Anziehungskraft. Jesus eröffnet den Weg zum Vater und doch ist es der Vater, der wirkt.
1. Verortung im Evangelium
Das Johannesevangelium (Joh) beginnt mit einem Loblied auf Jesus Christus als das ewige Wort des Vaters (Joh 1,1-18). Er ist in die Welt gesandt, um die Herrlichkeit Gottes sichtbar zu machen und den Menschen den Weg zum Vater zu eröffnen. Diese Sendung Jesu ist als Grundthema in allen Erzählungen zu finden. Der vorliegende Abschnitt stammt aus einem umfassenderen Redeabschnitt, indem Jesus in der Synagoge in Kafarnaum über das Himmelsbrot spricht (Joh 6,22-59). Ausgangspunkt zu dieser Unterhaltung zwischen Jesus und der Menge in Kafarnaum ist das Wunder der Brotvermehrung, von dem der Evangelist Johannes in Joh 6,1-21 berichtet hatte. Mit seinen Worten in der Synagoge reagiert Jesus auf die Fragen und das Staunen der Menge, gleichzeitig ist seine Ausführung Ausgangspunkt für Diskussionen und Unverständnis unter den Zuhörern. So berichtet der Evangelist mehrfach davon, dass „die Juden murrten und sich stritten“ und auch „die Jünger werden murren und nehmen Anstoß“.
In diesen Anfragen an die Worte Jesu spiegeln sich mit Sicherheit auch Anfragen an die Gemeinde des Johannes wieder, die diese aus den eigenen Reihen und ihrem nicht-christlichen Umfeld aufgrund der Feier der Eucharistie erhalten hat.
2. Aufbau
Der Abschnitt lässt sich in zwei Teile gliedern. Teil 1 (Verse 41-46) ist geprägt durch das Murren der Juden, ihr Unverständnis und eine erste Antwort Jesu. Teil 2 (Verse 47-51) setzt sich davon ab, weil hier nur noch Jesus in Form eines Offenbarungswortes spricht.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 41-42: Die Volksmenge wird vom Evangelisten Johannes nun als „die Juden“ bezeichnet. Dies erleichtert den Vergleich zwischen der Menge, die Zeuge des Vermehrungswunders Jesu wurde, und den Israeliten, die in der Wüste gegen Gott murrten und das himmlische Manna erhielten (Exodus 16). Die Empörung der Juden richtet sich gegen die Selbstaussage Jesu in den Versen Joh 6,32-33. Ähnlich wie in den synoptischen Evangelien (Markus-, Matthäus- und Lukasevangelium) steht „das Wissen“ um die Herkunft Jesu und damit ein Vorverständnis seiner Person, einem wirklichen Erkennen seiner Herkunft und seines Wesens entgegen (vgl. Markusevangelium 6,1b-6).
Verse 43-46: Mit der Wiederaufnahme des Wortes „murren“ in der Antwort Jesu, wird wiederum an die Erzählung aus der Wüstenzeit erinnert. Jesus reagiert auf seine Weise auf die Skepsis und das Unverständnis der Menschenmenge. Seine Selbstidentifizierung als „Brot vom Himmel“ führt er zunächst nicht explizit weiter aus, wohl aber nimmt er auf die Frage nach seiner Herkunft Bezug. Indem er der Menge mehrfach eröffnet, dass er „vom Vater ist“ (Vers 46) und „vom Vater gesandt wurde“ (Vers 44), möchte er ihre Augen öffnen. Es ist nicht die irdische Abstammung, die ihnen scheinbar bekannt ist, sondern die himmlische Herkunft, die sein Wirken und seine Vollmacht ausmachen. So ist er Mensch mit menschlichen Bezugsgrößen wie Familie, Heimatort etc., und zugleich ist er der, der vom himmlischen Vater in die Welt gesandt wird, um von ihm Kunde zu geben.
