Gott und das Prinzip der Subsidiarität oder: Die Gewissheit, dass Gott unsere Bitten erhört, bedeutet nicht, es gibt nichts mehr zu tun.
1. Verortung im Evangelium
Nach der vorangegangenen Szene des Lukasevangeliums (Lk 10,38-42), die in einem konkreten Haus (bei Maria und Marta) spielte, wird nun der Weg Jesu nach Jerusalem fortgesetzt (vgl. Lk 9,51). Daher spielt auch die Erzählung Lk 11,1-13 „irgendwo“ unterwegs und der Ort bleibt namenlos. Trotz der „Wegerzählung“ vermittelt der vorliegende Abschnitt jedoch den Eindruck einer Zwischenpause. Das Gebet Jesu wird zum Ausgangspunkt einer Bitte der Jünger und einer ausführlichen Antwort Jesu an sie. Damit ist vor einer nächsten öffentlichen Szene mit der Austreibung eines Dämonen (Lk 11,14-28) noch einmal eine Begegnung im „kleinen Kreis“ der Jüngerschaft dargestellt.
2. Aufbau
Die Erzählung wird eröffnet mit einer kurzen Situationsangabe (Vers 1a-b) und einer Jüngerfrage (Vers 1c-d). Jesus leitet seine Antwort ein, indem er auf den allgemeingültigen Charakter seiner Ausführungen hinweist (Vers 2a-b). Der erste Teil seiner Antwort ist ein konkretes Gebet (Verse 2c-4), das sich aus zwei Du-Bitten und drei Wir-Bitten zusammensetzt und in ähnlicher Form auch im Matthäusevangelium in der Bergpredigt überliefert ist (Mt 6,9-13).
Die anschließenden Ausführungen Jesu lassen sich in zwei Teile unterteilen, die jeweils mit einer rhetorischen Frage eingeleitet werden (Verse 5-10 und 11-13). Beide Teile sind gleich aufgebaut, denn an ein kurzes Beispiel/ Gleichnis (Verse 5-8 und 11-12) schließt sich eine Übertragung auf die Jünger an (Verse 9-10 und 13). Im ersten Teil liegt der Schwerpunkt auf der Frage nach dem Sinn des Bittgebets, im zweiten Teil geht es um den Inhalt des Gebets. Eine Verbindung zwischen beiden wird hergestellt durch die Begriffe „bitten“, „empfangen“ und „geben“.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 1-2b: Die Szene erinnert an Lk 9,18 auch wenn dort Jesus nach dem Gebet eine Frage an seine Jünger richtet („Für wen halten mich die Leute?“). Immer wieder baut der Evangelist Lukas solche kurzen Pausen in die Erzählung seiner Jesusgeschichte ein, in denen Jesus sich zum Gebet zurückzieht (vgl. Lk 6,12), zumeist folgen auf diese Pausen wichtige Fragen oder Ereignisse. Die Gebetsmomente sind so immer Auftakt zu bedeutsamen Momenten und dienen dem Leser des Evangeliums in gewisser Weise als Aufmerksamkeitsindikatoren.
Der Hinweis, dass die Jünger Jesus erst nach dem Ende seines Gebets ihre Frage stellen, zeigt zum einen, dass sie ihn nicht unterbrechen, zum anderen, dass sein Tun in ihnen die Frage nach einem eigenen Gebet erst aufkommen lässt. Der Vergleich mit den Jüngern des Johannes ist nicht als Abgrenzung zu verstehen, sondern eher als Frage nach einem Gebet, dass der Gruppe der Jesus-Jünger zu eigen ist. In diese Richtung deutet auch die Antwort Jesu: „wenn ihr betet, dann sprecht“. Die folgenden Worte sind als konkretes Gebet der „Familie Jesu“, die Gott als Vater anredet, zu verstehen.
Da das Vaterunser zur Zeit des Evangelisten Lukas wohl schon ein fester Bestandteil der Gottesdienstfeier war, handelt es sich hier um die Erzählung von der Entstehung dieser Tradition. In diesem Sinne ist auch die feierliche Einleitung, die Lukas dem Gebet hier voranstellt, zu verstehen.
Vers 2c-e: Die Vater-Anrede überträgt eine zwischenmenschliche und vertraute Anrede auf das Verhältnis zu Gott. Dabei ist die Anrede Gottes als Vater nicht aus zeitgenössischen hebräischen oder aramäischen Texten bekannt, wohl aber aus profanen griechischen Hymnen und Gebeten. Bekannt ist aber die Übertragung des Wortes Vater in der Anrede auf Propheten hin im Alten Testament (z.B. 2. Buch der Könige 2,12). Die Anrede Gottes als Vater ist damit auf der einen Seite Ausdruck des Respekts gegenüber einer vorbildhaften Bezugsperson (Elischa zu Elija im 2. Buch der Könige). Auf der anderen Seite ist sie eine Besonderheit der Jünger Jesu, die von ihm selbst eingeladen werden, sein Verhältnis zu Gott zu übernehmen und ihn daher wie der Sohn mit Vater anzusprechen. Damit ist durch die Anrede bereits ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber den Johannesjüngern gegeben (vgl. Vers 1), das zugleich ein Gruppenmerkmal der „Familie Jesu“ wird.
