Wie die Jungfrau zum Kind kommt, das erklärt der Evangelist Lukas für uns moderne Menschen mit rationalen Maßstäben genauso wenig zufriedenstellend wie es die überraschte Maria vielleicht empfunden hat. Wozu uns der heutige Text aber einlädt, ist die Offenheit, das Undenkbare zu denken und dem Wirken Gottes und seinem Zutrauen in den Menschen mit Vertrauen zu begegnen.
1. Verortung im Evangelium
Die Ankündigung der Geburt Jesu folgt unmittelbar auf die Erzählung von der Begegnung zwischen dem Engel Gabriel und dem Priester Zacharias im Tempel in Jerusalem und der darin verkündeten Geburt Johannes‘ des Täufers. So prägen zwei Verkündigungsepisoden den Anfang des Lukasevangeliums. Sie sind nicht nur literarisch ganz ähnlich gestaltet, sondern weisen voraus auf eine Verschränkung der Lebenswege und Bestimmungen der beiden Personen, deren Geburt angekündigt wird.
2. Aufbau
Die Verse 26-27 liefern den Szenenaufbau für das nachfolgende Geschehen, indem sie die handelnden Personen (Gabriel, Maria, Gott) vorstellen und eine räumliche Einordnung (Nazaret in Galiläa) vornehmen. Durch das zeitliche in Beziehung setzen (im sechsten Monat der Schwangerschaft Elisabets) zur vorangegangenen Episode werden diese in einen direkten Zusammenhang gesetzt. In den Versen 28-29 wird der Gruß des Engels und Marias Verwunderung wiedergegeben, bevor in den Versen 30-33 die eigentliche Geburtsankündigung ergeht.
Die Verse 34-37 sind als Dialog zwischen Gabriel und Maria aufgebaut und liefern einen Verständnisrahmen für das zuvor Erzählte. Der Einwand der Maria in Vers 34 führt zu einer Entfaltung der Botschaft des Engels und der Ankündigung eines Zeichens.
Vers 38 beendet in seinem ersten Teil auf „untypische“ Weise die Szene, da Maria als Empfängerin der Botschaft das Schlusswort überlassen wird. In seinem zweiten Teil rahmt die Notiz vom Weggang des Engels die Episode im Haus der Maria erzählerisch.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 26: Die für biblische Leser so vertraute „Stadt“ Nazaret muss zur Zeit, in der die Erzählung spielt, ein vollkommen unbedeutendes und kleines Dorf im südlichen Galiläa, 6km von Sepphoris entfernt gewesen sein. Bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. gibt es außerhalb des Neuen Testaments keine Erwähnung des Ortes in Literatur oder Inschriften. Die archäologischen Befunde zeigen eine spärliche Besiedelung der Gebiete um die heutige Stadt an und gehen bis ins 2. Jahrtausend v.Chr. zurück. Wenn nach der Geburtsankündigung an Zacharias im Tempel von Jerusalem nun also die Szenerie von der Weltstadt in ein vollkommen unbedeutendes „Kaff“ in Galiläa wechselt, so verbirgt sich dahinter schon eine erste Bedeutung. Gott geht in seinem Erwählungshandeln ganz eigene und nicht vorhersehbare Wege. So unbedeutend die junge Maria bis zu jenem Tag war, so unbedeutend ist auch ihr Heimatdorf Nazaret.
Verse 32 und 33: In diesen beiden Versen bündeln sich die christologischen Aussagen des Textes, die in fünf Merkmalen benannt sind. Jesus wird groß sein und worin diese „Größe“ besteht, dass wird direkt im Anschluss ausgeführt: Er ist Sohn des Höchsten und damit Sohn Gottes. Dies zeigt sich in der Vorstellung von der Regentschaft Jesu, die mit den Begriffen Thron seines Vaters David und in Ewigkeit herrschen umschrieben wird. Der Rückgriff auf David stellt Jesus zum einen in die Linie des Stammes Davids (vgl. auch Vers 27 und die Herkunft des Josef aus dem Hause Davids), zum anderen wird damit die Verheißung an David aus dem 2. Buch Samuel (2 Sam 7,13) aufgenommen, wonach der Thron Davids für immer fortbestehen soll. Diese Herrschaft gilt aber nicht mehr nur für eine absehbare Zeit, sondern in Ewigkeit und damit für eine Zeitspanne über die sonst nur Gott als Souverän von Raum und Zeit verfügt. Auch dieses Merkmal will zum Ausdruck bringen, dass das angekündigte Kind Gottes Sohn ist und damit auch an Gottes Macht und Herrschaft Anteil hat.
Vers 35: Wenn davon die Rede ist, der Heilige Geist werde über Maria kommen und die Kraft des Höchsten werde sie überschatten, dann zieht der Evangelist Lukas hier zwei Begriffe hinzu, die klar auf das souveräne Handeln Gottes hinweisen. Der Geist ist die Wirkmacht Gottes, die Leben verändert und zu neuem Leben befähigt, so wie am Anfang bei der Schöpfung des Menschen (Genesis 2,7) oder später in der Apostelgeschichte bei der Sendung des Geistes (Apostelgeschichte 1,8 und 2,4). So wirkt auch hier die Kraft Gottes an Maria und ihr Leben verändert sich radikal. Die Antwort Gabriels auf den Einwand Marias hat jedoch noch eine zweite Stoßrichtung: Sie vertieft die Aussagen aus den Versen 32-33, dass mit dem Wirken Gottes bei dieser Empfängnis die Bedeutung des Kindes über das Menschenmögliche und –denkbare hinausgeht. Wird von Johannes dem Täufer gesagt, er werde „Prophet des Höchsten“ heißen (Lukasevangelium 1,76), so wird von Jesus hier zweimal bestätigt, er werde Sohn des Höchsten, Sohn Gottes genannt (Lk 1,32 und 35). Weil Gott hier in besonderer Weise am Werk ist, ist das Kind von Anfang an „heilig“ (Lk 1,35) und von ihm kann gesagt werden, was Gabriel zuvor formulierte: „seine Herrschaft wird kein Ende haben“.