Standortbestimmung. Gehen oder bleiben – eine Frage nicht nur für die Jünger im Evangelium?!
1. Verortung im Evangelium
Das Johannesevangelium (Joh) beginnt mit einem Loblied auf Jesus Christus als das ewige Wort des Vaters (Joh 1,1-18). Er ist in die Welt gesandt, um die Herrlichkeit Gottes sichtbar zu machen und den Menschen den Weg zum Vater zu eröffnen. Diese Sendung Jesu ist als Grundthema in allen Erzählungen zu finden.
Joh 6,60-69 gehört zum Erzählkomplex der sogenannten „Brotrede“. Ausgangspunkt dafür ist das „Zeichen“ (der Evangelist Johannes verwendet diesen Begriff statt „Wunder“) der Brotvermehrung (Joh 6,1-21). Daran schließt sich ein ausführlicher Redeabschnitt an, indem Jesus zunächst in der Synagoge in Kafarnaum über das Himmelsbrot spricht (Joh 6,22-59). Mit seinen Worten in der Synagoge reagiert Jesus auf die Fragen und das Staunen der Menge, gleichzeitig ist seine Ausführung Ausgangspunkt für Diskussionen und Unverständnis unter den Zuhörern. So berichtet der Evangelist mehrfach davon, dass „die Juden murrten und sich stritten“ und auch „die Jünger werden murren und nehmen Anstoß“. Joh 6,60-69 (eigentlich bis Vers 71) bildet den Abschluss der „Brotrede“. Jesus spricht nun nicht mehr zu „den Juden“ und damit einer großen Menge, sondern zunächst zu den Jüngern (Joh 6,60) und schließlich nur noch zu den „Zwölf“ (Joh 6,67).
2. Aufbau
Der Text unterteilt sich in zwei Adressatengruppen. Die Verse 60-66 sind an „die Jünger, die ihm zuhörten“ gerichtet, die Verse 67-69 an „die Zwölf“. Im ersten Teil wird das Motiv des Murrens wiederaufgenommen (vgl. Joh 6,41) und so eine Verbindung zwischen „den Jüngern“ und „den Juden“ geschaffen. Im zweiten Teil steht das Bekenntnis des Petrus stellvertretend für den inneren Kreis der „Zwölf“ im Vordergrund.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 60: Da Vers 59 noch explizit betont hatte, dass Jesus die Worte zuvor in der Synagoge gesprochen hatte, ist anzunehmen, dass das folgende Gespräch mit den Jüngern vor bzw. außerhalb der Synagoge stattfindet. Jesus spricht nun nicht mehr allgemein zu „den Juden“ (Vers 41), die ihm von der Brotvermehrung bis zur Synagoge in Kafarnaum gefolgt waren, sondern zu den eigenen Jüngern. Auch unter ihnen gibt es solche, die sich an den Worten Jesu stören. „Diese Rede“ Jesu über das Essen und Trinken seines Fleisches und Blutes (Joh 6,54-57), aber auch sein Anspruch Sohn Gottes, des himmlischen Vaters zu sein (Joh 6,37-40) erregt die Gemüter. Letztere Behauptung („ich bin vom Himmel herabgekommen“, Vers 38) ist es, die das „Murren“ der Juden (Vers 41) überhaupt in Gang bringt.
Verse 60-63: Jesus spricht die Jünger direkt auf ihre kritische Haltung an, er selbst legt ihnen in der Darstellung des Johannes das „Murren“ in den Mund. Damit unterscheiden sich die Jünger, die Vertrauten, nicht von den übrigen „Juden“. Die Antwort Jesu bietet hier keine weitere Erläuterung seiner vorangegangenen Worte, sondern eine Erweiterung. Wenn sie das Bisherige schon schwer zu verstehen fanden, wie wird es ihnen dann erst mit dem Kommenden gehen. Jesus blickt voraus auf die Osterereignisse und seine Rückkehr zum Vater, nachdem er im Kreuzestod dessen ganze Liebe zu den Menschen offengelegt hat.
