Zum Glauben braucht es Herz und Verstand. Das Begreifen der Auferstehung geht im Lukasevangelium nur im Zusammenspiel der menschlichen Grundvoraussetzungen.
1. Verortung im Evangelium
Die Ostererzählungen des Lukasevangeliums (Lk) finden in Kapitel 24 alle an einem einzigen Tag statt. Dabei schließen die Ereignisse am „ersten Tag der Woche“ nahtlos an die Kunde vom Begräbnis Jesu in Lk 23,50-56 an.
Die Frauen, die in Lk 23,55 die Grablegung Jesu beobachten, sind nun die die Hauptfiguren der ersten Erscheinungserzählung. So kommen Tod und Auferstehung einander nahe und die Kontinuität des einen zum anderen wird bewusst hergestellt. Nachdem die Frauen und Petrus das leere Grab gesehen haben (Lk 24,1-12), kommt es zu verschiedenen Erscheinungen des Auferstandenen: auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24,13-35), in Jerusalem (Lk 24,36-49) und in Betanien (Lk 24,50-53). Jede der Erzählungen weist einen eigenen Akzent auf, so dass am Ostertag viele Personen auf unterschiedliche Weise die Realität der Auferstehung verstehen lernen.
2. Aufbau
Vers 35 verbindet die Erscheinung in Emmaus mit den Szenen in Jerusalem. In den Versen 36-48 zeigt sich Jesus den Jüngern in Jerusalem, dabei lässt sich in den Versen 36-43 ein Schwerpunkt auf dem Erweis der Auferstehung finden. In den Versen 44-48 liegt der Akzent auf der Verständnis für das Geschehene.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 35: Dieser Vers gehört zu einem kleinen Abschnitt (Lk 24,33-35), der eine Überleitung zwischen der Emmauserzählung und den folgenden Begebenheiten in Jerusalem schafft. Die Erlebnisse und die Begegnung mit dem Auferstandenen haben die Emmausjünger sofort zurück nach Jerusalem getrieben (Vers 33). Noch bevor sie von ihrer Begegnung mit dem Auferstandenen berichten können, wird ihnen die Erscheinung vor Petrus erzählt (Vers 34). Der Evangelist Lukas bringt damit seine Erzählung des Ostermorgens bis hierhin zusammen mit der Tradition, nach der Petrus der erste Zeuge der Auferstehung ist. Die Erscheinung vor Petrus wird im Lukasevangelium nicht ausführlich berichtet.
Erst nachdem die Emmausjünger gehört haben, wie Petrus dem Auferstandenen begegnet ist, können sie selbst von ihrem Erlebnis erzählen und davon, dass sie den Auferstandenen erst beim Brotbrechen erkannten.
Verse 36-38: So plötzlich wie Jesus in Emmaus verschwunden war (Lk 24,31), so plötzlich taucht er nun in Jerusalem in der Mitte der Jünger auf und damit nimmt die Erzählung an Schnelligkeit auf. Der Friedenswunsch als Gruß ist nicht nur alttestamentlich belegt (Tobit 12,17), Jesus selbst trägt ihn seinen Jüngern als Zuspruch und erstes Wort gegenüber denjenigen auf, denen sie begegnen (Lk 10,5). Es ist persönliches Wort und zugleich Hinweis auf Gottes Wirklichkeit, die Adressat und Absender miteinander verbindet.
Das plötzliche Erscheinen Jesu zeigt an, dass die Auferstehung nicht einfach die irdische Existenz fortsetzt, zugleich birgt sich darin auch die Schwierigkeit, die neue Daseinsweise richtig zu verstehen. Die Reaktion der Jünger und ihr Entsetzen ist zum einen „normale“ Begleiterscheinung einer Gottesbegegnung, zum anderen zeugt sie von einem Fehlverständnis. Sie halten Jesus für ein Geistwesen, ohne Haut und Knochen, ohne Fleisch und Blut – schließlich erscheint und verschwindet er nach Belieben. Auch das Johannesevangelium kennt diese falsche Einschätzung der neuen Existenz Jesu (Johannesevangelium 20,15) und in der Erzählung vom Seewandel ist ein Missverständnis dieser Art ebenfalls angedeutet (Markusevangelium 6,49).
Die anschließende Frage Jesu offenbart, dass er weiß, was ihn ihnen vorgeht („lasst ihr in eurem Herzen Zweifel aufkommen?“). Dies zeigt nicht nur die göttliche Eigenschaft, in die Herzen der Menschen zu schauen, sondern auch, dass diese neue Form des Lebens nicht einfach zu verstehen ist – wenn man beim Ersteindruck stehen bleibt.
