Lesejahr B: 2023/2024

Evangelium (Mk 10,35-45)

35Da traten Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, zu ihm und sagten: Meister, wir möchten, dass du uns eine Bitte erfüllst.

36Er antwortete: Was soll ich für euch tun?

37Sie sagten zu ihm: Lass in deiner Herrlichkeit einen von uns rechts und den andern links neben dir sitzen!

38Jesus erwiderte: Ihr wisst nicht, um was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder die Taufe auf euch nehmen, mit der ich getauft werde?

39Sie antworteten: Wir können es. Da sagte Jesus zu ihnen: Ihr werdet den Kelch trinken, den ich trinke, und die Taufe empfangen, mit der ich getauft werde.

40Doch den Platz zu meiner Rechten und zu meiner Linken habe nicht ich zu vergeben; dort werden die sitzen, für die es bestimmt ist.

41Als die zehn anderen Jünger das hörten, wurden sie sehr ärgerlich über Jakobus und Johannes.

42Da rief Jesus sie zu sich und sagte: Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen.

43Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein,

44und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.

45Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.

Überblick

Freigekauft! Das Leiden Jesu und der Aufruf zu einer neuen Grundordnung

1. Verortung im Evangelium
Der Evangelist Markus unternimmt es als erster eine Jesuserzählung zu schreiben und die zuvor meist mündliche Überlieferung zu einer fortlaufenden Geschichte zusammenzustellen. Das Markusevangelium (Mk) entsteht kurz nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n.Chr.) im Jüdischen Krieg. Der Verfasser ist unbekannt, auch wenn es innerhalb der kirchlichen Tradition eine Verbindung zu Markus einem Judenchristen hellenistischer Herkunft gibt. Dieser ist einerseits Paulusbegleiter (Apostelgeschichte 12,12) und andererseits Vertrauter des Petrus (1. Petrusbrief 5,13).
Das Markusevangelium beginnt in der Wüste (Mk 1,1-13) mit dem Auftreten des Täufers und der Taufe Jesu. Dann schildert es den Beginn der Verkündigung Jesu in Galiläa (Mk 1,14-8,26) und den Weg nach Jerusalem (Mk 8,27-10,52) und endet mit den Ereignissen in Jerusalem (Mk 11,1-16,20). Das ursprüngliche Ende des Evangeliums war die Begegnung der Frauen mit dem Engel am leeren Grab (Mk 16,8). Die Erweiterung um die Erscheinungserzählungen sind später hinzugefügt worden (Mk 16,9-20).
Der mit Mk 8,27 begonnene Abschnitt im Markusevangelium führt Jesus und seine Jünger stetig auf Jerusalem und das Leiden Jesu zu. Er ist gegliedert durch drei Ankündigungen des Leidens (Mk 8,31, Mk 9,31 und Mk 10,33-34) und inhaltlich stark durch das Thema der Jüngerschaft geprägt. Die Verse Mk 10,35-45 spielen in direkter Folge der dritten Leidensankündigung Jesu und haben mit der Frage nach Ansehen und Rang unter den Jüngern eine starke Korrespondenz in Mk 9,30-37.

 

2. Aufbau
Zwei Szenen lassen sich in der Perikope unterscheiden, beide spielen im Kreis der Zwölf. Zuerst treten die Brüder Johannes und Jakobus mit einer Anfrage an Jesus heran (Verse 35-40): Sie würden gerne im Reich Gottes die Ehrenplätze direkt neben Jesus einnehmen. Die Antwort Jesu an sie wird dann in der zweiten Szene um eine allgemeine Belehrung der Jünger erweitert (Verse 41-45).

