Wer von diesem Wasser trinkt, wird weder dürsten noch schweigen.
1. Verortung im Evangelium
Das Johannesevangelium (Joh) beginnt mit einem Loblied auf Jesus Christus als das ewige Wort des Vaters (Joh 1,1-18). Er ist in die Welt gesandt, um die Herrlichkeit Gottes sichtbar zu machen und den Menschen den Weg zum Vater zu eröffnen. Diese Sendung Jesu ist als Grundthema in allen Erzählungen zu finden.
In Joh 4,5-42 trifft Jesus am Brunnen der Stadt Sychar in Samarien auf eine Frau. Nach der Begegnung mit dem Pharisäer Nikodemus (Joh 3,1-21) ist die Erzählung aus Samaria der zweite ausführlich Dialog, der den Glauben und die Suche nach Gott thematisiert. Der Glaube und das anschließende Zeugnis der Frau am Jakobsbrunnen ist dabei ein Gegenpol zur Skepsis des Nikodemus.
2. Aufbau
Der Text ist stark durchkomponiert und schafft es mithilfe der wechselnden Konstellationen und Schwerpunkte die Spannung aufrecht zu halten. Vers 4 begründet, warum sich Jesus in Samaria aufhält (dazu gehören eigentlich auch die Verse Joh 4,1-3). Die nachfolgende Episode in Sychar ist in zwei Teile gliederbar. Im ersten Teil begegnet Jesus in den Versen 5-26 der Frau am Brunnen. Im Gespräch mit Jesus findet sie schrittweise zum Glauben an ihn. Der zweite Teil erzählt nach einer Überleitung, in der die Jünger hinzukommen und die Frau in ihr Dorf zurückkehrt (Verse 27-30), von einem Gespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern (Verse 31-38) und berichtet abschließend vom Erfolg der Mission in Samaria (Verse 39-42).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 4: Jesus, der sich zuvor in Judäa aufgehalten hatte, will nach Galiläa zurückkehren (Joh 4,1-3). Die kürzeste Strecke führt dabei durch Samarien. Ob er sie nehmen „muss“ weil sich in Jerusalem bereits die Stimmung gegen ihn wendet, bleibt offen, ist nach der Einleitung (Verse 1-3) aber denkbar.
Verse 5-26: Die Verse 5-6, zu denen auch Vers 8 noch hinzuzuziehen ist, sind eine erweiterte Einleitung in die Szene. Die Stadt Sychar mit dem sogenannten Jakobsbrunnen greift zurück auf die Überlieferung im Buch Genesis, nach der Jakob ein Grundstück kauft (Genesis 33,19) und dieses später Josef vererbt. In der Nähe dieses Grundstücks liegt ein Brunnen, der als „Jakobsquelle“ bezeichnet wird. Die Mittagshitze und die Anstrengung der Reise veranlassen Jesus zu einer Rast am Rande des Brunnens. Zur Dramaturgie der Szene gehört es, dass Jesus alleine auf die Frau trifft. Seine Jünger sind abwesend, weil sie Proviant einkaufen.
Samaritaner: Ist die Bezeichnung für einen Teil der Bevölkerung der Region Samarien (Norden Israels), die sich wohl nach dem Babylonischen Exil (5./4. v.Chr.) in der von den Persern gegründeten Provinz als religiöse Gruppe herausgebildet hat. Sie halten sich an die Tora, also an die Gesetze Israels, verehren Gott jedoch nicht in Jerusalem, sondern in einem Heiligtum auf dem Berg Garizim. Die immer wieder thematisierte Differenz zwischen Juden und Samaritanern ist in der unterschiedlichen Kultstätte begründet.
