Überrascht? Das Evangelium berichtet von einem Schriftgelehrten, der genauso denkt wie Jesus.
1. Verortung im Evangelium
Der Evangelist Markus unternimmt es als erster eine Jesuserzählung zu schreiben und die zuvor meist mündliche Überlieferung zu einer fortlaufenden Geschichte zusammenzustellen. Das Markusevangelium (Mk) entsteht kurz nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n.Chr.) im Jüdischen Krieg. Der Verfasser ist unbekannt, auch wenn es innerhalb der kirchlichen Tradition eine Verbindung zu Markus einem Judenchristen hellenistischer Herkunft gibt. Dieser ist einerseits Paulusbegleiter (Apostelgeschichte 12,12) und andererseits Vertrauter des Petrus (1. Petrusbrief 5,13).
Das Markusevangelium beginnt in der Wüste (Mk 1,1-13) mit dem Auftreten des Täufers und der Taufe Jesu. Dann schildert es den Beginn der Verkündigung Jesu in Galiläa (Mk 1,14-8,26) und den Weg nach Jerusalem (Mk 8,27-10,52) und endet mit den Ereignissen in Jerusalem (Mk 11,1-16,20). Das ursprüngliche Ende des Evangeliums war die Begegnung der Frauen mit dem Engel am leeren Grab (Mk 16,8). Die Erweiterung um die Erscheinungserzählungen sind später hinzugefügt worden (Mk 16,9-20).
Seit Mk 11,1 befindet sich Jesus in Jerusalem. Nach seinem feierlichen Einzug (Mk 11,1-11) ist er mal explizit im Kreis der Jünger unterwegs (Wort über den Feigenbaum Mk 11,12-14 und 20-26) und dann wieder öffentlich tätig (z.B. Reinigung des Tempels Mk 11,15-19). Von Mk 11,27 an sieht sich Jesus wiederholt Fangfragen, Diskussionen und theologischen Auseinandersetzungen mit religiösen Anführern konfrontiert. Die Frage des Schriftgelehrten nach dem ersten Gebot ist einerseits Teil dieser Reihe von Begegnungen und durchbricht sie zugleich.
2. Aufbau
Vers 28 stellt die Verknüpfung zwischen diesem ganz anderen Dialog Jesu mit einem Vertreter der religiösen Autoritäten und den vorhergehenden Szenen her. In den Versen 29-31 wird die Antwort Jesu auf die Frage des Schriftgelehrten wiedergeben, worauf er in den Versen 32-33 noch einmal reagiert. Diese Erwiderung mündet in die Feststellung Jesu und seinen Zuspruch in Vers 34.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 28b: Ein Schriftgelehrter, der den Streit Jesu mit den Sadduzäern mitbekommen hat (Mk 12,28a), geht auf Jesus zu. Als angesehene Ausleger der Schrift gehören die Schriftgelehrten zu den jüdischen Autoritäten zurzeit Jesu. Da sie die Lehre Jesu in Konkurrenz zu ihrem Blick auf die Schrift und zu ihrer Position als Gelehrte sahen, kommt es immer wieder zu Diskussionen und klaren Meinungsverschiedenheiten. Diese vermeintlich klaren „Fronten“ bricht der Evangelist Markus bereits auf, wenn er davon berichtet, dass der Schriftgelehrte die Ausführungen Jesu vorher als „treffend“ einordnet. Markus stellt damit einen Rückbezug zu Mk 12,18-27 her. In dieser Perikope debattiert Jesus mit den Sadduzäern, einer weiteren religiösen Gruppe, über die Auferstehung der Toten.
Der Schriftgelehrte war offenbar Zeuge dieses Streits und sieht sich durch die Haltung Jesu ermutigt, mit seiner Frage auf ihn zuzugehen. Anders als beispielsweise im Vergleichstext im Matthäusevangelium 22,34-40 geht es weder darum Jesus auf die Probe zu stellen, noch dreht sich die Frage um „das wichtigste Gebot im Gesetz“. Der Schriftgelehrte im Markusevangelium hingegen fragt nach dem grundsätzlich („von allen“) ersten Gebot. Damit hebt er bereits die Fixierung auf die Gesetze als solche auf und fragt nach dem Wesentlichen in dem, was von Gottes Wille in der Vielfalt der Schrift erkennbar ist. Die Frage nach dem Stellenwert einzelner Gebote und auch deren „Rangfolge“ ist sicher Teil katechetischer Unterweisungen gewesen. Hier stellt sie mit dem Schriftgelehrten jemand, der eine Klarheit darüber vermeintlich in seinem Leben umsetzt bzw. diese weitergibt.