Die beiden Du-Bitten entsprechen jüdischer Gebetstradition, ähnlich finden sie sich im Qaddish-Gebet des Synagogengottesdienstes, das allerdings erst später schriftlich festgehalten wird.
Die Bitte um die Heiligung des Namens ist eine Bitte um das Handeln Gottes. Er soll seine Göttlichkeit, seine Macht unter den Menschen bekannt machen, so dass sich die Menschen zu ihm bekennen. Auch wenn es letztlich um das Handeln Gottes geht, kann der Auslöser für die Heiligung des Namens sowohl durch das Handeln der Menschen (Jesaja 29,23) als auch durch Gott selbst (Ezechiel 36,22-23) entstehen. Die wirkliche Heiligung des Namens, also ein umfassendes Bekenntnis der Menschen zu Gott, bleibt eine Hoffnungsaussage und damit auf die kommende Zeit ausgerichtet. Dem entspricht auch die Bitte um das „Kommen“ des Gottesreiches. Sie formuliert die Hoffnung darauf, dass Gott selbst kommt und sein Herrschaftsbereich nicht mehr nur im Himmel, sondern auch mitten unter den Menschen Wirklichkeit ist. So lässt sich auch die Erweiterung dieser Bitte im Matthäusevangelium verstehen: „dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf der Erde“ (Matthäusevangelium 6,10).
Vers 3: Die Brotbitte bringt eine wesentliche Schwierigkeit mit sich: Das Wort epiousios (ἐπιούσιος), das in der Einheitsübersetzung mit „das wir brauchen“ übersetzt wird, gibt es nur in dieser Bitte im Matthäus- und Lukasevangelium, sonst wird es in keinem griechischen Text verwendet. Da die Evangelisten Matthäus und Lukas dieses Wort nicht beide unabhängig voneinander gebildet haben, ist es wohl schon in deren gemeinsamer Grundfassung enthalten. Es handelt sich also um eine Wortschöpfung christlicher Gebetssprache. Am Sichersten lässt sich epiousios als „herankommend, bevorstehend, folgend“ verstehen. Zusammen mit der Formulierung des Lukas „täglich“ (anders als Matthäus: heute), lässt sich die Zielrichtung der Bitte aber klar fassen: Es geht darum, jeden Tag das für das Leben Notwendige zu essen zu haben. Das Brot steht synonym für Nahrung im Allgemeinen. Mit der Bitte, jeden Tag ausreichend Nahrung zu haben, wird einerseits die reale Lebenssituation der Menschen ausgedrückt. Andererseits spricht daraus die Einsicht, dass der Mensch auf Gottes Fürsorge angewiesen ist und das Vertrauen, dass Gott sich als lebensspendender und lebenserhaltender Gott zeigt.
Vers 4: Die Bitte um Vergebung der eigenen Schuld steht in der Tradition jüdischer Gebetssprache. So bittet im Buch Exodus Mose Gott, er möge dem Volk seine „Schuld und Sünde“ vergeben (Exodus 34,9). Die Bitte wird um eine Selbstaussage ergänzt, die auf der Einsicht basiert, dass man das von Gott geschenkte, seinem Mitmenschen nicht verweigern kann. Wer also von Gott Vergebung erfährt, muss auch seinem Mitmenschen vergeben. Die eigene Erfahrung ist als unweigerlich mit dem einen Handeln verknüpft. Auch dieser Gedanke ist schon im Alten Testament formuliert (Jesus Sirach 28,2). Für den Zusammenhang im Lukasevangelium ist wichtig, dass Lukas hier die Selbstaussage bewusst im Präsens formuliert. Damit wird der Nachsatz der Bitte zum direkten, aktiven Tun des Beters. Noch während des Betens spricht der Beter damit Vergebung gegenüber all denen aus, die an ihm schuldig geworden sind.
