„Ich sehe was, was du nicht siehst!“ Es sind nicht die Augen, die darüber entscheiden, ob Gottes Wirklichkeit für einen sichtbar ist.
1. Verortung im Evangelium
Das Johannesevangelium (Joh) beginnt mit einem Loblied auf Jesus Christus als das ewige Wort des Vaters (Joh 1,1-18). Er ist in die Welt gesandt, um die Herrlichkeit Gottes sichtbar zu machen und den Menschen den Weg zum Vater zu eröffnen. Diese Sendung Jesu ist als Grundthema in allen Erzählungen zu finden.
Die Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen findet sich im großen Erzählabschnitt Joh 5,1-10,42, in dem Jesus im Volk Zeichen wirkt. Das Johannesevangelium verwendet bewusst nicht den Begriff des Wunders, es spricht vielmehr von Zeichen. Sie verweisen auf Gottes Wirklichkeit, die hinter dem sich Ereignenden steht und damit in der Welt durch Jesus Christus sichtbar wird.
2. Aufbau
Mit Vers 1 wird eine kurze Einführung in die Ausgangssituation gegeben. Daran schließt sich mit den Versen 2-5 ein Dialog mit den Jüngern an, bevor in den Versen 6-7 die Heilung des Blindgeborenen knapp geschildert wird. Aus der Heilung heraus entwickeln sich vier Dialogszenen (Verse 8-12, 13-17, 18-23, 24-34), in denen jeweils versucht wird, das Geschehene einzuordnen. In der abschließenden Szene (Verse 35-41) treffen zunächst erneut Jesus und der Geheilte aufeinander, sie wird durch den Abschlussdialog mit den Pharisäern erweitert.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Die Wendung „unterwegs“ kennzeichnet die Begegnung zwischen Jesus und dem Blindgeborenen als zufällig und damit das „Zeichen“ als aus der Situation heraus entstanden. Die Charakterisierung des Mannes („seit seiner Geburt blind“) ist wichtig als Hintergrund für die entstehenden Gespräche und spitzt die Frage nach Sehen und Blindsein zu.
Verse 2-5: Die Jünger, die nur am Anfang der Erzählung explizit genannt werden, stellen angesichts der Blindheit des Mannes die Frage nach dem „warum“. Aufgrund der Vorstellung, dass Krankheit eine Folge von Sünde ist, wollen sie wissen, wessen Sünde in der Krankheit zum Ausdruck kommt (vgl. Exodus 20,5). Jesus weist die Frage der Jünger als nicht relevant zurück. Es geht angesichts des Blinden nicht um die Frage nach Schuld, sondern nach dem Sichtbarwerden der Herrlichkeit Gottes. Ein erstes Mal werden hier also die Themen Sehen und Blindsein miteinander verzahnt. Jesus nimmt dabei die Jünger und ihr späteres Wirken mit in den Blick, wenn er sagt „wir müssen […] die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat“. In Joh 20,21-23 wird er die Jünger dazu beauftragen, an seiner Sendung Anteil zu nehmen.
Nach dem Prolog, der Jesus als das Licht, das zu den Menschen gesandt ist und die Finsternis durchleuchtet, lobt (Joh 1,4-5), und dem Ich-bin-Wort „ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12) wird ein weiteres Mal Licht als Kennzeichen der Sendung Jesu und seiner Person genannt. Dies wird hier in Verbindung gebracht mit einem Sprichwort oder der zumindest einleuchtenden Regel, dass nur am Tag gearbeitet wird, nicht aber in der Nacht. Für das Wirken Jesu und seine Sendung gibt es – wie für den Tag – einen abgegrenzten Zeitraum. Wenn Jesus nicht mehr in der Welt ist, ist dieser Zeitraum der Sendung vorbei, dann ist er nicht mehr als das Licht sichtbar. Entsprechend gilt es in dem Zeitraum seiner Sendung, sein Licht als das Licht Gottes zu erkennen.