Mit dem Motiv „ziehen“ bringt Jesus eine weitere Ebene in das Gespräch ein. Es geht nicht nur um ein Verstehen der Herkunft und der Person Jesu, wenn er mit der Menge in den Dialog tritt. Sein Wirken, seine Worte sind Teil eines Beziehungsangebots Gottes. Das Wort „ziehen“ ist eine biblische Metapher für die Liebe. Im Buch des Propheten Hosea wird beispielsweise berichtet, wie Gott versucht um Israel zu ringen, es liebevoll zu sich zieht, um es vor dem Abfall an andere Götter zu bewahren (Hosea 11,1-4). Es geht um eine innere Bewegung, ein Sich-Einlassen auf Gott und ein Zugehen Gottes auf den Menschen. Genau in dieser Ambivalenz verwendet der Evangelist Johannes den Begriff und lässt Jesus damit nicht nur eine Verhältnisaussage zwischen sich und dem Vater treffen, sondern auch eine zwischen den Menschen und dem himmlischen Vater und sich selbst. Jesus verweist darauf, dass ein „zu ihm kommen“, das mit glauben und verstehen gleichzusetzen ist, Geschenk des Vaters ist. Er „zieht“ die Menschen, er wirbt um sie, er geht auf sie zu. Zugleich ist der Glaube an Jesus aber die Gelegenheit, sich Gott, dem Vater selbst anzunähern.
Verse 47-50: Mit der feierlichen Einleitung „amen, amen“ beginnt im Johannesevangelium immer ein Offenbarungswort Jesu. Noch einmal bezieht sich Jesus auf die Selbstoffenbarung in Vers 35 zurück: „Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben“ (Joh 6,35). Die Erzählung vom murrenden Volk Israel in der Wüste und der Gabe des Himmelsbrotes wird ein weiteres Mal herangezogen. Das Brot, das Jesus ist und gibt, macht weder wieder hungrig, noch überlässt es einem dem Tod.
Vers 51: Jesus identifiziert sich selbst als lebendiges Brot, das vom Himmel kommt. Das lebendige Brot erinnert an das „lebendige Wasser“ in der Erzählung von der Begegnung am Jakobsbrunnen (Joh 4,7-42, v.a. 7-14). Hier wie dort meint „lebendig“ lebensspendend, lebensverheißend im umfassenden Sinne. Deshalb schenkt das Essen des Brotes Zugang zum ewigen Leben und dient nicht nur der Erhaltung des irdischen Lebens, weil es den Hunger stillt. Wenn Jesus sich selbst als „Brot vom Himmel“ bezeichnet, erinnert er damit einerseits an die Erzählung vom Manna in der Wüste und andererseits an seine Sendung, die ihn aus der Herrlichkeit des Vaters (Himmel) auf die Erde führte.
Im letzten Teil des Verses konkretisiert er das Geben des Brotes als Gabe des Fleisches. Gemeint ist damit die Hingabe des eigenen Lebens am Kreuz. Dabei ruft der Evangelist das Loblied vom Anfang des Evangeliums in Erinnerung. Dort wurde Jesus als das ewige Wort Gottes besungen, das Fleisch wurde (Joh 1,14) und damit ganz in der Welt mit all ihren Kausalitäten gegenwärtig wurde. Der theologische Begriff der Inkarnation (Fleischwerdung) Gottes umschreibt die Radikalität der Sendung Jesu als Gottessohn mitten in die Welt. Nur in der Radikalität dieses Hineinkommens in die Welt ist das Kreuz als Höhepunkt der Sendung und Zeichen der absoluten Liebe und Hingabe verständlich. Wenn Jesus davon spricht, dass er sein „Fleisch für das Leben der Welt“ gibt, dann meint er damit, dass er sein Leben für die Welt hingibt, um diese von Hass, Schuld und Sünde zu erlösen. Im Leben der Gemeinde des Johannes enthält das „Geben des Fleisches“ zudem einen klaren Verweis auf die Eucharistie. Indem Jesus sich in den Gaben von Brot und Wein selbst mit Fleisch und Blut gegenwärtig in der Gemeinde zeigt, haben diejenigen, die am eucharistischen Mahl teilnehmen, Anteil an Jesu Leben beim Vater, also am Leben der Ewigkeit.