Das Maß ist voll! Im Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus geht es um die „Life-Balance“ von Nehmen und Empfangen.
1. Verortung im Evangelium
Der Fokus des 16. Kapitels des Lukasevangeliums (Lk) liegt im Wesentlichen in der Frage von Reichtum und Besitz. Hatte Jesus in Lk 16,1-13 explizit den Jüngern das Gleichnis vom klugen Verwalter mit auf den Weg gegeben und sie zu klugem Umgang mit Geld und Besitz gemahnt, so sind ab Lk 16,14 die Pharisäer direkte Adressaten der Worte Jesu. Ihnen wird mit dem Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus das Thema Besitz, Reichtum und Gewissheiten im Sinne Jesu erschlossen.
2. Aufbau
Der Abschnitt besteht aus einer szenischen Einleitung (Verse 19-21). Die Verse 22- 23 berichten von der Umkehrung der Ausgangssituation und leiten damit über in einen Dialog zwischen Abraham und dem Reichen (Verse 24-31). Das Gespräch zwischen den beiden lässt sich noch einmal in zwei Teile gliedern: Verse 24-26 und 27-31. Beide Teile werden durch Bitten des reichen Mannes eingeleitet (Vers 24 und 27).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 19: Die Charakterisierung des reichen Mannes erfolgt seinen Lebensstil. Seine Kleidung besteht aus „Purpur“ und „feinem Leinen“. Purpur ist eigentlich ein Farbstoff, bezeichnet aber auch damit gefärbtes Tuch. Weil Purpur von der Purpurschnecke gewonnen wird und damit besonders teuer ist, gilt purpurne Kleidung als Herrschaftssymbol. Der „feine Leinen“ heißt im griechischen Original byssus (griechisch: βύσσος) und bezeichnet ein feines Leinen-, Baumwoll- oder Seidengewebe. Damit hebt sich die Kleidung der Wohlhabenden, wie hier des reichen Mannes, von dem einfachen Leinengewand der normalen Bevölkerung ab.
Verse 20-21: Gegenüber der Darstellung des reichen Mannes nimmt die Charakterisierung des Lazarus einen breiteren Raum ein. Schon sein Name trägt dazu bei, denn Lazarus ist die griechische Übersetzung des hebräischen „Gott hat geholfen“. In gewisser Weise wird durch die Namensgebung bereits etwas von der Pointe der Geschichte vorweggenommen. Weiter wird Lazarus durch seine Krankheit (Geschwüre) und seine Not (Hunger) gekennzeichnet. Dabei wird er erzählerische geschickt mit der Lebenswelt des Reichen verbunden: Er liegt vor dessen Tür und möchte seinen Hunger mit dessen Abfällen stillen.
Sowohl der Wunsch, sich von den Abfällen zu ernähren, als auch das Lecken der Geschwüre durch die Hunde präzisieren das große Elend des Lazarus. Dass Lazarus dabei mit den Hunden konkurrieren muss, denn sie bekommen normalerweise die Tischabfälle, und der Wunsch des Lazarus, sich an den Abfällen zu sättigen, nicht erfüllt wird, verstärken ebenfalls die Dramatik der Szene.
Vers 22: Nun wird in umgekehrter Reihenfolge zu den Versen 19-21 das weitere Schicksal der beiden Hauptpersonen beleuchtet. Während vom reichen Mann zunächst nur berichtet wird, dass er stirbt und bestattet wird, wird das Ableben des Lazarus eher außergewöhnlich dargestellt. Lazarus wird von Engeln in Abrahams Schoß getragen und damit entrückt. Damit wird er im Gleichnis eingereiht in eine Folge bedeutsamer Personen wie den Propheten Elija oder Mose. Von beiden wird im Alten Testament berichtet, dass sich kein Grab finden lässt (Mose im Buch Deuteronomium 34,6) bzw. der Leichnam wird nicht gefunden (Elija im 2. Buch der Könige 2,16-17). Das Bild vom Ruhen in Abrahams Schoß ist geprägt von der Vorstellung eines behüteten Kindes so wie zum Beispiel im 1. Buch der Könige 17,19, wenn Elija einen kranken Knaben trägt, um ihn anschließend zu heilen: „Und er nahm ihn von ihrem Schoß, trug ihn in das Obergemach hinauf, in dem er wohnte, und legte ihn auf sein Bett.“
Vers 23: Die Unterwelt und der Ort, an dem sich Lazarus befindet, sind einerseits deutlich voneinander getrennt (in Vers 26 ist von einem „unüberwindlichen Abgrund“ die Rede), andererseits kann man von einem zum anderen Ort hinüberblicken und sprechen. Dies wird für den kommenden Dialog wichtig.