Vers 63 als Ganzer ist kompliziert und lässt mehrere Deutungen und Missverständnisse zu. Eine mögliche Verstehenslinie schlägt eine Verbindung zum Anfang der Brotrede in Joh 6,26-27. Jesus fordert die Anwesenden dort auf, sich nicht von den vordergründigen Dingen vereinnahmen zu lassen. Sie sollen nicht wegen des Sichtbaren, des Zeichens, nicht wegen der Brotvermehrung an ihn glauben, sondern wegen dem, was das Zeichen sichtbar macht: Dass er Jesus, als Sohn des himmlischen Vaters ewiges Leben zu geben hat. Wenn Jesus hier nun davon spricht, dass er „Geist und Leben“ in seinen Worten hat, verweist er erneut auf die Wirklichkeit, die seinen Taten zugrunde liegt.
Verse 64-65: Der Evangelist Johannes lässt nun geschickt das „Vorwissen“ Jesu über die Jünger einfließen: Auch unter ihnen sind „einige, die nicht glauben“. Selbst bei den Jüngern fällt es manchen schwer, den Kern der Worte und Taten Jesu zu verstehen, anzunehmen und für sich eine Schlussfolgerung (Glauben) zu ziehen. Das Wissen Jesu um die innere Haltung einiger Jünger bestätigt seine göttliche Herkunft, da das „Kennen der Herzen“ sonst immer eine Gott zugeschriebene Eigenschaft ist. Mit Vers 65 knüpft Jesus Bezug auf die Verse 43-46 der Brotrede. Dort spricht Jesus vom liebevollen Werben („ziehen“, vgl. die Auslegung zu dieser Stelle) des Vaters. Gott lädt nicht zuletzt mit der Sendung des Sohnes in die Welt, die Menschen ein, an ihn zu glauben. Ohne diese Hilfestellungen des Vaters ist glauben nicht möglich, weil glauben immer antworten auf das Geschenk der Nähe und Offenbarung Gottes ist.
Vers 66: Der Evangelist schildert nüchtern das Ergebnis dieser Ansprache Jesu an die Jünger. Es kommt zu einer Spaltung im Jüngerkreis, denn einige beschließen von nun an nicht mehr mit Jesus umherzuziehen. Sie „ziehen sich zurück“ ist zu unterscheiden von „sich abwenden“, das an anderen Stellen in den Evangelien zu lesen ist. Der „Rückzug“ scheint hier bewusst vom Evangelisten als nicht-endgültiger Bruch mit Jesus formuliert zu sein.
Vers 67: Nun, da sich die Gruppe geteilt hat und offenbar nur noch „die Zwölf“ anwesend sind, richtet Jesus das Wort an sie. Nur an dieser Stelle wird der Kreis der „Zwölf“ explizit im Johannesevangelium erwähnt. Von daher liegt es nahe, sie hier vor allem als Repräsentanten des „neuen Gottesvolkes“, als durch den Glauben an Jesus Erwählte zu verstehen und die Zahl nicht absolut zu setzen. Es können also auch mehr als „die zwölf“ Jünger nach der Brotrede noch bei Jesus verblieben sein. Sie machen als Gruppe diejenigen aus, die sich von den Worten Jesu nicht haben verwirren oder erregen lassen. Es sind diejenigen, für die Petrus im Folgenden als Sprecher fungiert.
Verse 68-69: Stellvertretend für die Verbliebenen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie die Sendung Jesu vom Vater her nicht als Ärgernis hören und seine Worte über das lebendige Bort nicht als Affront verstehen, spricht Petrus ein Bekenntnis aus. Es gibt keinen anderen Ort, wohin sie sich wenden können, wenn sie das „ewige Leben“ suchen und sich in die Nähe Gottes begeben wollen. Die Anrede „Heiliger Gottes“, die ebenfalls nur hier im Johannesevangelium auftaucht, bringt ja genau das zum Ausdruck. Jesus als „Heiliger Gottes“ ist der Begegnungsort mit Gott mitten in der Welt.