 

3. Erklärung einzelner Verse

Verse 35-36: Im Zusammenspiel mit Vers 41 und der Bemerkung, dass die „zehn anderen Jünger das hörten“, wird deutlich, dass auch die Szene zwischen Jesus und den Zebedäussöhnen im Kreis der Zwölf stattfindet. Aus der Mitte des engsten Jüngerkreises treten also direkt nach der dritten Leidensankündigung (Mk 10,32-34) die Brüder Johannes und Jakobus auf Jesus zu. Der Akt des Herantretens und das vorsichtige Herantasten an die eigentliche Frage durch den Wunsch um Gewährung einer Bitte wirken im Kontext der Diskussion um Ehrenplätze wie eine Szene bei Hof. Auch die Antwort Jesu „Was soll ich für euch tun?“ fördert diesen Eindruck, auch wenn sie anderen Fragen Jesu entspricht. Zum Beispiel in der Erzählung vom blinden Bartimäus direkt im Anschluss (Mk 10,46-52).

 

Verse 37-38: Dass Johannes und Jakobus ausgerechnet nach der ausführlichsten Ankündigung seines Leidens von Jesus erbitten, sie „in seiner Herrlichkeit“ zu seiner rechten und linken Seite zu platzieren, ist nicht Ausdruck der Einsicht, dass „Auferstehung“ (Mk 10,34) auch Leben mit Gott bedeutet. Vielmehr äußert sich darin ein immer noch existierendes Grundunverständnis über die Sendung Jesu und dessen Haltung als Gottessohn. Diesen ersten Eindruck bestätigt die Antwort Jesu. Mit „ihr wisst nicht“ wird das Unvermögen deutlich, sich den kommenden Weg Jesu in der von ihm angekündigten Weise vorzustellen. Die beiden Jünger verstehen die Tragweite ihrer Bitte nicht, beinhaltet diese doch nicht am Ende des Weges auf einen Ehrenplatz gesetzt zu werden, sondern den Weg Jesu wirklich mit- und nachzugehen. Jesus hält ihnen diese Konsequenz fragend vor Augen, indem er nach hört, ob sie in der Lage sind den Kelch trinken und die Taufe auf sich nehmen, wie Jesus selbst es tun wird.
Die Bilder von Kelch und der Taufe sollten aus dem alttestamentlichen Verständnis heraus interpretiert werden, weil die zusammenhängen und in eine Richtung weisen und gerade durch das Bild des Kelches klar geprägt sind. Im Alten Testament reicht Gott dem Einzelnen oder dem Volk den Becher, den es zu trinken gilt. Der Becher ist Sinnbild für das Geschick des Menschen, positiv wie negativ. Im Zusammenspiel mit der „Taufe“, die an die todesbringenden Wassermassen erinnert, die Zeichen des Verderbens (Psalm 42,8), der Strafe für Sünden, des Gerichts sind, muss der Becher ebenfalls in die Richtung des Gerichts weisen. Als Beispiel hierfür kann wieder ein Psalm verwendet werden, heißt es in Psalm 75,9 doch: „Ja, in der Hand des HERRN ist ein Becher, gefüllt mit gärendem, gewürztem Wein. Er schenkt davon ein, bis zur Hefe müssen ihn schlürfen, müssen ihn trinken alle Frevler der Erde.“ Wenn Jesus davon spricht, den Kelch zu trinken, der im Psalm den Sündern gereicht wird, dann ist dies analog zur Aussage in Vers 45 von der Hingabe des Lebens „als Lösegeld für die vielen“ zu verstehen. Das Übernehmen des Kelches und der Taufe des Gerichts ist das Eintreten und Entschulden der Sünder durch den Gerechten (vgl. Jesaja 53,10-12).

 

Verse 39-40: Die direkte Antwort der Brüder („wir können es“) korrigiert Jesus nicht. Die Gemeinde an die Markus sein Evangelium schreibt weiß um den Tod des Jakobus (Apostelgeschichte 12,2). Hier also zu behaupten, sie würden nicht diesen Weg gehen „können“ und ihr Leben als Zeugnis für die Lebenshingabe Jesu zu geben, würde der Erfahrung der Gemeinde widersprechen.
Gleichwohl erteilt Jesus der womöglich aufkeimenden Euphorie der Jünger einen Dämpfer, denn: Er selbst vergibt nicht die Plätze zu seiner Rechten und Linken. Gott selbst ist es, der für die Plätze Menschen vorsieht. Das Sitzen zur Rechten und Linken in der künftigen Herrlichkeit zielt auf die Nähe Jesu zu Gott selbst ab.

