Das Brotwunder Jesu. Ein wirksames Zeichen mit gefährlichen Konsequenzen
1. Verortung im Evangelium
Das Johannesevangelium (Joh) beginnt mit einem Loblied auf Jesus Christus als das ewige Wort des Vaters (Joh 1,1-18). Er ist in die Welt gesandt, um die Herrlichkeit Gottes sichtbar zu machen und den Menschen den Weg zum Vater zu eröffnen. Diese Sendung Jesu ist als Grundthema in allen Erzählungen zu finden.
Der vorliegende Abschnitt stammt aus einem umfassenderen Erzählabschnitt, der im weitesten Sinne um das Thema „Brot“ kreist. Die Perikope mit dem Wunder der Brotvermehrung (Joh 6,1-21) bildet den ersten Teil dieses Zusammenhangs. Daran schließt sich die Rede Jesu über das Himmelsbrot in der Synagoge von Kafarnaum an (Joh 6,22-59), die Ausgangspunkt für Diskussionen und Unverständnis unter den Zuhörern ist, so dass der Evangelist mehrfach berichtet, dass „die Juden murrten und sich stritten“. Der Zusammenhang endet mit einer „Spaltung“ unter den Jüngern (Joh 6,60-71), weil auch unter ihnen einige an den Worten Jesu Anstoß nehmen. Ausgangspunkt des gesamten Kontextes ist das Wunder, von dem der Evangelist Johannes in Joh 6,1-15 berichtet.
2. Aufbau
Mit den Versen 1-4 wird eine ausführliche Einleitung in das folgende Wunder geschaffen. Die Leser erfahren von einem Ortswechsel Jesu, der Menschenmenge, die Jesus wegen seiner Wundertaten folgt, den begleitenden Jüngern und dem anstehenden Paschafest. In den Versen 5-15 folgt die Erzählung von der Brotvermehrung. Sie wird eingeleitet durch die Frage Jesu und seinen Dialog mit Philippus und Andreas (Verse 5-9). Das eigentliche Wunder wird in den Versen 10-13 geschildert. Die Verse 14-15 geben die unmittelbaren Reaktionen auf die Brotvermehrung wieder.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 1-4: Mit dem Hinweis „danach“ schafft der Evangelist eine lose Verbindung des Brotwunders und der folgenden Szenen zu der vorangegangenen Episode am Teich Betesda in Jerusalem (Joh 5,1-47). Dort hatte Jesus am Sabbat einen Gelähmten geheilt und war in der Folge in einen ausführlichen Dialog mit den anwesenden Juden getreten. Nun wechselt er den Standort und kehrt an den See von Tiberias und damit nach Galiläa zurück. Die Menschenmenge, die ihm nun folgt, hat von der Heilung in Jerusalem nichts mitbekommen. Die Wundertaten, wegen derer sie Jesus folgen, sind die Wunder aus der vorangegangenen Zeit in Galiläa (wie etwa das Weinwunder in Kana, Joh 2,1-12). In Joh 6,26 lässt der Evangelist Jesus eine Einschätzung zu der Motivation der Menschen aussprechen, die sicher nicht nur auf die Zeit „nach der Brotvermehrung“ zutrifft. Seiner Meinung nach ist ihr Interesse vor allem auf das Vordergründige (z.B. die Sättigung) ausgerichtet, aber nicht so sehr auf die Wirklichkeit, auf die die Wunder verweisen: In Jesus wird Gott und seine heilsame Nähe erfahrbar.
Wie an anderen Stellen in den Evangelien ist der Berg ein Ort des Rückzugs vor der Menschenmenge (vgl. Markusevangelium 6,46). Dem biblisch geschulten Leser kommt mit dem Motiv „Berg“ immer auch die Assoziation an die Berge als Orte der Gottesbegegnung in den Sinn (Sinai, Horeb etc.). In der Perikope wird gleich zwei Mal von einem Rückzug auf den Berg gesprochen. In Vers 3 nimmt Jesus seine Jünger exklusiv mit, in Vers 15 wird explizit erwähnt, dass er sich „allein“ zurückzieht. Für den Gottessohn ist der Berg der Ort der Nähe zum Vater, der ihn gesendet hat.