Verse 29-31: Jesus antwortet mit dem Verweis auf Deuteronomium 6,4-5 und das Bekenntnis zu dem einen Gott. Der mit „Höre, Israel!“ (hebräisch: Schema Israel) eingeleitete Text ist die Erinnerung an die Rettungstat Gottes, der sein Volk aus der Knechtschaft Ägyptens befreite. Diese Grunderfahrung Israels führt zu einer Selbstverpflichtung im Handeln und im Glauben an den einen und einzigen Gott. Wenn der Evangelist Jesus den Text aus dem Buch Deuteronomium zitieren lässt, nimmt er jedoch eine interessante Veränderung vor: Steht in Deuteronomium „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“, fügt Jesus ein viertes Element hinzu: „mit ganzem Denken“. (Im Übrigen wird auch der griechische Begriff für Kraft ausgetauscht.) Damit gewinnt der Verstand bei der Erwiderung des erwählenden Handelns Gottes durch den Menschen eine wichtige Rolle.
Hatte der Schriftgelehrte eigentlich nur nach dem „ersten Gebot“ gefragt, wird ihm von Jesus im gleichen Atemzug auch das „zweite Gebot“, die Liebe zum Nächsten, präsentiert und damit dem Gebot der Gottesliebe ergänzend – nicht nachgeordnet – zur Seite gestellt. Der Evangelist Matthäus präsentiert diese Szene auch hier anders, indem Jesus das zweite Gebot als „ebenso wichtig“ dem ersten gleichordnet. Im Markusevangelium wird der Schwerpunkt klar auf die gegenseitige Ergänzung der Gebote gelegt, wenn Jesus hinzufügt: „kein anderes Gebot ist größer als diese beiden“. Hier werden Gottes- und Nächstenliebe als zwei Weisungen gesehen, die eine Einheit bilden, denen alle weiteren Gebote nachgeordnet sind und deren Fundament in der Antwort des Menschen auf das Handeln Gottes besteht. Die Gottesliebe bleibt das erste Gebot, weil es eine direkte Reaktion auf das Erbarmen und Retten Gottes ist. Aus ihm erwächst als Konsequenz das zweite Gebot, das nicht weniger wichtig, aber doch ohne das erste nicht reflektiert ist.
Verse 32-33: Der Schriftgelehrte beginnt seine Antwort mit einer Bestätigung des Gesagten: „sehr gut“, „ganz richtig“. Die Anrede „Meister“ ist von ihm, anders als in der Szene mit den Pharisäern und den Herodesanhängern in Mk 12,13-17, überhaupt nicht „falsch“ oder verächtlich. Er belässt es jedoch nicht bei der bloßen Bestätigung, sondern er antwortet mit einem anderen Zitat aus dem Buch Deuteronomium (Deuteronomium 4,35). Unter Bezug auf das „Höre, Israel!“ stellt der Schriftgelehrte dann Gottes- und Nächstenliebe gleichberechtigt nebeneinander. Gleichzeitig erweitert er die Frage nach der Rangfolge der Gebote beziehungsweise nach den Antworten des glaubenden Menschen auf Gottes Errettung um den Aspekt des Tempelkultes. Wenn er – ganz im Sinne – der alttestamentlichen Kultkritik die Bedeutung der Schlacht- und Brandopfer im Vergleich zum Gebot von Gottes- und Nächstenliebe relativiert. Er greift dazu ein Wort des Propheten Hosea auf (Hosea 6,6). Da Jesus sich seit Mk 11,27 wieder in unmittelbarer Nähe zum Jerusalemer Tempel aufhält, verschärft sich das Wort des Schriftgelehrten zusätzlich.
Vers 34: Wie der Schriftgelehrte gegenüber Jesus so bringt Jesus auch umgekehrt in seiner Reaktion eine große Wertschätzung zum Ausdruck. Der Evangelist unterstreicht dies mit der Kommentierung „Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte“. Zugleich spricht er ihm die Nähe zum Gottesreich zu. Durch Jesu Wirken ist es bereits gegenwärtig spürbar, der Schriftgelehrte hat sich durch seine Haltung zu den Geboten nicht nur Jesu Verständnis vom Willen Gottes angenähert, sondern damit auch dem Reich Gottes.
Die Folge des Gesprächs über das erste Gebot ist ein „Verstummen“ der Gegner. Von nun an kommt niemand aus dem Kreis der jüdischen Autoritäten mehr auf Jesus zu. Es gibt nichts mehr zu fragen, denn Jesus hat klar und unmissverständlich zum Zentrum des Gesetzesverständnisses Stellung bezogen. Wenn im folgenden Kapitel die religiösen Anführer der Juden noch eine Rolle spielen, dann entweder, weil Jesus über sie spricht (Mk 12,35-40) oder weil diese den endgültigen Beschluss fassen, Jesus zu töten (Mk 14,1-2, vgl. Mk 3,6).