„Wer bin ich?“ Jesus stellt seine Freunde nicht auf die Probe, wenn er ihnen diese Frage stellt. Und er weiß, so einfach wie es scheint, ist die Antwort nicht.
1. Verortung im Evangelium
Die Verse 18-24 im 9. Kapitel des Lukasevangeliums (Lk) befinden sich in einem spannenden Kapitel des Lukasevangeliums. Denn das 9. Kapitel des Lukasevangeliums legt den Schwerpunkt auf die Jünger Jesu. Immer wieder geht es dabei darum, ob und wie die Jünger Jesus und seine Sendung und die Botschaft vom Reich Gottes verstehen. Diese Frage durchzieht alle Erzählungen des Kapitels von der Aussendung der Zwölf Apostel (Lk 9,1-6), über die wunderbare Brotvermehrung (Lk 9,12-17) bis hin zur Verklärung Jesu (Lk 9,28-36) und der Heilung eines besessenen Jungen (Lk 9,37-43). Sowohl in diesen größeren Einheiten als auch in den kleineren Abschnitten dazwischen schimmern sowohl Verständnis als auch Unverständnis oder offene Fragen der Jünger zur Frage nach der Bedeutung Jesu durch. So lassen sich die Zwölf beispielsweise begeistert entsenden, sie verkünden das Reich Gottes und heilen Kranke und haben damit Anteil an der Sendung Jesu. Gleichzeitig aber sie auf dem Berg der Verklärung Hütten bauen, um den Moment festzuhalten. Und sie streiten sich wenig später darüber, wer von ihnen der Größte sei. Die Verse 18-24 können helfen, die Jünger und ihr Ringen um das richtige Verstehen besser zu verstehen.
2. Aufbau
In den Versen 18-24 lassen sich drei inhaltliche Schwerpunkte ausmachen. Nach einer Einleitung in Vers 18 geht es in den Versen 19-21 um die Frage nach der Identität Jesu. Daran schließt sich mit Vers 22 die erste Ankündigung von Leiden und Auferstehung an, bevor in den Versen 23-24 die Idee der Nachfolge Jesu erläutert wird.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 18: Zwischen dem Trubel der vorangegangenen Brotvermehrungsszene mit einer großen Menschenmenge und dem folgenden Dialog mit den Jüngern erfolgt eine „Ruhepause“. Die Formulierung „betete für sich allein“ beschreibt im griechischen Text eine längere Zeitspanne. Die Ruhe kehrt auch dadurch ein, dass nur noch die Jünger bei Jesus sind. Wohin die Menge aus den Versen zuvor (12-17) gegangen ist, bleibt offen. Sie ist nur noch implizit gegenwärtig, wenn Jesus seine Jünger nach der Meinung „der Leute“ fragt.
Vers 19: Zunächst referieren die Jünger die Meinung der Öffentlichkeit. Damit verweist Lukas zurück auf Lk 9,7-9, in denen es um das Urteil des Herodes über Jesus geht. Auch hier werden Johannes der Täufer, den er selbst enthaupten ließ, oder der Prophet Elija als mögliche Deutungen genannt. Sowohl im Urteil des Herodes als auch hier in Meinung der Öffentlichkeit, wird Jesus als eine der großen Gestalten der prophetischen Geschichte Israels gesehen, der wiedergekehrt ist. Dies zeigt an, dass das Handeln und Verkündigen Jesu die Menschen an die Botschaft großer Propheten des Alten Testaments erinnert hat. Die Worte Jesu von der Nähe Gottes, der Aufruf, das eigene Leben neu zu denken, und die Gegenwart Gottes in Heilungen und Wundern passen für die Menschen zu dem, was sie aus ihrer eigenen Glaubensgeschichte her kennen.
Verse 20-21: Jesus erfragt aber nicht nur die öffentliche Meinung, sondern auch das Verständnis seiner Jünger. Die Antwort des Petrus, der stellvertretend für die anderen spricht, macht deutlich, dass sich die Meinung der Jünger von der der Leute unterscheidet. Sie verstehen Jesus in Zuordnung zu Gott als der, der von ihm beauftragt („gesalbt“) ist und der Verheißung der Schriften Israels entspricht. Die Antwort „für den Gesalbten Gottes“ nimmt dabei eine Formulierung aus Lk 2,26 auf, die dort die Hoffnung Israels nach einem von Gott gesandten Retter umschreibt.
Das Bekenntnis des Petrus bleibt im Kern unkommentiert. Nur das eindeutige Schweigegebot Jesu zeigt für die Leser des Evangeliums an, dass Petrus und die Jünger mit ihrer Antwort richtig liegen.
