Lesejahr B: 2023/2024

Evangelium (Mk 2,23 - 3,6)

23An einem Sabbat ging er durch die Kornfelder und unterwegs rissen seine Jünger Ähren ab.

24Da sagten die Pharisäer zu ihm: Sieh dir an, was sie tun! Das ist doch am Sabbat nicht erlaubt.

25Er antwortete: Habt ihr nie gelesen, was David getan hat, als er und seine Begleiter hungrig waren und nichts zu essen hatten,

26wie er zur Zeit des Hohepriesters Abjatar in das Haus Gottes ging und die Schaubrote aß, die außer den Priestern niemand essen darf, und auch seinen Begleitern davon gab?

27Und Jesus sagte zu ihnen: Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat.

28Deshalb ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.

31Als er wieder in die Synagoge ging, war dort ein Mann mit einer verdorrten Hand.

2Und sie gaben Acht, ob Jesus ihn am Sabbat heilen werde; sie suchten nämlich einen Grund zur Anklage gegen ihn.

3Da sagte er zu dem Mann mit der verdorrten Hand: Steh auf und stell dich in die Mitte!

4Und zu den anderen sagte er: Was ist am Sabbat erlaubt - Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder es zu vernichten? Sie aber schwiegen.

5Und er sah sie der Reihe nach an, voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz, und sagte zu dem Mann: Streck deine Hand aus! Er streckte sie aus und seine Hand wurde wiederhergestellt.

6Da gingen die Pharisäer hinaus und fassten zusammen mit den Anhängern des Herodes den Beschluss, Jesus umzubringen.

Überblick

Und mittendrin der Mensch. Jesu Umgang mit dem Sabbat führt zu einer folgenschweren Entscheidung und erneuert Gottes Ruf in die Freiheit.

1. Verortung im Evangelium
Der Evangelist Markus unternimmt es als erster eine Jesuserzählung zu schreiben und die zuvor meist mündliche Überlieferung zu einer fortlaufenden Geschichte zusammenzustellen. Das Markusevangelium (Mk) entsteht kurz nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n.Chr.) im Jüdischen Krieg. Der Verfasser ist unbekannt, auch wenn es innerhalb der kirchlichen Tradition eine Verbindung zu Markus einem Judenchristen hellenistischer Herkunft gibt. Dieser ist einerseits Paulusbegleiter (Apostelgeschichte 12,12) und andererseits Vertrauter des Petrus (1. Petrusbrief 5,13).
Das Markusevangelium beginnt in der Wüste (Mk 1,1-13) mit dem Auftreten des Täufers und der Taufe Jesu. Dann schildert es den Beginn der Verkündigung Jesu in Galiläa (Mk 1,14-8,26) und den Weg nach Jerusalem (Mk 8,27-10,52) und endet mit den Ereignissen in Jerusalem (Mk 11,1-16,20). Das ursprüngliche Ende des Evangeliums war die Begegnung der Frauen mit dem Engel am leeren Grab (Mk 16,8). Die Erweiterung um die Erscheinungserzählungen sind später hinzugefügt worden (Mk 16,9-20).
Die Erzählungen Mk 2,23-28 und 3,1-6 schließen das Wirken in und um Kafarnaum ab, das mit Mk 1,21 begonnen hatte. In dem, was Jesus in Kafarnaum geschieht, wie er mit Menschen in Kontakt tritt und diese mit ihm zeigt sich beispielhaft, was im weiteren Verlauf des Evangeliums entfaltet wird. Auch wenn Mk 3,7-12 noch am See und damit um Kafarnaum spielt, ist mit dem Tötungsbeschluss derPharisäer und Anhänger des Herodes in Mk 3,6 eine erste Zäsur im Wirken Jesu in Galiläa zu erkennen.

