Weniger ist mehr! Was wie ein Tipp zur Lebensmaximierung klingt, weist in der Logik des Evangeliums auf ein anderes Wertesystem hin.
1. Verortung im Evangelium
Die Szene im Lukasevangelium (Lk) 15,1 schließt sich an die vorangegangenen Episoden an. Irgendwo auf dem Weg nach Jerusalem, auf dem Jesus „viele Menschen“ (Lukasevangelium 14,25) begleiten, spricht Jesus nun in Gleichnissen (Beispielgeschichten) zu den Menschen und ganz besonders zu den „Pharisäern und Schriftgelehrten“. Zu Beginn von Kapitel 16 wird er sich dann sehr konkret den Jüngern als Adressaten seiner Worte zuwenden.
2. Aufbau
Vers 1 bietet die Ausgangssituation für das gesamte Kapitel: „Zöllner und Sünder“ kommen, um Jesus zu hören. In Vers 2 wird durch die Konfrontation mit den „Pharisäern und Schriftgelehrten“ ein Konfliktgespräch begonnen, indem Jesus durch eine ausführliche Gleichnisrede Stellung bezieht. Die parallel aufgebauten Gleichnisse vom Schaf und der Drachme (Verse 4-10) erzählen von der Freude im Himmel über die Umkehr eines einzigen Sünders. Die Doppelkonstruktion der Gleichnisse erinnert an die beiden Gleichnisse in Lk 14,28-32 (Turmbau und Kriegsführung). Das Gleichnis vom verlorenen Sohn veranschaulicht erzählerisch, was die Gleichnisse zuvor behaupten (Freude über das Wiedergefundene). Deshalb sind die Gleichnisse in Kapitel 15 des Lukasevangeliums auch durch die Worte „verlieren – finden“ und „Freude“ eng miteinander verbunden.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 1-3: In Lk 14,25 war von einer großen Menge die Rede, die mit Jesus zog. Nun werden zwei Gruppen aus dieser Menge explizit in den Blick genommen: „Sünder und Zöllner“ einerseits und „Pharisäer und Schriftgelehrte“ andererseits. Diese Gruppierungen liefern für die folgenden Gleichnisse einen Verstehenshorizont: Immer wieder gerät Jesus im Laufe seiner Verkündigung mit Pharisäern und Schriftgelehrten aneinander. Sie, die sehr strikt nach den Geboten Gottes zu leben versuchten, hielten sich nach Möglichkeit entfernt von Menschen, die sich nicht oder kaum an Gottes Gebote hielten. Zu solchen Menschen gehörten Sünder und Zöllner. Der Beruf des Zöllners steht in einem schlechten Ruf, weil diese oft ohne Skrupel möglichst viel Geld von den anderen einforderten.
Wenn der Evangelist Lukas hier bereits zweimal das Stichwort „Sünder“ auftauchen lässt, dann verweist er auf einen Grundkonflikt zwischen den „Pharisäern und Schriftgelehrten“ und Jesus. Sein Verhalten gegenüber Sündern, also denen, die sich vermeintlich durch ihre Lebensweise von Gott abgewandt hatten, war für „Pharisäer und Schriftgelehrte“ nicht tolerierbar. Das erzählte Gleichnis ist also eine direkte Antwort Jesu auf den Vorwurf der Pharisäer und Schriftgelehrten: „Dieser nimmt Sünder auf und isst mit ihnen.“
Vers 4: Hier wie in Vers 8 beginnt der Evangelist Lukas das Gleichnis jeweils mit einer rhetorischen Frage. Er ist sich sicher, dass niemand anders handeln würde, als die beiden Personen (Hirte und Frau). Bei der Gegenüberstellung von 99 zu 1 geht es nicht darum eine große Menge dem Einzelnen gegenüberzustellen und so einen Kontrast aufzubauen. Vielmehr geht es um das Verlorensein des einen Schafes (und später der Drachme). Dieses Verlorensein initiiert ein neues Wertesystem, in dem es nicht um Zahlen geht.
Verse 5-6: Das Wiederfinden des einen Schafes wird zum Anlass der Freude. Sie drückt sich aus in der fürsorgenden Zuwendung (Schaf wird über die Schultern gelegt) und der Einladung an die Freunde und Nachbarn. Das Motiv der Freude, das für die Gesamtdeutung der drei Gleichnisse wichtig ist, wird eingeführt.
Unerzählt bleibt allerdings, was mit dem verlorenen Schaf passiert und ob die Einladung zur Feier der Freude von den Nachbarn und Freunden angenommen wird. Dies zeigt, wo der wirkliche Fokus der Gleichnisse liegt: Die Freude über das Verlorene und die Übertragung auf die Ebene Gottes.
