Vom Maulbeerbaum und unnützen Knechten. Das heutige Evangelium spricht über Selbsteinschätzung und das Erfüllen einer Pflicht.
1. Verortung im Evangelium
Die Worte an die Jünger in Lukasevangelium (Lk) 17,5-10 gehören zu einer kleinen Szene zwischen Jesus und seinen Jüngern, in der es um das Selbstverständnis der Jünger und ihr Handeln geht. Diese schließt sich scheinbar nahtlos an die Rede an die Pharisäer in Lk 16,14-31 samt dem Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus an. Zu Lk 17,5-10 gibt es keine eigene szenische Einbettung, dadurch hängt sie zwischen der Pharisäerszene zuvor und der nachfolgenden Szene auf dem Weg durch das Grenzland zu Samarien (Lk 17,11-21) etwas in der Luft. Erzähltechnisch ist sie mit der vorangehenden Szene insofern verbunden, als in beiden Szenen eine Gleichniserzählung Verwendung findet.
2. Aufbau
Die Verse 5-6 enthalten eine Bitte der Jünger und eine darauffolgende Antwort Jesu. Einerseits ist dieser Dialog in sich geschlossen. Andererseits bietet die anschließende Gleichniserzählung (Verse 7-10) eine Hilfestellung für die fragenden Jünger in Vers 5 an.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 5-6: Die Frage bzw. Bitte der Apostel in Vers 5 lässt sich nur von der Antwort Jesu aus richtig verstehen. Die Antwort ist so formuliert, dass sie den Inhalt der Frage der Apostel als Trugschluss entlarvt. Das Bild vom Maulbeerbaum – der auf keinen Fall verrückbar ist – nimmt nicht auf die „Größe“ des Glaubens der Jünger Bezug, sondern auf den fehlenden Glauben der Jünger. Es ist dabei offensichtlich so, dass der Evangelist Lukas das Bildwort vom Maulbeerbaum geschickt in die Szene einbaut, ohne damit ein endgültiges Urteil über die Kraft des Glaubens zu fällen.
Die Jünger äußern den Wunsch, Jesus möge ihren Glauben stärken. Daraufhin macht er ihnen im Bild vom Maulbeerbaum deutlich, dass es ihnen noch grundlegend an Glauben mangelt. Ihr Glaube ist eben nicht mal so groß wie ein Senfkorn. Wenn es anders wäre, könnten sie selbst mit der Kraft ihres kleinen/geringen Glaubens den Maulbeerbaum verpflanzen. Indem der Evangelist Lukas Jesus den Jüngern gegenüber diesen Vergleich bringt, nimmt er ihn aus dem normalen Gemeindeleben heraus. Denn die Apostel, die einen herausgehobenen Status innerhalb der Jüngergemeinschaft haben, ihnen ist durchaus eine derartige Glaubenskraft zuzutrauen. Für die Leser des Lukasevangeliums ist eine solche eigene Kraft jedoch nicht vorstellbar. Wenn das Wort vom Maulbeerbaum allgemein formuliert wäre, wäre es für die Gemeinde und ihren Glauben irritierend, weil das Geschilderte unmöglich ist.
Verse 7-8: Die Einleitung „wenn einer von euch“ hatte der Evangelist Lukas bereits an mehreren Stellen verwendet, z.B. in der Einleitung zum Doppelgleichnis vom verlorenen Schaf und der verlorenen Drachme (Lk 15,4.8). Hier wird eine Situation konstruiert, die zwar zwei Handlungsalternativen vorschlägt, von denen aber nur eine denkbar ist. Den Hörern des Gleichnisses wird die Rolle des Herrn zugewiesen, dessen Knecht von der Arbeit kommt. Die rhetorischen Fragen der beiden Verse sind eng miteinander verbunden, denn vor allem vor dem Hintergrund der alternativen Vorgehensweise in Vers 8 wird die Frage in Vers 7 eindeutig beantwortbar. Niemand wird dem Knecht, der für die Haus- und Feldarbeit zuständig ist, sagen, er möge sich zu Tisch setzen, bevor der Herr selbst nicht gespeist hat.
Vers 9: Die weitere rhetorische Frage schließt sich sofort in der Bildwelt an: Das Verrichten einer aufgetragenen Aufgabe braucht keinen expliziten Dank.
Vers 10: Es folgt die Erläuterung des Gleichnisses und die Anwendung auf die reale Situation (Frage der Jünger). Dabei schlüpfen diese nun aber in die Rolle des Knechts und nicht wie anfangs in die des Herren. Die Übertragung auf die Jünger hat eine doppelte Aussage: Sie sollen sich erstens als „unnütze Knechte“ betrachten, d.h. ihre Selbsteinschätzung relativieren. Und zweitens sollen sie das Ausführen der aufgetragenen Aufgaben als etwas betrachten, das keinen expliziten Dank nach sich zieht. Ihr Handeln als Jünger ist – wie das Handeln des Knechtes – reine Erfüllung einer Pflicht.