 

2. Aufbau
Zwei selbstständige Erzählungen werden mit einander über das Stichwort „Sabbat“ miteinander verbunden.
In Mk 2,23-28 steht das Zuwiderhandeln der Jünger Jesu gegen das Sabbatgebot im Vordergrund. Auf die Anfrage der Pharisäer an Jesu (Verse 23-24) folgt eine ausführliche Antwort Jesu – ein klassisches Streitgespräch.
Mit Mk 3,1 wechselt Jesus den Ort und ist nun in der Synagoge – immer noch am Sabbat. Nicht das Verhalten der Jünger, sondern die Heilungstat Jesu ist nun Stein des Anstoßes für die Pharisäer. Obwohl die Pharisäer von Vers 3-6 wichtige Akteure der Szene sind, bleiben sie bis zum Ende stumm. Ihr Beschluss, Jesus anzuklagen (Vers 2) bzw. zu töten (Vers 6), rahmt die Szene.

  1. Erklärung einzelner Verse

Verse 23-24: Die Eröffnung und der Anlass des Gesprächs zwischen Jesus und den Pharisäern klingt in unseren Ohren zunächst wie ein vom Zaun gebrochener Streit. Gleichwohl ist der Dialog zunächst mal ein klassisches Gespräch, um die Auslegung von (religiösen) Vorschriften auf konkrete Situationen hin zu prüfen. Trotz ihrer Vorliebe, die Gesetze klar auszulegen, kannten die Pharisäer eine gewisse Form des Pragmatismus, die insbesondere für ihre Anhänger, die zum Großteil aus der Unterschicht stammten, für das Alltagsleben hilfreich war.
Das grundsätzliche Gebot der Sabbatheiligung (Deuteronomium 5,12-15; Ex 20,8-11) setzt der Evangelist Markus bei seinen Lesern voraus. Die Pharisäer müssen dies nur andeuten, damit die Fragestellung der Erzählung verstanden wird. Und das ganz ohne, dass die Pharisäer eine Frage stellen müssen.
Das Abreißen der Ähren durch die Jünger ist nicht als „Zerstörung“ der Schöpfung oder als unvermitteltes Tun zu lesen, vielmehr werden die Jünger die Körner gekaut haben, um Hunger zu stillen – eine Praxis die für die Zeit belegt ist. Dass es hier um ein Handeln aus Hunger geht, wird auch in der Geschichte deutlich, die Jesus den Pharisäern in Erinnerung ruft.

 

Verse 25-26: Jesus antwortet mit dem Rückgriff auf eine David-Erzählung aus dem 1. Buch Samuel. Allerdings gibt er die Begebenheit mit einer klaren und auf den Anlass bezogenen Akzentuierung wieder. Im 1. Buch Samuel wird geschildert, wie David mit seinen Begleitern zu einem Heiligtum kommt und den Priester dort um etwas zu essen bittet. Weil es dort nur noch die sogenannten „Schaubrote“, also Brote, die beim Allerheiligsten aufbewahrt werden, gibt, erhält David davon für sich und seine Begleiter. In der Darstellung Jesu tritt David deutlich „forscher“ auf. Jesus spricht davon, dass David selbst in das Haus Gottes geht und von den Broten isst, die eigentlich den Priestern vorbehalten sind. Durch diese Akzentuierung wird der Fokus auf das Handeln Davids gelegt, das gekennzeichnet ist von einem freiheitlichen Umgang mit dem Brot im Heiligtum. Interessanterweise nutzt Jesus im Markusevangelium nur hier und in Mk 2,19 mit Rückgriff auf eine alttestamentliche Erzählung. Beide Male geht es um im Evangelium um den Umgang mit alttestamentlichen Normen.