Verse 39-40: Den ersten Eindruck durch im wahrsten Sinne „Greifbares“ zu verändern, dies unternimmt Jesus nun. Mit „seht“ und „fasst mich an“ fordert er die Jünger auf, sich davon zu überzeugen, dass er nicht als Geistwesen vor ihnen steht, sondern leibhaftig. Sie sollen durch das Betrachten der Wundmale an Händen und Füßen, die nicht explizit erwähnt werden, aber mitgedacht werden müssen, ihn außerdem als denjenigen erkennen, den sie am Kreuz haben sterben sehen. Jesus ist wahrhaft unter seinen Jüngern und er ist kein anderer als der, den sie zu Lebzeiten bis in den Tod hinein begleitet haben. Die Formel „ich bin es“ zeigt Identität und Kontinuität der Existenz Jesu vor und nach der Auferstehung.
Vers 41-43: Sehr geschickt formuliert der Evangelist nun, dass die Jünger „vor Freude immer noch nicht glauben“ können. Das zeigt, dass das Sehen der Wunden dazu beiträgt, die Realität anzuerkennen, dass es Jesus ist, der vor ihnen steht. Wie dessen Existenz zu verstehen ist, scheint ihnen aber noch verborgen. Jesus wählt daher einen weiteren „Beweis“ seiner leibhaften Anwesenheit: Er isst vor ihren Augen. Damit macht er die Jünger zu wirklichen Zeugen seiner Auferstehung, denn sie selbst sehen ihn nun vor sich und das als Person mit Fleisch und Blut. In der Apostelgeschichte wird Petrus gerade dieses Erlebnis noch einmal als Erweis der Auferstehungsrealität anführen (Apostelgeschichte 10,41).
Verse 44-45: Die Reaktion der Jünger auf den Beweis seiner Leibhaftigkeit bleibt unerzählt. Lukas wechselt den Fokus. Jesus richtet nun ein letztes Mal das Wort an seine Jünger und hilft ihnen, das gerade Erfahrene im Kontext der Heilsgeschichte Gottes zu verstehen. Er verweist auf seine eigenen Ankündigungen des kommenden Leidens, die er als Erfüllung der Schrift kennzeichnet. So wie auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24,27) „öffnet er ihren Sinn für das Verständnis der Schrift“. Er hilft den Jüngern das, was sie als Gottes Wort und Weisung und als Erfahrung glaubender Menschen in den Schriften kennen, auf sein Leben und vor allem auf seinen Tod und seine Auferstehung hin anzuwenden.
Lukas verwendet beim Rückgriff auf die Schrift nicht nur die gängige Verbindung aus Gesetz und Propheten, sondern erweitert diese um „Psalmen“. Die liegt offenbar in der Bedeutung, die Lukas den Psalmenworten ganz persönlich als Glaubenszeugnis zuspricht. Zu Beginn der Apostelgeschichte spricht er vom „Erfüllen“ eines Psalmwortes (Apostelgeschichte 1,16) und nutzt immer wieder Zitate aus den Psalmen zur Deutung und Kommentierung des Geschehens.
Verse 46-47a: In einer Art Kurzzusammenfassung nimmt Jesus Bezug auf die Heilige Schrift und ihre prophetische Verheißung. „Es steht geschrieben“ bezieht sich zurück auf die Verse 44-45. Hier ruft Jesus nun explizit die jüngsten Ereignisse (Leiden und Auferstehung) in Erinnerung, denn sie sind den Jüngern noch unmittelbar in Erinnerung. Von diesen Ereignissen ausgehend kann „in seinem Namen“ nun die Verkündigung an die Völker begonnen werden.
Die Verbindung von Umkehr und Vergebung der Sünden war im Lukasevangelium bereits in der Predigt Johannes des Täufers gleich zu Beginn thematisiert worden (Lk 1,77) und sie wird sich auch in der Apostelgeschichte als Thema der Verkündigung durch die Apostel fortsetzen, z.B. in der Predigt des Paulus auf dem Areopag in Athen (Apostelgeschichte 17,30). Auf diese Weise ist die Aufforderung zur Umkehr zum einen ein Appell an Israel durch Johannes den Täufer und zugleich ein Appell an „die Völker“ in der Verkündigung des Paulus.
Verse 47b-48: Die Art und Weise der Verkündigung wird nun genauer beschrieben: Sie geschieht von Jerusalem ausgehend für alle Völker (vgl. Apostelgeschichte 1,8 „Grenzen der Erde“). Die Jünger sind Zeugen (martys, griechisch: μάρτυς) und damit Träger der Botschaft. Erstmalig wird hier der Begriff des „Zeugen“ im Lukasevangelium gebraucht und dann in der Apostelgeschichte vielfach entfaltet. Allerdings wird der Begriff nur auf die Apostel und Paulus bzw. Stephanus angewendet. Denn „Zeuge“ ist nur, wer den Auferstandenen gesehen hat und durch Jesus Christus erwählt wurde. Da die Erwählung auch durch den Auferstandenen stattgefunden haben kann, können auch Paulus und Stephanus zu den Zeugen gerechnet werden. Sie haben beide den Auferstandenen in einer Vision geschaut und damit Erwählung erfahren.