Die letzte Bitte entlarvt den Beter als Glaubenden. Denn die Bitte darum nicht in Versuchung geführt zu werden entspringt dem Gedanken, dass nur der Glaubende sich in Situationen existentieller Not und Angst von Gott abwenden kann. Es geht also nicht darum, dass Gott einen in eine bestimmte Situation hineinführt, sondern dass er einen in der Situation der Not nicht auf die Probe stellt. Diese Bitte hat zwei Entsprechungen im Lukasevangelium selbst. Zum einen gibt Jesus seinen Jüngern am Ölberg den Rat „Betet, dass ihr nicht in Versuchung geratet!“ (Lk 22,40). Zum anderen ist die gesamte Versuchungsgeschichte Jesu in Lk 4,1-13 von der Grundannahme getragen, dass sich nur der Erwählte überhaupt in einer Situation der Probe weiderfinden kann (vgl. die Auslegung zu Lk 4,1-13). https://www.in-principio.de/sonntags-lesungen/lesung/Evangelium-Lk-41-13/
Verse 5-8: Mit einer rhetorischen Frage leitet Lukas eine Gleichnisgeschichte ein, zu der er zwei mögliche Ausgänge präsentiert. Mit „wenn einer von euch“ (eigentlich „wer von euch“, vgl. auch Lk 11,11 oder Lk 17,7) lässt er die Zuhörer in die Rolle des Subjekts der Erzählung schlüpfen. Sie sollen sich vorstellen, wie es ist, wenn sie zu mitternächtlicher Stunde – also fernab des Tages und jeder „normalen“ Situation – mit einer eindringlichen Bitte vor der Tür eines Freundes steht. Der Ursprung der Bitte ist die nicht vorhersehbare Situation eines unangemeldeten Besuchers. Der Bittende steht sowohl ihm gegenüber in einer freundschaftlichen Beziehung als auch demjenigen gegenüber, an dessen Türe er klopft. Diese Grundanlage macht die nächtliche Störung und die Dringlichkeit der Bitte erst plausibel.
Die beiden erzählten Antworten oder Ausgänge der Erzählung stehen nebeneinander, die Nachordnung der positiven Antwort dient der Betonung der Wahrscheinlichkeit einer solchen Antwort. Vers 7 zeichnet zuerst die auszuschließende Reaktion nach und knüpft damit an der vorausgesetzten Erfahrung der Hörer an, dass niemand einen Freund hat, der eine so eindringliche Bitte abschlägt. Vers 8 beschreibt demnach den wahrscheinlichen Ausgang einer solchen Bittsituation: der Bitte wird nachgegeben. Wichtig für den positiven Ausgang ist nicht nur das freundschaftliche Verhältnis, sondern auch die Annahme, dass die „Zudringlichkeit“ (oder Unverschämtheit) des Bittenden zum Erfolg führt. Mit der Wendung „ich sage euch“ wird das Gleichnis aufgelöst und die Hörer direkt angesprochen, damit wird eine Überleitung zu den folgenden Versen geschaffen.
Verse 9-10: Nun wird die exemplarische Erzählung auf eine grundsätzliche Ebene gehoben. Dazu werden drei Begriffspaare genutzt, die den allgemeingültigen Charakter des Gesagten verdeutlichen sollen: „bitten – geben“, „suchen – finden“, „anklopfen – hören“. Durch das vorangegangene Gebet zu Gott als dem Vater ist das „Bitten“ und alle damit zusammenhängenden Begriffe auf Gott hin zu deuten. Die Begriffspaare beschreiben jeweils eine Tat und eine Handlungsfolge oder eine Aktion und eine Reaktion. Im Hinblick auf Gott als Adressat menschlichen Bittens ist die zentrale Aussage: Gott wird auf die Bitte des Beters reagieren, er wird mit Gewissheit das Beten erhören.
Verse 11-12: In den beiden folgenden Bildworten nehmen die Hörer nun die Perspektive des Vaters ein, also desjenigen, an den eine Bitte gerichtet wird. Selbstverständlich – auch hier wird an die Alltagserfahrung angeschlossen – wird niemand seinem Kind etwas geben, was ihm schaden kann. Schlange und Skorpion sind wie in Lk 10,19 (Rückkehr der 72 Jünger) Bilder für unübersehbare Gefahren. Auch hier handelt es sich also um eine rhetorische Frage an die Zuhörer, denn die Antwort liegt auf der Hand.
Vers 13: Die Übertragung des Erzählten in die Lebenswirklichkeit der Jünger und der Hörer des Evangeliums benutzt den sogenannten a-fortiori-Schluss „vom Schweren zum Leichten“. Wenn selbst ein Mensch, der sonst auch nicht immer vorbildlich ist, seinem Kind „gute Gaben“ gibt, dann wird doch Gott, der nichts anderes als gut ist, seinen Kindern Gutes geben. Die Formulierung „ihr, die ihr böse seid“ ist nicht moralisch und als Abqualifizierung der Angesprochenen zu verstehen. Vielmehr schlägt sie einen Bogen zu der Bitte um Vergebung des Vaterunsers. Es steckt auch hier die Alltagserfahrung darin, dass es uns Menschen nicht gelingt, vollkommen gut zu sein und zu handeln – hierin unterscheiden wir uns von Gott.
Das Gute, das Gott denen schenkt, die ihn bitten, ist der Heilige Geist. Indem das Gute hier sehr konkret benannt wird, wird den Hörer klar, worauf sie sich im Beten verlassen können. Gott wird den Seinen immer den Heiligen Geist als Erhörung ihrer Bitten schenken.