 

Verse 27-28: Ist mit den Versen 25-26 eigentlich schon eine erste Antwort in typischer Weise (Argumentation mit der Schrift) auf die Anfrage der Pharisäer gegeben, folgt nun die für Jesus wichtigere Antwort. Mit der Aussage, dass der Sabbat für den Menschen da ist und nicht andersrum, legt Jesus eine neue Perspektive auf die Gebote. In ihrem Kern sind die Gesetze Gottes Hilfestellungen für den Menschen, sein Leben und sein Gottesverhältnis. So wie die Begründung für das Halten der Gebote, das befreiende Handeln Gottes an seinem Volk Israel ist (Rettung aus dem Sklavenhaus Ägypten), so sollen die Gebote auch Freiheit ermöglichen. Die Heiligung des Sabbats ruft in die Ruhe, in das Freiwerden von Alltagssorgen, in das Befreien von festgelegten Rolle. Wenn in Dtn 5,14 die Sklaven, Tiere und Fremden explizit einbezogen werden in die geschenkte Ruhe des Sabbats, dann sind sie auch hineingenommen in ein punktuelles, bewusstes Erleben der gottgeschenkten Freiheit. Das Geschenk Gottes an sein Volk, sein befreiendes Handeln, soll auch denen zuteil werden, die nicht direkt unter seinen Geboten stehen. Die Gebote dienen dem Menschen, seinem Leben, seiner Würde und Freiheit und seiner Gottesbeziehung – nicht der Mensch den Geboten.

Der abschließende Satz Jesu bringt eine Deutungshoheit über die Sabbatfrage zum Ausdruck, die vor allem für die Gemeinde des Markusevangeliums in der Auseinandersetzung mit dem Judentum wichtig gewesen sein dürfte. Jesu Umgang mit den Geboten ist handlungsleitend für das Verhalten der Christen.

 

Verse 1-2: Die Exposition der zweiten Szene spielt mit dem Wissen der Leser um die vorangegangenen Streitsituationen und überrascht am Ende doch mit der Eindeutigkeit der Positionierung der Gegner Jesu. Obwohl alle wichtigen Personen der Szene in den Versen 1-2 eingeführt werden, wird nur Jesus in Vers 2 explizit erwähnt. Der Mann mit der „verdorrten Hand“ ist nur in seiner Einschränkung wichtig für die Szene – es ist ein „Demonstrationswunder“ das an ihm vollzogen wird. Die Macht des Gottessohnes wird sich an ihm zeigen.
„Sie“ das sind ganz offenbar die Pharisäer, die aus der vorangegangenen Szene bekannt sind. Sie werden sich am Ende mit den „Anhängern des Herodes“ verbünden. Durch die Einführung dieser drei Parteien sind Heilung und Konflikt im weiteren Verlauf der Szene gleichermaßen erwartbar - das denkbare Streitgespräch aber bleibt aus, denn bis auf Jesus bleiben alle stumm.
Die Jünger Jesu sind mitzudenken, werden aber auch nicht weiter in die Handlung einbezogen.

Wichtig für die Ausgangssituation ist die Tatsache, dass die Gegner erklärtermaßen mit der Wundermacht Jesu rechnen! Nur die Erwartung eines heilenden Handelns Jesu seitens der Pharisäer komplettiert die Szene und macht ihre Beobachtung der Szene so brisant.

 

Vers 3-5: Die folgenden Handlungsschritte Jesu zeigen, dass er die Absichten der Pharisäer durchschaut, sich von ihnen aber keinesfalls einschüchtern lässt. Im Gegenteil lässt er die Verhältnisbestimmung zwischen Gesetz und Mensch aus Vers 27 nun sichtbar werden, indem er den Mann auffordert, sich in die Mitte zu stellen. So ruht nicht nur alle Aufmerksamkeit auf ihm, sondern er ist auch im wahrsten Sinne der Mittelpunkt des Handelns Jesu und seiner Auslegung des Sabbatgebots. Eingeschoben, in die Zuwendung Jesu zum Kranken und dessen Heilung (Vers 5), ist der Blick Jesu auf die Anwesenden. Das Wissen Jesu um ihre Absichten und Gedanken wird ergänzt durch das einzelne Anblicken der Dabeistehenden. Die Reaktion Jesu („Zorn und Trauer“) ist begründet im „verstockten Herzen“ der Pharisäer. Das Motiv des verhärteten oder verstockten Herzens ist aus dem Alten Testament bekannt (vgl. z.B. Jeremia 3,17). Es bringt das Gegenteil eines Gott zugewandten und dem Leben und Guten zugeneigten Herzen zum Ausdruck. Insofern fasst Vers 5 in einem Bild zusammen, was Jesus in Vers 4 in der parallel gestalteten Gegenüberstellung (Antithese) mit „Gutes tun oder Böses“ – „ein Leben zu retten oder es zu vernichten“ ausführlich und eindringlich benennt. Ihm geht es um den Kern des Sabbatgebots, den Menschen als Zentrum des Gesetzes, nicht um die strikte Einhaltung eines Regelwerks.

