„Und? Wer wirft den ersten Stein?“ – mit diesem einen Satz bringt Jesus die Selbstsicherheit der Schriftgelehrten und Pharisäer zu Fall. Bringt er auch uns zum Nachdenken?
1. Verortung im Evangelium
Die Erzählung von der Ehebrecherin ist dem Johannesevangelium erst im Laufe des 3. Jahrhunderts hinzugefügt worden. In den ältesten Handschriften des Evangeliums findet sich die Geschichte nicht. Als mündliche Erzählung ist sie jedoch sicher deutlich älter und eine Beispielgeschichte für die Auseinandersetzung Jesu mit dem Gesetzesverständnis frommer Kreise des Judentums seiner Zeit.
2. Aufbau
Die Erzählung beginnt mit einer grundsätzlichen Einführung in die Szene in den Versen 1-2. Die Verse 3-5 stellen eine typische Einleitung zu einem Streitgespräch zwischen Jesus und den Schriftgelehrten und Pharisäern dar. Die Verse 6-9 berichten das Handeln Jesu und der Reaktion der Gegner. Erst die Verse 10-11 widmen sich der eigentlichen Begegnung zwischen Jesus und der Ehebrecherin.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 1-2: Die Einleitung in die Szene ist nur vage mit dem Kontext zuvor verbunden. Die Auseinandersetzung Jesu mit dem Hohen Rat im Johannesevangelium 7,37-53 war eine Anschlussmöglichkeit, um die vorliegende Erzählung der Auseinandersetzung einzupflegen.
Verse 3-5: Die Schriftgelehrten und Pharisäer sind zwei Gruppen des Judentums, die durch ihre strenge Beachtung und strikte Auslegung des Gesetzes, also der Tora (Bücher des Mose), und Schriften des Judentums hervorstachen. Die Rolle als „Richter“ in Situationen, die gegen die Schrift verstoßen (wie hier der Ehebruch) werden sie historisch erst um 70 n. Chr., d.h. nach dem Fall des Tempels eingenommen haben. Das Geschehen im Evangelium setzt die Weisungen im Buch Levitikus 20,10 und im Buch Deuteronomium 22,22 voraus. Dort findet sich als Strafe für den Ehebruch der Tod, der in der Regel durch Steinigung herbeigeführt wurde. Da weder der Ehemann noch der Mann, mit dem der Ehebruch begangen wurde, in der Erzählung eine Rolle spielen, ist klar, dass es einzig auf das Zusammentreffen zwischen Jesus und der Frau hinausläuft.
Verse 6-9: Die eigentlichen Richter stellen Jesus auf die Probe, indem sie ihn um einen Richterspruch bitten. Das Ziel ihrer Frage ist offensichtlich, sie wollen Jesus dazu verleiten, das Gesetz eben nicht mit ihren und damit den althergebrachten Maßstäben anzuwenden.
Das Verhalten Jesu, in den Sand zu schreiben, und sich damit einer Antwort zu entziehen, erinnert an Jeremia 17,13. Hier ist davon die Rede, dass alle, die sich vom Herrn abwenden, in den Sand geschrieben werden – hier ist an die Namen derer, die sich vom Herrn abwenden zu denken.
Die klare Antwort Jesu erinnert an das Wort Jesu im Lukasevangelium (Lk 6,37): „Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden!“ und erreicht eine sofortige Wirkung. Alle verlassen die Szene, wobei die Ältesten, also die mit der vermeintlich größten Weisheit als erste zur Einsicht kommen und gehen.
Verse 10-11: Der Dialog ist kurz und knapp und hebt auf diese Weise die Dramatik der Szene hervor. Mit einem Schlag oder besser mit einer Frage sind die Ankläger verschwunden. Die Antwort der Frau: „Keiner, Herr!“ lässt in der Anrede Jesu erkennen, dass sie sich nun ihm als Richter unterstellt.