Die Unterwelt ist gedacht als ein Ort des Unheils. Sie ist der endgültige Platz für diejenigen, denen nach ihrem Leben kein Heil zugesprochen wird. Die Unterwelt wird hier nicht als ein „Übergangsort“ bis zum Endgericht gedacht, sondern als ein Ort, der das dauerhafte Geschick nach dem Tode abbildet.
Verse 24-26: Der erste Dialog zwischen dem Reichen und Abraham setzt ein mit der Bitte um Wasser. Die Unterwelt wird damit entsprechend dem Bild in Jesaja 66,24 als ein Ort gedacht, an dem ein unauslöschliches Feuer brennt. Die Dramatik der jetzigen Situation des reichen Mannes wird dadurch veranschaulicht, dass er sich schon von einem Finger mit Wasser Linderung seiner Qualen verspricht.
Die Antwort Abrahams hat einen rein erklärenden Charakter. Die jetzige Situation der beiden Männer ist eine scheinbar logische Umkehrung der Lebenssituationen der beiden. Im Hintergrund steht die Vorstellung, dass Gott bei jedem Menschen auf ein ausgewogenes Maß an gutem und schlechtem Schicksal achtet. Und wo diese Ausgewogenheit nicht im irdischen Leben besteht, stellt er sie im Jenseits her. Der Reiche hat „seine Wohltaten“ bereits im Leben erhalten und darum wird im Jenseits nichts mehr dazu gefügt. Anders bei Lazarus, dessen Maß an Schlechtem im Leben bereits angefüllt war und nun seinen Ausgleich an Gutem in Abrahams Schoß erhält.
Der Hinweis Abrahams auf den „unüberwindlichen Graben“ zeigt noch einmal die Endgültigkeit der jetzigen Situation an.
Verse 27-31: Der zweite Dialog beginnt mit der Bitte des reichen Mannes, Lazarus möge seine Brüder vor einem ähnlichen Schicksal warnen. Die Vorstellung, dass jemand aus der Unterwelt zu den Lebenden zurückkehrt und sie warnt, ist ein bekanntes Motiv antiker Literatur. Es wird hier jedoch nicht weiter ausgeführt, denn weder wird konkretisiert, was Lazarus den Brüdern des reichen Mannes ausrichten soll, noch auf welche Weise sie einem solchem Schicksal entgehen können. Erst durch die Antwort Abrahams in Vers 29 wird mit dem Stichwort „Mose und die Propheten“ ein Hinweis gegeben. Damit wird zugleich eine Brücke geschlagen zu den eigentlichen Hörern des Gleichnisses, den Pharisäern. Mose und die Propheten sind ihre Bezugsgrößen, wenn es um die Gestaltung eines gottgefälligen Lebens geht. Ihnen wird also indirekt vorgehalten, sich nicht konsequent an die Weisungen der Schrift und ihre Konsequenzen zu halten.
Der letzte Teil des Dialogs beinhaltet noch einen weiteren Einwand des reichen Mannes. In der Formulierung „wenn einer von den Toten zu ihnen kommt“ sollte keine direkte Anspielung des Evangelisten Lukas auf die Auferstehung Jesu und das Scheitern der Christusverkündigung gegenüber den Juden gesehen werden. Erstens verwendet Lukas das Wort „überzeugen“ in seinem gesamten Werk nie in der negativen Weise (nicht überzeugen = ablehnen), zweitens geht es dem Evangelisten nur am Anfang der Apostelgeschichte in Jerusalem um ein Überzeugen der Juden und die Einladung zur Umkehr (danach wird dies nur noch über die Nicht-Juden ausgesagt). Drittens geht es bei den Brüdern des reichen Mannes nicht um Stellvertreter einer ablehnenden jüdischen Haltung der Christusbotschaft gegenüber. Das Argument, sich auch nicht von einem überzeugen zu lassen, der von den Toten zurückkehrt, ist darum ganz aus der Erzählung heraus zu denken. Wer sich nicht durch die bisher maßgeblichen Zeugen der Botschaft Gottes (Mose und die Propheten) zu einem bestimmten Verhalten hat überzeugen lassen, der wird sich auch nicht bekehren, wenn Lazarus nun aus dem Totenreich zurückkehrt, um eine Warnung auszusprechen.