Simeon und Hanna zeigen uns: Warten heißt, auf die Treue Gottes vertrauen.
1. Verortung im Evangelium
Die Szene im Tempel schließt unmittelbar an die Erzählungen der Geburt Jesu in Bethlehem an. Von dort aus gehen die Eltern mit dem Kind direkt nach Jerusalem und kehren erst danach in ihre Wohnstadt Nazareth zurück. Von dort wird jedoch zunächst nichts berichtet, vielmehr ist die Rückkehr nach Nazareth nur eine Notiz, die die vorliegende Episode von der nachfolgenden, die ebenfalls in Jerusalem spielt, abhebt.
2. Aufbau
Die Verse 22-24 dienen der Einleitung in die Gesamtszene und ordnen das Tun der Eltern Jesu ein in die jüdischen Zeitabläufe und Rituale. In den Versen 25-35 ist Simeon mit seiner Weissagung über das Kind im Mittelpunkt, bevor in den Versen 36-38 die Prophetin Hanna in den Fokus rückt. Die Verse 39-40 schließen die Erzählung ab und verschränken sie mit der nachfolgenden Episode vom elfjährigen Knaben Jesus in Jerusalem.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 22-24: Mit den einleitenden Versen beschreibt Lukas die Familie Jesu als fromme Juden. Sie halten sich an die vorgeschriebenen kultischen Reinheitsgebote der Tora, wie sie im Buch Levitikus festgehalten sind (hier Levitikus (Lev) 12). Dazu gehört das Abwarten der Zeitspanne von 40 Tagen nach der Geburt eines Sohnes, bevor die Mutter wieder für rein erklärt wird und zum Tempel hinzutreten darf (Lev 12,2-4). Ebenso gehört dazu das Darbringen eines Opfer. Lukas schildert, dass die Eltern Jesu zwei Tauben und nicht das eigentlich übliche einjährige Schaf, damit machen sie von der Möglichkeit Gebrauch bei geringen finanziellen Mitteln auch ein kleineres Opfer vorzunehmen (Lev 12,8). Auch das Hinbringen des Kindes zum Tempel, um es Gott zu weihen, entspricht den Weisungen Gottes, so wie sie Mose beim Auszug aus Ägypten dem Volk weitergibt (Exodus 13,2).
Verse 25-26 und 36-37: Die beiden Hauptpersonen des Abschnitts werden von Lukas ausführlich vorgestellt. Er folgt dabei dem Erzählstil der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der Septuaginta. Seine Leser dürften mit diesem Stil vertraut gewesen sein und sofort erkannt haben, dass der Evangelist mit Simeon und Hanna zwei für die Handlung des Abschnitts wichtige Personen einführt. Zur Vorstellung der Personen gehört die Angabe des Geschlechts, des Wohnorts oder der Herkunft, der Name und wichtige Charakterzüge. Vor allem auf die Ausgestaltung der Eigenschaften von Hanna und Simeon legt Lukas großen Wert. Auch bei ihnen betont er ihren Glauben, der sich in der Erwartung des Messias, aber auch im Gebet, Fasten und der im Tempel verbrachten Zeit wiederspiegelt. Diese lebendige Beziehung zu Gott wird auch deutlich durch ihre Begabung mit dem Heiligen Geist ausgedrückt. Bei Simeon wird explizit gesagt, dass der Geist auf ihm ruht (Vers 25), bei Hanna ist das in der Beschreibung als Prophetin implizit mitzudenken (Vers 36).
Vers 27: Das Zusammentreffen der Eltern Jesu mit Simeon geschieht nicht zufällig. Lukas erwähnt wie unter anderem auch in Lk 4,1 und 4,14 den Heiligen Geist als treibende Kraft. Er führt Menschen zusammen, lenkt ihre Wege und weist die Richtung. Hier bewirkt er, dass Simeon der auf den Messias wartet, zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, um diesem Messias zu begegnen und festzustellen, dass seine Hoffnungen richtig waren.
Verse 29-32: Das Loblied des Simeon, das auch „nunc dimittis“ genannt wird, bildet den Mittelpunkt der Erzählung. Simeon spricht aus der Perspektive dessen, der soeben gesehen hat, dass Gottes Zusagen wahr werden und sein Vertrauen in Gott berechtigt ist. Deshalb kann er am Ende seines Lebens in Frieden sterben. Er hat mit eigenen Augen im Kind gesehen, dass Gottes Zusage für alle Menschen gilt. Lukas nimmt in den Worten des Simeon dabei Bezug vor allem auf das Buch Jesaja, in dem sowohl vom Trost für Israel gesprochen wird (Jesaja 40,1, vgl. Lk 2,25) als auch von Gottes Heil, das er Israel vor den Augen aller Völker schenkt und das sich von Israel aus auf alle Menschen ausweitet (Jes 39,1-13). In Jesus erkennt Simeon, dass Gottes Heil für Israel und alle Völker nahe ist.
Vers 33: Wenn Lukas das Staunen der Eltern erwähnt, betont er damit die Worte des Simeon. Auch Maria und Josef sind überrascht über die universale Heilsbedeutung, die Simeon dem Kind zuspricht.
Verse 34-35: Simeon spricht ausdrücklich die Mutter Jesu an. Das Wort vom Schwert, das durch die Seele dringt, erinnert an den Beginn des Magnifikats, des Lobgesangs der Maria (Lk 1,46-55). Ist dort die Seele Marias voll Freude über das machtvolle Handeln Gottes an ihr und seinem Volk, wird hier deutlich, dass dieses Handeln für sie (und das Volk) auch schmerzhaft sein wird. Maria selbst wird mit ansehen müssen, wie ihr Sohn leidet und stirbt. Das Volk Israel wird erfahren müssen, dass mit dem Auftreten Jesu das Gewohnte durcheinandergebracht wird. Wie Maria im Magnifikat besingt, werden Machtverhältnisse umgekehrt und die Bedrängten erfahren die Barmherzigkeit Gottes (Lk 1,52-53). Das „Fallen und Aufstehen“ ist das Bild für die Umkehrung des Gewohnten. Und es bringt ins Wort, dass sich von nun an an der Annahme Jesu entscheidet, wer zu Gott gehört und wer nicht. Er wird das Kriterium für Heil und Unheil, denn die einen erkennen ihn ihm den Messias, die anderen lehnen ihn ab.
Verse 39-40: Mit Vers 39 endet nicht nur die Szene im Jerusalemer Tempel, zugleich endet auch die Folge von Episoden, in denen Maria und Josef fern ihres Wohnortes Nazareth sind. Vom Lk 2,4 an waren sie unterwegs und kehren erst nun zurück. Die Notiz über das Heranwachsen Jesu korrespondiert einer ähnlichen Notiz über Johannes den Täufer in Lk 1,80 und wird in Lk 2,52 noch einmal wiederholt.