Was würdest du tun? Im Evangelium stellt uns Jesus heute eine ganz besondere "Sonntagsfrage", die auch an allen anderen Tagen gilt.
1. Verortung im Evangelium
Nachdem die vorausgegangenen Episoden zwar formal „unterwegs nach Jerusalem“ spielen, eigentlich aber Situationen voraussetzen, die zumindest einen kurzen Aufenthalt voraussetzen, wird zu Beginn des Abschnitts Lukasevangelium (Lk) 10,38-42 festgestellt, dass Jesus und seine Jünger „weiterzogen“ (Vers 38). Damit wird die grundsätzliche Situation des Weges und der Begegnungen entlang des Weges im Rückgriff auf Lk 9,51 wiederaufgenommen. Zugleich entsteht durch die Ambivalenz in der Situationsbeschreibung (Weiterziehen und Aufgenommen werden) eine Spannung, die einen Bogen schlägt zu den unterschiedlichen Reaktionen der Schwestern Maria und Marta.
Die Aufnahme in ein konkretes Haus verweist zurück auf die verschiedenen Szenarien, die Jesus in der Aussendungsrede an die 72 Jünger in Lk 10,1-16 aufgezählt hat. Das Haus der Maria und Marta ist ein Ort, auf dem der Friede und ruht und dem der Friede zugesprochen wird (Lk 10,5-7).
2. Aufbau
Der erzählerische Schwerpunkt des Abschnitts liegt in der Verkündigung Jesu, die durch sie zum Ausdruck gebracht wird. Daher hat auch Jesus selbst das „letzte Wort“ und die Reaktion der beiden Frauen, vor allem die der Marta bleibt unerzählt.
Die Verse 38-39a bilden eine Einleitung in die Szene, die Verse 39b-40 entfalten die Szene, in dem sie das Handeln der einzelnen Personen darstellt. Den Höhepunkt bildet die Aussage Jesu in den Versen 41-42, auf den die übrigen Verse zulaufen.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 38-39a: Jesus ist weiterhin mit seinen Jüngern unterwegs Richtung Jerusalem. Nach der vorangegangenen Diskussion mit dem Gesetzeslehrer (Gleichnis vom barmherzigen Samariter) über das ewige Leben, steht nun das Schicksal der Verkünder des Reiches Gottes wieder im Vordergrund. Das Umherziehen und gastlich Aufgenommen werden durch Marta ist eine Beispielerzählung für das, was Jesus den 72 Jüngern mit auf den Weg gegeben hat (Lk 10,5-7). Für den Charakter einer Beispielerzählung spricht auch, dass das Dorf ohne Namen bleibt.
Auch das Johannesevangelium kennt die Schwestern Maria und Marta (und ihren Bruder Lazarus) und berichtet ausführlich über sie (Johannesevangelium 11,1-6.17-46 und 12,1-3). Auch wenn die Grundszenen in den beiden Evangelien sehr unterschiedlich sind, gibt es die Gemeinsamkeit, dass die Schwestern sich durch ihre Handlungen deutlich voneinander unterscheiden. Es handelt sich also um ein ungleiches Schwesternpaar aus dem Umfeld Jesu, über das man sich in der frühen Kirche berichtete. Auf diese Weise kamen sowohl das Lukas- wie das Johannesevangelium zu ganz unterschiedlichen Episoden, die aber auf einer gemeinsamen Tradition „Maria-Marta“ basiert.
Die Szene zwischen Jesus und Maria und Marta stellt die Personen als „dramatisches Dreieck“ gegenüber. Jesus als Hauptfigur begegnet zwei Personen, die sich in ihrem Handeln unterscheiden. Da Maria nur über ihre Schwester Marta eingeführt wird und auch selbst keine Redeanteile hat, ist sie eindeutig eine Nebenfigur der Erzählung – aber nicht bedeutungslos.
Verse 39b-40: Die Schwestern werden über ihre Handlungen ausführlicher dargestellt: Maria sitzt zu Füßen des Herrn und hört ihm zu. Marta dient ihm. Das Dienen der Marta ist jedoch nicht neutral vom Evangelisten Lukas beschrieben, sondern als etwas, was sie ganz in Beschlag nimmt („ganz in Anspruch genommen“). Dadurch ist das Dienen zur „Sorge um etwas“ geworden und wird als umfassendes und die Person vereinnahmendes Handeln gedeutet. Marta wird als Gastgeberin (sie nimmt ja Jesus in Vers 38 auf) beschrieben, die ganz in den notwendigen Hausarbeiten aufgeht.
Martas Frage, die sie mit deutlichem Vorwurf formuliert, zielt nicht darauf, das Zuhören ihrer Schwester grundsätzlich zu verurteilen. Angesichts ihrer eigenen „Arbeit“ empfindet sie das Hören der Maria jedoch als ein „Alleinlassen“. Marta geht es nicht um das Verhalten ihrer Schwester gegenüber Jesus, sondern gegenüber sich selbst. Entsprechend verlangt sie von Jesus auch nicht, er solle Maria das Zuhören verbieten, sondern sie auffordern Marta zu helfen. Der Evangelist Lukas macht diesen Fokus Martas durch die Wiederholung des Pronomens „mir“ deutlich: „Arbeit mit allein überlässt“ und „sie soll mir helfen“.
Verse 41-42: Jesus entspricht nicht der Aufforderung Martas, sondern spricht sie selbst an und lädt zum Perspektivwechsel ein. Er kritisiert jedoch nicht, dass sich Marta sorgt und müht, vielmehr geht es um den Umfang ihres Tuns. Das „viele“ Sorgen und Mühen steht dem „einen“, dem „guten Teil“ der Maria gegenüber und bildet die eigentliche Sinnspitze der Aussage Jesu. Seine Kritik bezieht sich auf das „Viele“, was vermeintlich dringlich ist, aber dem „Einen“, das notwendig ist, entgegensteht. Dem entspricht auch, dass das „Viele“ zu vergehen scheint, während das „Eine“ bleibt (nicht weggenommen wird). Der Evangelist Lukas lässt Jesus hier nach einer auch in philosophischen Kreisen seiner Zeit anerkannten Regel urteilen: Die Qualität hat einen höheren Wert als die Quantität. Dies wird auch durch das Wort „notwendig“ unterstrichen. Denn es geht in der Erzählung, um die Frage nach dem, was notwendig ist oder bedeutsam. Marias Verhalten wird gelobt, weil sie erkannt hat, dass das Bedeutsame dieser speziellen Situation das Zuhören ist und nicht die Geschäftigkeit.