Verse 6-7: Der Blindgeborene, der die Zeit über anwesend war, rückt nun wieder in den Fokus und „verdrängt“ damit die Jünger aus demselben; sie werden zu stummen Zeugen der weiteren Ereignisse. Die Heilung wird nur knapp ausgeführt: Jesus macht einen Teig aus Speichel und Erde, bestreicht die Augen und schickt den Blinden fort, um sich im Teich Schiloach zu waschen. Der Mann tut, was Jesus ihm sagt, und kehrt geheilt zurück. Dieses knapp berichtete Geschehen ist der Ausgangspunkt für die folgenden Dialoge.
Verse 8-12: Zunächst trifft der Geheilte auf sein engstes Umfeld, auf diejenigen, die aus direkter Anschauung von seinem Schicksal Kenntnis haben. Die Nachbarschaft teilt sich angesichts der Heilung in zwei Lager: Die einen meinen, der ihnen bekannte Bettler sei geheilt, die anderen meinen, es liege eine Verwechslung vor. Als er selbst Stellung beziehen soll, kann der Geheilte nur knapp zusammenfassen, was an ihm geschehen ist. Auf die Frage, wo Jesus zu finden sei, kann er schon keine Antwort mehr geben – die Begegnung scheint eine flüchtige gewesen zu sein.
Verse 13-17: Nun zieht das Ereignis der Heilung größere Kreise, denn die als Autorität betrachten Pharisäer werden hinzugezogen. Ihnen traut man ein Urteil über das Geschehene zu, sind sie doch schließlich darauf „spezialisiert“ Gottes Willen und Wirken zu erkennen. Die entscheidende Frage hier ist nicht die nach dem „wie“, sondern nach dem „wann“ der Heilung. Der Sabbat als Ruhetag steht über allem menschlichem Tun – so ist es der Wille Gottes (Exodus 20,8-11). Auch hier spalten sich die Meinungen: Ein Teil der Pharisäer fällt das Urteil: Jesus kann nichts mit Gott zu tun haben, sonst würde er den Sabbat halten. Ein anderer Teil stellt sich die Frage, wie jemand der sündigt (also den Sabbat nicht heiligt), zu einer solchen Tat fähig ist. Wiederum soll der Geheilte Stellung beziehen. Nun wird die Einschätzung des Mannes klarer: Jesus ist ein Prophet, also einer, der im Auftrag Gottes handelt.
Verse 18-23: Wenn die Tat (Heilung) also festzustehen scheint, bleibt die Frage nach der Bewertung offen. Um die wirkliche Bedeutung und Größe des Zeichens zu verstehen bzw. die Heilung als eine gewöhnliche Therapie einzuordnen, befragen die Pharisäer (evtl. auch mit anderen) die Eltern. Sie sollen klarstellen, ob der Geheilte wirklich seit Geburt blind war und ob es sich um ihren Sohn handelt. Die Eltern können nicht anders als dies bestätigen, sie sind Zeugen für die Zugehörigkeit und die Blindheit ihres Sohnes. Sie können jedoch nicht Auskunft geben über das, was die Pharisäer weitergehend interessiert. Entsprechend verweisen die Eltern sie zurück an ihren Sohn, der im Erwachsenenalter selbst Verantwortung für sein Tun und seine Auskunft übernehmen kann.
In diesem dritten Dialog wird nun die Situation der Gemeinde, an die das Evangelium gerichtet ist, im Hintergrund erkennbar: In der jüdischen Synagogengemeinde ist kein Platz für diejenigen, die in Jesus, den Messias erkennen und sich zu ihm bekennen. Das bedeutet, die Gemeinde des Johannes hat bereits erfahren müssen, dass die anfängliche Gebetsgemeinschaft zwischen Juden und Judenchristen in der Synagoge hinfällig geworden ist. Spätestens mit dem hervortretenden missionarischen Impuls der jungen christlichen Gemeinde und dem Fall des Tempels (70 n. Chr.) werden die Differenzen zwischen den beiden Glaubensrichtungen deutlich. Für die Juden ist nach dem Verlust des Tempels die Synagoge nun der Kristallisationspunkt ihres gemeinsamen Glaubens. Diesen Ort mit denjenigen zu teilen, die die Hoffnung auf den Messias als bereits erfüllt ansehen, wird zunehmend schwierig.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Eltern die Pharisäer an ihren Sohn verweisen. Sich in dieser Frage zu positionieren kann für sie bedeuten, aus der Synagogengemeinde und damit aus ihrem Sozialraum ausgeschlossen zu werden.
