„Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?“ Diese Frage des Gesetzeslehrers ist keine Suche aus alten Tagen. Die Sehnsucht nach einem gelingenden Leben, einem Leben mit Sinn ist wahrscheinlich so alt wie das Selbstbewusstsein des Menschen. Denn wer weiß und erkennt, dass er vergänglich ist, stellt sich die Frage danach, was der eigenen Existenz Bedeutung verleiht. Zu allen Zeiten sind Menschen daher auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage. Von antiker Lebensphilosophie über spirituelle Sinnangebote bis zu modernen Lebenshilfe-Ratgebern lassen sich Lösungen für ein gelingendes Leben finden.
Als Juden und Christen ist die Suche nach einem gelingenden Leben eine Sehnsucht, die nicht auf die Perspektive des Irdischen beschränkt ist. Im Glauben an den einen Gott, der Himmel und Erde gemacht hat, und als Gott des Lebens verheißt, dass wir auf eine ewige Gemeinschaft mit ihm hoffen dürfen, ist die Perspektive immer auch auf das Himmlische ausgeweitet, auf den Bereich, über den nur Gott verfügt. Im Alten Testament kommt dies zum Beispiel im Bild vom „Verzeichnet sein im Buch des Lebens“ zum Ausdruck, im Neuen Testament im Bild vom himmlischen Reich Gottes und der Hoffnung der Auferstehung. Entsprechend stellt sich die Frage nach dem gelingenden Leben als Frage nach dem ewigen Leben: Wie kann ich auf der Erde so leben, dass mein Leben nicht nur hier eine Bedeutung hat, sondern dass es in die ewige Gemeinschaft mit Gott hineinführt?
Die Frage des Gesetzeslehrers im heutigen Evangelium ist also nicht nur die Frage eines frommen Juden, sondern die Frage, die auch die Leser des Evangeliums und die Jünger Jesu umhergetrieben hat. Ebenso ist die Antwort nicht nur an den Fragenden gerichtet. In ihr kommt die theologische Überzeugung zum Ausdruck, dass sich das Verhältnis zu Gott und die Hoffnung auf eine Gemeinschaft mit ihm nicht nur am Verhältnis zu Gott selbst entscheidet, sondern ebenso maßgeblich am Verhältnis zu den Menschen, mit denen man auf Erden lebt. Gottesliebe und Nächstenliebe gehören zusammen – diese Maßgabe durchzieht die gesamte jüdisch-christliche Tradition.
Wenn Jesus heute im Evangelium den Gesetzeslehrer auffordert, nach der Weisung der Schrift Gott und den Nächsten so zu lieben wie sich selbst, dann ist dies nicht sonderlich spektakulär. Die Pointe der Erzählung liegt vielmehr in der Auslegung des Wortes „Nächstenliebe“. Wie gelingt denn das? Und welche Voraussetzungen braucht es dazu? Die Antwort ist erschütternd einfach: Es gibt keine Vorgaben, keine weitere Qualifizierung, die Anforderungen sind für alle gleich: Sich anrühren zu lassen vom Schicksal der Menschen! Im wirklichen Leben, in den Situationen, in denen es darauf ankommt, dass ich zeige, dass Gottes- und Nächstenliebe zusammengehört, da gibt es keinen Interpretationsspielraum. Hier gilt der legendäre Satz des Duisburger Fußballspielers Alfred (Adi) Preißler: „Grau ist alle Theorie – entscheidend is auf’m Platz.“ Hier hinter verbirgt sich die simple Einsicht, dass man sich zwar vor dem Spiel auf Situationen einstellen und eine Taktik zurechtlegen kann. Dass man mit brillanten und hochbezahlten Kickern auf dem Platz stehen und trotzdem verlieren kann. Denn entscheidend ist nicht, wer man ist, was man kann oder geübt hat – sondern wie das Spiel gespielt wird. Der richtige Einsatz, Mut und Leidenschaft entscheiden am Ende ein Spiel – und das kann dann auch mal gegen die großen Namen oder die nominell bessere Mannschaft den Sieg bringen.
„Entscheidend is auf’m Platz“ – diese Einsicht, soll der Gesetzeslehrer aus der Begegnung mitnehmen. Denn im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das Jesus ihm erzählt, gilt nichts anderes als das, was der Samariter angesichts der Notlage des Überfallenen tut. Er reagiert auf die Situation, er stellt keine Fragen oder urteilt über die Notlage und was dazu geführt haben könnte. Es spielt keine Rolle, wie er seinen Glauben ausübt und woher er stammt.
Jesus antwortet im Lukasevangelium nicht nur dem Gesetzeslehrer mit den Worten: „Geh und handle du genauso!“ Die Antwort im Evangelium gilt allen Zuhörern Jesu auf dem Weg nach Jerusalem und auch allen Lesern des Evangeliums bis heute. Sie ist die Antwort auf die Frage, die schon seit Menschengedenken gestellt wurde: Wie gelingt mein Leben? Für uns Christen bedeutet die Antwort Jesu: Pflege deine Beziehung zu Gott und hab einen wachsamen Blick für deine Mitmenschen, der dich jederzeit handeln lässt, wenn dein Nächster dich braucht. Und frage dabei nicht danach, was es dir bringt, wer der andere ist oder was andere denken könnten. Schau vielmehr auf deinen Glauben und das Wissen, dass Gott dir auch und gerade in dem Menschen begegnet, der dein Handeln braucht. So wie Jesus im Matthäusevangelium spricht: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Matthäusevangelium 25,40).