Der Hinweis auf das nahe Paschafest verweist sehr subtil auf einerseits das Paschafest am Ende des Evangeliums, an dem Jesus zu Tode kommt, nachdem man versucht hat, ihn „zum König zu machen“ (Vers 15). Andererseits gehört zu den Festlesungen des Paschafestes die Geschichte von der Speisung des Volkes Israel in der Wüste mit dem Himmelsbrot (Exodus 16).
Verse 5-9: In den anderen Evangelien (Markus, Matthäus und Lukas) ist die Brotvermehrung immer verbunden mit einer vorangehenden andauernden Lehrrede Jesu (vgl. Markusevangelium 6,34-44). Sie ist der Grund, warum die Menschen dann ausgehungert sind und gespeist werden müssen. Im Johannesevangelium entfällt diese Verknüpfung, hier steht das Zeichen der wundersamen Speisung deutlicher im Fokus. Dies zeigt auch die Überleitung zum Wunder durch die „Testfrage“ Jesu an Philippus (Verse 5-6). Jesus sieht die Menschen und weiß, welches Zeichen er unter ihnen wirken möchte! Die Reaktion des Philippus, der Jesus als einer der ersten nachfolgte und den Natanaël auf ihn aufmerksam machte (Joh 1,43-46), zeigt, dass er die Absicht Jesu nicht kennt oder erkennt. Er sieht nur das praktische Problem, dass sie zu wenig Geld für den Einkauf haben. Ebenso verweist Andreas auf ein Defizit: Die fünf Brote und zwei Fische können niemals reichen.
Verse 10-13: Das folgende Handeln Jesu steht in starkem Kontrast zur Wahrnehmung der beiden Apostel. Jesus weiß als in die Welt gesandter Gottessohn, dass es für alle reichen wird. Also lässt er die Menschen lagern – erst jetzt wird ihre Zahl mit 5000 beziffert – und verteilt die vorhandenen Gaben unter ihnen, nachdem er ein Dankgebet gesprochen hat. Das Wunder selbst wird nur durch seine Folgen sichtbar: alle werden satt und es bleiben zwölf Körbe übrig. Auf diese Weise wird vermieden, dass die Vermehrung der Brote und Fische zu einer Art Zaubertrick wird und sich plötzlich sichtbar Nahrungsmittel vermehren. Die Kernaussage ist: Bei Gott gibt es Leben in Fülle. Die 5000 erleben, was Jesus wenig später in Worte fassen wird: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Vorbild für das Brotwunder ist die alttestamentliche Erzählung von der wundersamen Speisung der Prophetenjünger des Elischa im 2. Buch der Könige (2. Buch der Könige 4,42-44).
Verse 14-15: Die Reaktion auf das Zeichen Jesu ist eindeutig. Die Menge kommt zu dem Schluss: Jesus ist „der Prophet, der in die Welt kommen soll“. Philippus hatte dem Natanaël Jesus noch deutlich vorsichtiger vorgestellt als denjenigen, von dem „geschrieben“ wurde (Joh 1,21). Die Einschätzung der Menge ist zwar richtig, aber zugleich gefährlich. Dies erkennt Jesus sofort. Er weiß, dass ihre Sehnsucht nach einem Menschen, der mit Vollmacht ausgestattet ist, groß ist. Er weiß aber auch, dass sie deshalb versuchen werden, sich seiner zu bemächtigen, damit er nach ihrem Willen beziehungsweise ihrer Vorstellung herrscht. Die wirkliche und richtige Vorstellung des Königtums Jesu wird in der Verhandlung vor Pilatus erneut thematisiert werden und zieht sich bis zur Diskussion um die Kreuzesinschrift (Joh 18,28-19,22).
Der Evangelist lässt Jesus sich nun erneut auf den Berg und damit in die Gegenwart des Vaters zurückziehen. Dass er in Vers 15 diese Nähe alleine sucht (im Gegensatz zu Vers 3), hängt sicher mit den Reaktionen der Menschen zuvor zusammen.