Was wäre, wenn wir uns auf Gottes Denkregeln einlassen würden?
1. Verortung im Evangelium
Die Forderung zur Feindesliebe und die folgenden Weisungen und Begründungen sind Teil der „Feldrede“ Jesu im Lukasevangelium (Lk 6,20-49). Zunächst hatte Jesus speziell zu seinen Jüngern gesprochen. Ihnen, die sich ganz auf Gott verlassen und Jesus nachfolgen und alles zurücklassen, hatte er das Reich Gottes verheißen. Nun zieht er den Kreis der Adressaten größer und bezieht auch die anderen mit ein.
2. Aufbau
Im Zentrum des Abschnitts stehen zwei ethische Hauptteile, die durch die Goldene Regel (Vers 31) getrennt werden.
Im ersten Hauptteil (Verse 27b-30) finden wir acht Imperative. Sie gehen der Frage nach, wie man darauf reagieren soll, wenn andere einem „das Leben schwer machen“. Zuerst werden Gruppen und danach Einzelpersonen mit ihrem Verhalten beschrieben und eine Forderung aufgestellt, wie auf das erlittene Verhalten der anderen zu reagieren ist.
Der zweite Hauptteil (Verse 32-34) greift auf die ethischen Forderungen aus den Versen 27-30 zurück. Nun geht es darum Begründungen zu liefern für das andere Verhalten der Christen gegenüber ihren „Feinden“.
Die abschließenden Verse 35-38 ordnen die ethischen Normen in einen klaren theologischen Horizont ein. Gott selbst ist das Vorbild und „Urheber“ eines anderen, neuen Verhaltens.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 27-28: Die in der ersten Forderung zur Feindesliebe genannten „Feinde“ werden im Anschluss durch drei Verben charakterisiert: hassen, verfluchen, schmähen. An diesen erfahrenen Taten erkennen die Zuhörer ihre Feinde. Die drei Imperative „tut Gutes“, „segnet“ und „betet“ formulieren den Eingangsimperativs „liebt“ aus. Sie zeigen, wie die Liebe gegenüber denen, die einem feindlich gegenüberstehen, konkret werden kann und soll.
Vers 29: Zu den hier formulierten Forderungen gibt es keine tragfähigen Vergleichstexte! Zwar gibt es auch andere und nicht-religiöse Texte, die den Verzicht auf Vergeltung und Rache fordern (vgl. Jesus Sirach 28,1-5), aber soweit auch „die andere Wange hinzuhalten“ gehen sie nicht.
Einen ähnlichen Grundgedanken finden wir jedoch im Buch Jesaja (Jes 50,6) und der Gestalt des Gottesknechtes. Er ist bereit, alle Schmähungen auszuhalten, weil er sich ganz auf Gott hin ausrichtet und auf ihn verlässt.
Das Wegreißen des Mantels lässt an einen Raubüberfall denken, wie er zum Beispiel im Gleichnis vom barmherzigen Samariter geschildert wird (Lk 10,30-35).
Vers 30: Hier wird das zuvor an zwei Beispielen gezeigte Verhalten auf eine generelle Ebene gehoben. Nicht nur beim geschlagen oder beraubt werden, soll es nicht um die Frage danach gehen, was man als Ausgleich erhält. Vielmehr geht es um den Verzicht auf das, was „normale Entgegnung“ wäre und die Forderung ohne den Gedanken auf Ersatz zu geben und sich sogar Dinge nehmen zu lassen.
Vers 31: Der Evangelist Lukas nimmt hier die auch aus anderen Kulturen und Religionen bekannte „goldene Regel“ auf. Hier geht es um einen Handlungsgrundsatz: Wie man sich selbst wünscht, behandelt zu werden, so soll auch die eigene Handlungsweise aussehen.
Verse 32-34: Die drei Begründungen greifen auf die ethischen Forderungen aus den Versen 27-30 zurück: Feinde lieben, den Hassenden Gutes tun und das Weggenommene nicht zurückfordern. Es geht darum, das sonst geläufige Prinzip der Reziprozität also der Wechselseitigkeit und Gegenleistung aufzuheben. Jeder kann die lieben, die einen lieben – aber auch die zu lieben, die einen hassen, DAS ist der neue Schritt, zu dem Jesus hier auffordert.
Vers 35: Das andere Handeln, also das nicht auf Ausgleich bedachte Tun, ist entscheidend unterscheidendes Kennzeichen der christlichen Gemeinde. Es unterscheidet sich vom Handeln der andern, weil es auf einer Gewissheit beruht, einer Gewissheit, die nur im christlichen Kontext Bedeutung hat: Wer am anderen handelt ohne etwas zu erwarten, dem ist die Gotteskindschaft verheißen. Denn auch Gott orientiert sich in seinem Handeln nicht an der Frage, was er für sein Tun erhält. Wer es wagt, sich aus dem Schema der Reziprozität auszuklingen und dem neuen Muster der Feindesliebe zu folgen, der wird „Kind des Höchsten“ sein.
Vers 36: Lukas benennt zum Abschluss eine Begründung oder Motivation für die vorgeschlagenen Handlungsweisen. An Gottes Barmherzigkeit sollen sich die Christen orientieren, um ihr Handeln auszurichten. Vorbild für eine solche Weisung ist beispielsweise die Forderung zur Heiligkeit wie sie Levitikus 11,45 kennt: „Ihr sollt daher heilig sein, weil ich heilig bin.“
Vers 37-38: Ans Ende setzt Lukas eine Reihe von Forderungen, die als Ausformulierungen der Forderung zur Barmherzigkeit in Vers 36 verstanden werden können.
Die ersten drei Imperative in Vers 37 sind eng miteinander verknüpft. Eigentlich umschreiben die Verben „verurteilen“ und „Schulden erlassen“ das erste Verb „richten“ genauer. Die Forderung zum Geben in Vers 38 nimmt den Gedanken aus Vers 30 wieder auf.
Wichtig ist an dieser Stelle aber der Gedanke, dass das bereitwillige Geben, ebenso wie der Verzicht auf das Richten unterstützt werden von der Verheißung Gottes. Der „Ausgleich“ für das Gegebene (und auch Erlittene) wird von Gott kommen. Weil Gott aber selbst gibt, ohne etwas zu bekommen, wird das „alte“ Prinzip der Reziprozität damit endgültig aufgebrochen.