Vers 7: Die Pointe des Gleichnisses wird in die Ausgangssituation hinein übertragen. Dort ging es den Pharisäern und Schriftgelehrten um die Nähe Jesu zu den Sündern und um die Frage nach der Gottesbeziehung des Einzelnen – auch des Sünders. Durch die Entschlüsselung des Gleichnisses sollen die Pharisäer und Schriftgelehrten die Sünder als Verlorene ansehen – dies soll sie in ein neues Werteverständnis hineinführen.
Vers 8: Die Situation entspricht derjenigen aus Vers 4. Allerdings ist hier die Relation des Verlorenen von Bedeutung. Hatte der Hirte eines von 100 Schafen verloren, so verliert die Frau eine von 10 Drachmen und damit 10% des Besitzes.
Verse 9-10: Geschlechterspezifisch werden hier Freundinnen und Nachbarinnen zum Mitfeiern der Freude über das Wiedergefundene eingeladen. Im Übrigen entspricht die Übertragung derjenigen aus Vers 7. Die „Engel Gottes“ stehen für die himmlische Welt, die in Freude über den Sünder, der umkehrt, verfällt.
Vers 11: Die Eröffnung „ein Mann…“ ist eine typische Redeeinleitung für beispielhafte Erzählungen im Lukasevangelium (siehe auch Lk 10,30 und Lk 14,16).
Verse 12-13: Die Ausgangssituation wird geschildert. Mit der Auszahlung des Erbes verliert der jüngere Sohn alle weiteren Ansprüche. Die Verben „zusammenpacken“ und „verschleudern“ stehen sich mit ironischem Unterton gegenüber und bereiten auf die folgende Krise vor.
Verse 14-16: Der Begriff „große Hungersnot“ ist sowohl aus der Bibel (z.B. Genesis 12,10) als auch in der griechischen Literatur bekannt. Eine solche Hungersnot kann unterschiedliche Ursachen haben (Missernten, Naturkatastrophen, Kriege etc.), sie hat jedoch immer dasselbe Ergebnis: Nahrung ist knapp und teuer und die Armen sind die Leidtragenden. Zu diesen Armen gehört nun auch der Sohn, der zuvor alles Zusammengepackte verschleudert hat.
Weil er nicht mehr über ausreichend Geld verfügt, um die teuren Lebensmittel zu kaufen, muss der Sohn seine Arbeitskraft verkaufen. Die Umschreibung „sich aufdrängen“ beschreibt die Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses, das anders als bei Tagelöhnern/Tageskräften, auf Dauer angelegt war. Ein Teil der Entlohnung konnte in der Bereitstellung hier in Form von Unterkunft, Nahrung und Kleidung erfolgen. Das Hüten der Schweineherde symbolisiert den sozialen Abstieg des Sohnes. Schweine sind nach dem jüdischen Gesetz unreine Tiere. Wenn Lukas erzählt, dass sich der Sohn aus Not sogar das Essen mit ihnen teilen würde, wird der vollkommene Abstieg des Sohnes deutlich.
Verse 17-19: Die Krisenerfahrung führt den Sohn in eine innere Einkehr („er ging in sich“ Vers 17). In Form eines inneren Monologs vergleicht er seine Lebenssituation mit der Situation der Lohnarbeiter seines Vaters: Während diese „im Überfluss haben“, kommt er vor Hunger um. Im Griechischen steht hier das Wort „apollymi“ (ἀπόλλυμι), das übersetzt sowohl „verlieren/verloren gehen“ wie „umkommen“ heißen kann. Der Evangelist Lukas spielt hier bewusst mit der Doppeldeutigkeit der Vokabel. Im Bild vom „Verlorengehen“ und „Wiedergefunden werden“ nimmt er später genau dieses Wort wieder auf.
Die erste Folge des Nachdenkens des Sohnes ist das Eingeständnis der eigenen Schuld. Ein vergleichbares Bekenntnis findet sich zum Beispiel im Buch Exodus: „Da ließ der Pharao Mose und Aaron eiligst rufen und sagte zu ihnen: Ich habe gegen den HERRN, euren Gott, gesündigt und auch gegen euch.“ (Exodus 10,16)
Die zweite Folge des Nachdenkens ist die Feststellung der eigenen Unwürdigkeit, also des Zurückbleibens hinter den eigenen Ansprüchen und den religiösen und sozialen Erwartungen (Umgang mit dem Erbe, Zusammenleben mit Schweinen). Damit einher geht die Bereitschaft, den eigenen Status aufzugeben. Interessant ist, dass der Sohn zwar davon abrückt, als Sohn mit den entsprechenden Rechten zurückzukehren, er zugleich aber weiterhin vom „Vater“ spricht. Diese Verhältnisbestimmung „Vater-Sohn“ bleibt für ihn intakt, auch wenn er sich als unwürdig erwiesen hat.