 

Vers 6: Waren die Pharisäer schon in die Szene eingetreten mit der Idee, Jesu anklagen zu lassen, radikalisiert sich ihr Vorhaben. Mit den „Anhängern des Herodes“ gemeinsam fassen sie den Beschluss, Jesus zu töten. Von nun an werden alle weiteren Begebenheiten des Evangeliums unter dem Vorbehalt dieser Entscheidung stehen – die Leser wissen spätestens jetzt, worauf die Erzählung hinsteuert.
Die „Anhänger des Herodes“ sind anders als die Pharisäer keine eindeutige oder bekannte Gruppe zur Zeit Jesu. Womöglich steht hinter dieser Umschreibung eine Gruppe von Juden, die mit Agrippa I. sympathisierten, der von 41-44 n.Chr. noch einmal kurz als jüdischer König unter Duldung der Römer Herrschaft über das Land ausübte und sich mit den Pharisäern auch gegen die Christen wandte.

Auslegung

Obwohl der Ausgang der Situation es nicht vermuten lässt: Eigentlich sind sich die Pharisäer und Jesus einig darüber, dass sich Normen am Alltag bewähren müssen bzw. die Gebote einer Konkretion auf das Leben hin bedürfen. Doch der Weg dahin und die Kriterien, wann und wie die Anwendung auf den Alltag gelingt – darüber sind sich die Parteien so uneinig, dass am Ende eine folgenschwere Entscheidung steht.

So frühzeitig wie im Evangelium ein unwiderruflicher Beschluss durch die Gegner Jesu gefasst wird und von nun an als Rahmen um alle Erzählungen liegt, so früh wird auch ein wesentlicher Punkt der Sendung Jesu deutlich. Seine Verkündigung des Evangeliums, seine Botschaft vom nahen Reich Gottes und der damit verbundenen Aufforderung umzukehren, sie stellt immer den Mensch, seine Fragen, Bedürfnisse, sein Leiden, seine Hoffnung in den Mittelpunkt. Was im 2. Teil des Sonntagsevangeliums mit der Aufforderung an den Kranken, sich in die Mitte zu stellen, sichtbar wird, wird im 1. Teil durch die Aussage „Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat“ (Vers 27) ins Wort gebracht. Die Gebote Gottes sind nicht nur „Folge“ seines freiheitlichen Handelns an seinem Volk, sie wollen die Menschen selbst zu einem Handeln aus und in Freiheit motivieren. Jesus selbst lebt diese Haltung der Freiheit gegenüber dem Gesetz vor. Er hebt es nicht auf, lässt es nicht beliebig werden, verweist aber auf dessen Mittelpunkt: den Menschen.

Wenn dieses Beispiel Jesu, der Gemeinde des Markus und uns als Beispiel dienen soll, dann steckt darin auch das Vertrauen des Gottessohnes in die Urteilsfähigkeit der Menschen, das Wesentliche der Weisungen Gottes zu erkennen und sie von Regeln, die unfrei machen, zu unterscheiden. Denn nur im Entscheiden und Handeln zeigt sich, ob Gottes Volk dem Ruf in die Freiheit, den Gott mit der Errettung aus Ägypten einst hören ließ, gerecht wird.