Vers 22: Die erste Ankündigung von Leiden und Sterben des Menschensohnes schließt direkt und unvermittelt an das Schweigegebot an und hilft, dieses zu verstehen.
Der „Menschensohn“ ist ein Bild aus der spät-alttestamentlichen Zeit und sehr vielschichtig. Knapp zusammengefasst steht der Menschensohn als Bild für einen Menschen oder das Volk Israel, das am Ende der Zeit in Erscheinung tritt und an der Durchsetzung der göttlichen Herrschaft, des Reiches Gottes in unterschiedlicher Form beteiligt ist. Diese Hoffnung auf ein Näherkommen des Gottesreiches steht im Vordergrund, wenn von Jesus als dem Menschensohn gesprochen wird oder ihm die Worte in den Mund gelegt werden. Jesus ist der vom Himmel her kommende und von Gott ausgesendete Menschensohn, der die Wirklichkeit Gottes, sein Reich auf die Erde bringt.
In der Ankündigung des Schicksals Jesu nimmt der Evangelist Lukas das alttestamentliche Bild des „Verworfen Werdens“ auf, das aus Psalm 118,22 („Ein Stein, den die Bauleute verwarfen, er ist zum Eckstein geworden.“) bekannt ist und im Neuen Testament auch im 1. Petrusbrief verwendet und dort ebenfalls auf Jesus übertagen wird: „Kommt zu ihm, dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen, aber von Gott auserwählt und geehrt worden ist!“ (1. Petrusbrief 2,4).
Für die Verwerfung ist die gesamte jüdische Führungselite zuständig, die Lukas hier explizit und als eine vereinte Gruppe aufführt: Älteste, Hohepriester, Schriftgelehrte.
Wichtig für das Verständnis der Leidensankündigung an dieser Stelle im Evangelium ist, dass Jesus hier dem Bekenntnis des Petrus eine Erweiterung zukommen lässt. Ihn als den Gesalbten Gottes zu verstehen, bedeutet auch, sein weiteres Schicksal aus dieser Perspektive heraus zu betrachten. Dass dies nicht so einfach ist, zeigt sich in den Reaktionen der Jünger auf Kreuz und leeres Grab. Sie sind verunsichert und wissen nicht, was sie davon halten sollen. Deshalb erinnern sowohl die Engel am leeren Grab als auch Jesus selbst als Auferstandenen daran, dass dieses Leiden und Auferstehen zum Geschick des Christus dazugehören (Lk 24,19-27 und 44-47). Jesus schafft mit seiner Ankündigung also sowohl die Grundlage für ein späteres Verständnis der kommenden Ereignisse (Kreuz und Auferstehung) als auch eine inhaltliche Füllung des Bekenntnisses. Wenn die Jünger ihn als Christus bekennen, dann bedeutet dies auch Leiden und Auferstehung als Teil dieser Geschichte anzuerkennen.
Verse 23-24: Offensichtlich sind „die Leute“ nun wieder Teil der Szene, denn Jesus spricht explizit zu „allen“. Er erläutert ihnen die Bedingungen für die Nachfolge. Nachfolge meint hier nicht nur das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus, sondern auch dies in Taten und Worten zum Ausdruck zu bringen. Wer so sein Leben leben will, der muss bereit sein, jeden Tag („täglich“) das je eigene Kreuz („sein Kreuz“) zu schultern. Auch dieses Bild wird erst nach dem Tode Jesu wirklich verständlich, dennoch ist auch hier für die zuhörende Menge das Bildfeld des Kreuzes schon verbunden mit einer ehrlosen Todesart. Wer also Jesus nachfolgt, muss bereit sein, wenn es erforderlich den Weg der Schande zu gehen. Das Bekenntnis zu Jesus in Wort und Tat führt nicht zu Anerkenntnis und Ruhm, so machen die Verse deutlich, sondern es erfordert die Bereitschaft, das eigene Lebensbild und Wertgefüge in Frage stellen zu lassen. Genau dies kommt auch in den Worten von der „Selbstaufgabe“ und dem „Verlieren des Lebens“ zum Ausdruck. Hinter beiden Bildern steckt der Gedanke, dass sich für die Glaubenden ein neues Verständnis der Wirklichkeit erschließt. Diese Wirklichkeit besteht in der Zugehörigkeit zu Christus und in der existentiellen Nachfolge. In Christus definieren sie ihr Weltbild neu und lassen alte Lebensgewohnheiten und Lebensziele hinter sich, um zu einem neuen Leben in Christus zu kommen. Konkret bedeutet das zum Beispiel, nicht nach dem eigenen Ruhm oder einer großen Anerkennung zu streben, sondern bereit zu sein, für die eigene Überzeugung und den Glauben an Jesus Christus verspottet oder ausgeschlossen zu werden.