Verse 20-21: Der Sohn setzt sein inneres Vorhaben um und bricht zum Vater auf. Noch bevor der Sohn seine Schuld eingestehen kann, wird die Reaktion des Vaters geschildert. Die Pointe dieses Abschnitts entsteht aus der natürlichen Erwartung der Leser und dem tatsächlichen Verhalten des Vaters. Das Wort „Mitleid haben“ entstammt dem griechischen Wort „splangnizomai“ (σπλαγχνίζομαι), was so viel bedeutet wie „bis ins Innerste, die Eingeweide erschüttert werden“. Es geht also nicht um ein oberflächliches „Mitfühlen“, sondern um ein wortwörtliches „Mitleiden“, das unter die Haut geht und spürbar wird.
Verse 22-24: Interessanterweise spricht der Vater nicht zu seinem Sohn, sondern zu den Knechten. Die Anweisungen für die Behandlung des Zurückgekehrten (Kleidung, Schuhe, Ring) bedeuten nicht, dass der jüngere Sohn in seine alte Stellung als Erbe zurückversetzt wird. Es kommt aber eine besondere Ehrung zum Ausdruck. Insofern stimmt die Reaktion des Vaters mit dem inneren Monolog in den Versen 17-19 überein. Das Verhältnis „Vater-Sohn“ existiert weiter, eine Wiedereinsetzung als Erbe erfolgt nicht. Der jüngere Sohn hat seinen Teil erhalten und ist damit unwürdig oder unverantwortlich umgegangen, er bekommt diese Chance nicht noch einmal.
Das „Mastkalb“ ist ein besonders teures Schlachttier, weil es neben Grünfutter auch Getreide, also teures Futter bekam.
Der Aufruf zum Fest „wir wollen essen und fröhlich sein“ führt das Leitmotiv „Freude“ für das anschließende Streitgespräch mit dem älteren Sohn ein. Die Begründung für das Fest und die Freude ist der Unterschied zwischen einst und jetzt. Mit der Gegenüberstellung „tot – lebendig“ greift der Evangelist auf typische Vokabeln aus Bekehrungsgeschichten zurück. Die Bildwelt „verloren – wiedergefunden“ hingegen verweist auf die Gleichnisse vom verlorenen Schaf und der verlorenen Drachme in den Versen 4-10. Diejenigen, die die Gleichnisse am Stück lesen oder hören, erkennen hier sofort, dass sie eine Einheit bilden und sich gegenseitig deuten.
Verse 25-32: Die Schlussszene des Gleichnisses erfolgt in der Form eines Streitgesprächs und schließt damit einen Boden zur Auseinandersetzung Jesu mit den „Pharisäern und Schriftgelehrten“ in Vers 2.
Der ältere Sohn kehrt erst zurück als das Fest schon in vollem Gange ist, er hat von den Vorbereitungen und der reumütigen Wiederkehr des Bruders nichts mitbekommen. Durch einen Filter (Schilderung des Knechtes) wird er in die Geschehnisse einbezogen, er erhält die „wesentlichen Infos“: der Bruder ist zurück und der Vater ließ das Mastkalb schlachten, weil er wohlbehalten heimgekehrt ist. Die Worte des Knechtes trivialisieren das Geschehen und führen so hinein in die heftige Reaktion des älteren Sohnes.
In Vers 28 prallen die Einstellungen des Vaters und des älteren Sohnes aufeinander: Während der Vater gutzuredet (wörtlich: bittet, einlädt) will der Sohn „nicht hineingehen“. Die Verwendung des Imperfekts bei beiden Verben (bitten – nicht hineingehen wollen) bedeutet, es geht nicht um eine vorübergehende Haltung, sondern um eine grundlegende und anhaltende Ablehnung bzw. Einladung!
In den Versen 29-32 stehen sich nun die Argumente von älterem Sohn und Vater gegenüber. Zu jedem Argument des Sohnes hat der Vater dabei ein Gegenargument. Jedoch diskutieren sie auf unterschiedlichen Ebenen: Für den Sohn ist der Anlass zum Ärgernis und zur Ablehnung das Fest, das für den Bruder ausgerichtet wurde – trotz des bekannten Lebenswandels. Er stellt dem Fehlverhalten des Bruders sein eigenes gutes Verhalten gegenüber. Für den Vater ist jedoch nicht das Verhalten entscheidend, sondern die Tatsache, dass seine Kinder bei ihm sind. Der eine war es immer, der andere war verloren und ist nun wiedergefunden. Die Wiederkehr des jüngeren Sohnes ist für den Vater der Anlass für das gemeinsame Fest: „aber man muss doch ein Fest feiern und sich freuen“.