 

Vers 41: Die exklusive Fokussierung auf Jesus und die Zebedäussöhne wird aufgehoben. Die übrigen zehn Jünger – Markus verwendet bewusst nicht den Sammelbegriff „die Zwölf“ – ärgern sich über den Vorstoß der Brüder. Dabei dürfte es weniger darum, was sie fragen, sondern das sie fragen. Die zehn Jünger stoßen sich daran, dass Johannes und Jakobus sich vermeintlich vordrängeln. Die dahinterstehende Frage, ob es überhaupt Ehrenplätze an Jesu Seite und damit eine Rangfolge gibt, stört sie vermutlich weniger. In Mk 9,33-35 hatten sie allesamt die Frage diskutiert, wer unter ihnen der Größte sei.

 

Verse 42-45: Jesus ruft die Jünger zusammen. Die Klarstellung, die er im Folgenden unternimmt, lässt das eher als „zum Appell antreten“ erscheinen. Angesichts der Frage der Zebedäussöhne und der Diskussion nach der zweiten Leidensankündigung (Mk 9,33-35) will Jesus in aller Deutlichkeit die Thematik von Herrschen und Dienen erläutern. Er setzt bei der Erfahrung der Jünger (und der Gemeinde) an, wenn er den Vergleich mit weltlichen Herrschern anstellt. Nur zu oft ist deren Machtausübung mit Unterdrückung verbunden. Mit einer gewissen Spitze formuliert der Evangelist, dass die Herrscher „zu herrschen scheinen“ (so die wörtliche Übersetzung). Die Machthaber der Welt sind also nur vermeintlich Herrschende – die Jünger Jesu wissen eigentlich: Es gibt nur einen wirklichen Machthaber, Gott selbst.

Die Aufforderung an die Jünger vor dem Vergleich der Herrschenden ist eindeutig: Bei den Jüngern Jesu soll es nicht so sein! Bei ihnen soll sich vielmehr der Wunsch nach Größe im Dienen realisieren. War im Gespräch mit Johannes und Jakobus noch die himmlische Welt und deren Ordnung im Blick, verschiebt sich nun das Bild. Im Dialog mit den Zwölf geht es nicht mehr um die verheißene Gemeinschaft mit Gott, sondern um die reale Gemeinschaft innerhalb des Jüngerkreises und der Gemeinde. Sie soll sich an dem orientieren, was Jesus („der Menschensohn“) selbst vorgelebt hat: Dienen statt bedient zu werden. Der Dienst Jesu mündet in die freiwillige Lebenshingabe am Kreuz. Diese Hingabe wird als Lösegeld beschrieben. Der verwendete Begriff „lytron“(griechisch: λύτρον) bezeichnet das Geld, das als Bürgschaft für Sklaven oder Gefangene gezahlt wurde. Der Kreuzestod Jesu wird so zur freikaufenden Gegenleistung für die vielen, die unfrei sind. Im Blick sind die Menschen, die durch Schuld und Sünde geknechtet sind. Für sie hat der Tod Jesu rettend-erlösende Funktion. Die Vorstellung vom „Knecht Gottes“, der die Schuld der vielen auf sich nimmt (Jesaja 53,10-12), steht im Hintergrund der Formulierung in Vers 45.