Verse 24-34: Die Pharisäer beschließen, den Geheilten erneut zu befragen. Sie sind sich offenbar nun einig in der Einschätzung, dass Jesus ein Sünder sein muss, weil er am Sabbat geheilt hat. Nun ist die Frage, wie sich der Geheilte zu ihm verhält: Hält er ihm die Treue oder zeigt er Gott die Ehre. Der Geheilte ist mittlerweile sprach- und auskunftsfähig geworden und lässt sich nicht auf das „entweder-oder“ ein. Zum einen macht er deutlich, dass es nicht in seinen Kompetenzbereich gehört, über die Frage der Sündhaftigkeit zu entscheiden. Er kann nur über sein eigenes Schicksal Auskunft geben. Zum anderen entlarvt er die Absichten der Pharisäer, indem er sie fragt, ob sie auch(!) Jesu Jünger werden wollen; damit gibt er sich selbst als ein Anhänger Jesu zu erkennen. Die Pharisäer, die im Wirken Jesu nichts vom Willen Gottes entdecken können, verweisen auf ihren Bezugspunkt. Es sind die Gesetze des Moses, aus denen heraus sie die Welt einordnen und beurteilen. Für sie steht fest, dass nur in ihnen Gottes Willen und Wesen erkennbar ist und sie über die Kompetenz des Erkennens und Deutens verfügen. Entsprechend klar und barsch reagieren sie auf den Versuch des Blindgeborenen, das Geschehene mit eigenen Worten zu deuten und das Wirken Gottes darin verständlich zu machen. Dabei versprachlicht er Schritt für Schritt sein eigenes Gottesverständnis. Gott erhört nicht die Sünder, sondern diejenigen, die nach seinem Willen handeln. Wenn noch nie jemand einen Blindgeborenen heilen konnte – was nur mit dem Willen Gottes möglich sein kann – muss dieser Jesus zu Gott gehören. Eine einfache und klare Einordnung des Geschehenen, die die Vorstellungswelt der Pharisäer sprengt.
Verse 35-41: Nachdem der Mann aus der Gemeinde ausgestoßen wurde, trifft er erneut auf Jesus. Auf die ihm von Jesus gestellte Frage („glaubst du an den Menschensohn“), antwortet der Geheilte und drückt damit seinen Wunsch zu glauben aus. Er kann ihn jedoch noch nicht in „Kategorien“ oder Namen fassen, sondern bisher nur von dem berichten, was sich an ihm ereignet hat (Verse 30-33). Diesen letzten Schritt geht Jesus mit ihm gemeinsam, ganz ähnlich wie in der Erzählung von der Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4,25-26). Entscheidend ist hier die Auskunft „du hast ihn bereits gesehen“, denn sie verweist auf das, was Jesus in Vers 39 ausführen wird: Blinde werden sehen und Gottes Wirken erkennen. Der Mann versteht die Worte Jesu, wie seine Reaktion der Verehrung zeigt. Anders als die hinzukommenden Pharisäer. Deren Blindsein besteht darin, zu meinen etwas zu sehen und zu erkennen und darüber für keine neue Erkenntnis oder Offenbarung mehr zugänglich zu sein. Darin besteht ihr Fehlverhalten dem Blinden und Jesus gegenüber. Sie halten an ihren Überzeugungen fest und können sich kein Handeln Gottes außerhalb der von ihnen gewohnten Bahnen vorstellen.