derjenigen der Angehörigen ähnelt („er ist von Sinnen“) leitet über zu den folgenden Versen.

 

Verse 31-35: Der Blick schwenkt erneut um zum Haus, vor dem sich die Mutter Jesu und seine Brüder versammelt haben. Wegen der vielen Menschen innen (Vers 20), gehen sie nicht hinein, sondern lassen ihn herausrufen. Dieser Aufforderung kommt Jesus nicht nach. Stattdessen wird das Draußen und Drinnen nun zu einer klaren Trennlinie. Denn die folgenden wegweisenden Worte richtet Jesus an die Menschen im Haus, seine Jünger und viele Menschen aus dem Volk. „Zu ihm“ gehören diejenigen, die den Willen Gottes tun, also so handeln, wie Jesus es ihnen vormacht. Aus den Handelnden im Sinne Gottes konstituiert sich die „neuen Familie“ Jesu. Wer dazu gehört bestimmt nicht die Blutsverwandtschaft, sondern ein Handeln aus der gleichen Quelle, den Weisungen des Vaters Jesu.

Auslegung

Die enge Verbindung zwischen den drei zunächst eigenständig wirkenden Szenen wird durch den anklagenden Grundton geschaffen: Die Angehörigen Jesu halten ihn für nicht zurechnungsfähig, die Schriftgelehrten werfen ihm sogar einen Pakt mit dem Teufel vor. Jesus selbst erklärt nicht weniger deutlich, dass eine Zugehörigkeit zu ihm nur durch ein Handeln nach dem Willen Gottes möglich ist. Und wer sein Handeln nicht als ein Wirken aus dem Heiligen Geist heraus begreift, der macht sich einer unvergebbaren Sünde schuldig. So wohnt dem gesamten Text eine gewisse Rohheit im Umgang miteinander ein, der auch die Worte Jesu miteinschließt. 
Sehr früh im Verlauf des Evangeliums formieren sich hier im 3. Kapitel „die Frontlinien“ zwischen denen, die zu Gegnern Jesu werden und denen, die „die Seinigen“ werden. Kriterium für die Zugehörigkeit oder Gegnerschaft ist die Nachfolge Jesu. Denn ihn ihr zeigt sich sowohl eine Anerkenntnis seiner Vollmacht als Gottes Sohn als auch ein Verständnis seines Handelns als Handeln nach dem Willen Gottes. Dramatisch ist dabei, dass sich die Zugehörigkeit zu Jesus nicht einfach durch Aussagen und Glaubensbeteuerungen erweist, sondern einzig und allein im Tun. Die Geschichte der Jünger Jesu wird dies das Evangelium hindurch verdeutlichen. Sie erkennen zwar die Vollmacht Jesu, lassen ihn aber dennoch in seinen dunkelsten Stunden alleine, ja verleugnen ihn zum Teil sogar. Dennoch sind sie am Ende des Evangeliums Adressaten der Auferstehungsbotschaft (Mk 16,7). Sie haben zwar Schwierigkeiten zu verstehen, leugnen aber nicht, dass sich im Wirken Jesu etwas ereignet, was nur aus der Verbindung mit Gott heraus entstehen kann. Deswegen wird ihnen wie in Vers 28 angekündigt, aller Kleinglaube, alles Unverständnis vergeben und sie bleiben Adressaten Jesu und Mitwirkende am Reich Gottes. Anders sieht es für diejenigen aus, die nicht sehen und verstehen wollen, dass Gott wirklich und wirkmächtig unter ihnen in der Gestalt seines Sohnes handelt. Sie vergehen sich gegen den Geistträger, den Gottessohn – und sind auf ewig ausgeschlossen.

Wie schmal der Grat zwischen Verstehen und Leugnung der göttlichen Herkunft Jesu ist, zeigt das Evangelium. Die Anklage der Schriftgelehrten, die Jesus vorwerfen, sich widergöttlicher Mächte zu bedienen, und das Ansinnen der Angehörigen Jesu spielen mit dem Feuer. Was bei den Schriftgelehrten durch die Unterstellung, mit dem Satan gemeinsame Sache zu machen, zum Ausdruck kommt, findet in der Darstellung der Angehörigen Jesu eine Parallele durch eine einfache Wortwahl. Indem der Evangelist Markus davon spricht, dass sie Jesus „mit Gewalt zurückholen wollen“ und dabei einen Begriff verwendet, der sonst nur mit der Passion Jesu (und der Festnahme des Täufers, Mk 6,17) verwendet wird, rückt ihr Verhalten in die Nähe der Gegner Jesu. Der letzte Satz Jesu ist ein Weckruf: Ob ihr zu denen gehört, die sich meiner bemächtigen wollen, weil ich unbequem bin und Ungewöhnliches tue und verkünde, habt ihr selbst in der Hand! Seht und entscheidet, wessen Macht ihr in mir am Werk seht. Die knechtende Macht des Teufels oder die vergebende Kraft Gottes.