Auslegung

Für die Jünger ist es so langsam höchste Eisenbahn, die Dimensionen der Sendung Jesu umfassend zu verstehen. In der Erzählung des Evangeliums befinden sich Jesus und seine Jünger kurz vor Jerusalem – nur noch die Erzählung vom blinden Bartimäus (Mk 10,46-52) trennt sie vom Einzug in Jerusalem. Und von da an wird alles unweigerlich auf das Leiden Jesu hinauslaufen. Und doch erweckt der Beginn der Perikope einmal mehr den Eindruck, den Jüngern würde der klare Blick auf das fehlen, was Jesus ihnen gerade vorher noch einmal ausführlich vor Augen geführt hat. Er ist als Gottessohn nicht vom Vater in die Welt gesandt, um zu herrschen, sondern zu dienen. Nicht um triumphalistisch zu regieren, sondern um in Demut seinen Weg zu gehen. Nicht ein glorreiches Leben ist das Ziel der Zeit auf Erden, sondern eine von menschlichem Verrat gezeichnete Leidensgeschichte. Die Eingangsszene des Evangeliumstextes will die Jünger mit ihrer Frage nicht ins Abseits stellen oder sie als Unverständige brandmarken. Aber der Evangelist Markus spart die Brüchigkeit und die Gefahren der Nachfolge auch nicht aus. Die Wegstrecke nach Jerusalem hin (Mk 8,27-10,52) rückt immer wieder die Jüngerschaft als Thema in den Mittelpunkt. Die Diskussionen, die Jesus mit den Jünger führt, die Mahnungen, die er ausspricht, die Hilfestellungen, die er gibt, sie gelten nicht nur den Jüngern des Evangeliums, sondern auch der Gemeinde des Markus und uns heute. Und diese Hinweise scheinen notwendig zu sein, wie die Verse Mk 10,35-45 zeigen. Denn mit der Aussicht auf Macht und Einfluss wächst auch das Bestreben diese wahrzunehmen. Die Jünger Jesu werden durch dessen Verkündigung des Gottesreiches mehrfach mit dem Ausblick auf eine kommende andere Machtsphäre konfrontiert. Sie ahnen oder verstehen langsam, dass Jesus in diesem Reich Gottes eine besondere Stellung zukommen wird – nichts liegt da näher als für sich selbst auch einmal zu schauen, welche Rolle eingenommen werden kann. Die Frage der Zebedäussöhne ist menschlich, allzu menschlich und genau deshalb verweist Jesus auf die weltlichen Dimensionen von Macht und fordert auf: „Bei euch aber soll es nicht so sein!“ Die Begründung für das Ausbrechen aus den herkömmlichen Regeln von Macht, Herrschaft und Unterdrückung liefert Jesus nicht nur mit seinen Worten in Vers 45, sondern er lässt sie wenig später auch mit allen Konsequenzen des eigenen Handelns sichtbar werden. Indem Jesus unschuldig, den Tod eines Verbrechers stirbt und damit seinen Auftrag die unbedingte Liebe Gottes in der Welt sichtbar zu machen ausführt, wird seine Hingabe zum Befreiungsschlag von Machtansprüchen. Der Weg des Dienens, den Jesus selbst vorlebt, er wird zum Aufruf, die Kategorien auf den Kopf zu stellen, indem aus dem Großen der Diener und dem Ersten der Sklave werden soll. Deshalb formuliert Jesus den Jünger gegenüber so klar den Satz „Bei euch aber soll es nicht so sein!“ Er gibt sein Leben nicht, um nur ein Zeichen zu setzen. Er zahlt das Lösegeld nicht, damit danach alles weiter so ist wie vorher. So wie ein freigekaufter Sklave nun die Chance hat, in Freiheit zu leben, so werden „die Vielen“ nicht freigekauft, um dann wieder in die alten Muster zu verfallen. Im Gegenteil: Wer sich durch Jesu Lebenshingabe freikaufen lässt, wer zustimmt, dass sein Tod eine Erlösung vom alten Leben ist, der wird frei. Und diese Freiheit führt nicht in die Herrschaft, sondern in den Dienst – vor Gott und für den Nächsten.

Kunst etc.

Der Gedanke, dass wir als Christen mit dem Schicksal Jesu bis in die tiefsten Momente der Existenz hinein verbunden sind, prägt eines der bekanntesten geistlichen Lieder des 20. Jahrhunderts. Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer schrieb sein Gedicht „Von guten Mächten“ als Weihnachtsgruß mit in den Brief, den er am 19. Dezember 1944 seiner Verlobten Maria von Wedemeyer aus dem Gefängnis des Reichssicherheitshauptamts in Berlin schrieb.

Die dritte Strophe des Gedichts spricht darüber, den von Gott gereichten Kelch anzunehmen und den vorbestimmten Weg im Vertrauen auf Gott zu gehen:

Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.

 

Eine Vertonung des Liedes gibt es HIER zu hören (Youtube).