Die Verse 7-10 zeichnen den ersten Kontakt und den Beginn des intensiven Gesprächs zwischen Jesus und der Frau aus Samarien nach. Die Zurückweisung des Wunsches Jesu hat zwei Gründe: Zum einen spricht ein jüdischer Mann keine Frau unvermittelt an, zum anderen suchen Juden und Samaritaner aufgrund ihrer unterschiedlichen Glaubensauffassung keinen Kontakt zueinander. Die Frau erinnert also an die herrschenden Konventionen, wenn sie Jesu Bitte abschlägt. Doch dieser hält das Gespräch aktiv, indem er mit der Erklärung seiner Bitte um Wasser, den Dialog auf eine nächste Ebene hebt. Jesus spricht in der 3. Person über sich selbst und verleiht dem Thema Wasser damit einen gewissen Abstraktionsgrad. Die Differenz zwischen dem realen Wasser, das aus dem Brunnen geschöpft werden kann, und dem Wasser, das als lebensspendendes Geschenk Gottes durch Jesus vermittelt wird, erzeugt die Spannung der Dialogszene. Die Formulierung Jesu „worin die Gabe Gottes besteht und wer es ist, der zu dir spricht“ bleibt für die Frau geheimnisvoll. Die Leser des Evangeliums hingegen können die „Gabe Gottes“ als den in der Taufe verliehenen Geist Gottes und die dadurch wirksam werdende Gnade identifizieren.
Aus diesem ersten Hinweis Jesu zur wahren Bedeutung der Begegnung entsteht in den Versen 11-15 ein nächster Gesprächsschritt. Die Frau versteht „lebendiges Wasser“ im Alltagssinn eines fließendes Gewässers im Unterschied zum stehenden Waser einer Zisterne. Aufgrund der Tiefe des Jakobsbrunnens (32m), so wie er heute existiert, wird dieser jedoch mit frischem Quellwasser gespeist, das mit entsprechendem Schöpfgerät zugänglich ist. Darauf bezieht sich die erste Antwort der Frau. Die zweite Antwort zeigt, dass die Frau die Äußerung Jesu jedoch auch als religiöse Provokation auffasst. Für die Samaritaner gehört der Jakobsbrunnen zu ihrem Erbbesitz des Vaters Jakob. Will Jesus an dieses von Jakob selbst vermachte Quellwasser heran?
Jesus setzt erneut an, um das „lebendige Wasser“ als Gabe zu erklären. Dabei geht es eben nicht um das reale Wasser im Brunnen, das Durst nicht endgültig stillt. Positiv beschrieben lässt das lebendige Wasser nie wieder durstig werden. Denn es wird für den Trinkenden zu einer inneren Quelle. Diese lässt Anteil haben am ewigen Leben und ist zugleich eine Quelle, aus der auch andere lebendiges Wasser trinken können. Damit wird bereits in Vers 14 das Thema des zweiten Hauptteils (Verse 27-42) angedeutet.
Auch diese Worte Jesu deutet die Frau auf eine lebenspraktische Weise. Für sie würde das Wasser, das den Durst für immer stillt, bedeuten nicht mehr zum Brunnen gehen und schöpfen zu müssen.
In der nun folgenden Dialogsequenz der Verse 16-18 verdeutlicht Jesus der Frau durch seinen Blick auf ihre Lebensnot, wer mit ihr spricht (Vers 10). Die Frau ist mit einem Mann zusammen, der nicht ihr Ehemann ist, nachdem sie bereits fünf Ehemänner zuvor gehabt hat. Warum diese Ehen in die Brüche gingen, bleibt ungeklärt. Jesus urteilt weder über die vergangenen noch über die aktuelle Beziehung – er erkennt an, dass die Frau die Wahrheit spricht. Ihre Suche nach Lebensglück und wirklichem Leben scheint bisher gescheitert.
Das Wissen Jesu über ihr Leben führt das Gespräch in den Versen 19-24 auf eine neue Ebene. Das erste Mal ergreift nun die Frau die Initiative und stellt ihrerseits Jesus eine Frage. Sie erkennt in ihm einen Propheten, weil er das Verborgene sieht. Also vertraut sie ihm und hofft, von ihm eine Antwort zu bekommen. In ihrer Suche nach Glück und Beheimatung bei einem Menschen, ist sie offenbar bislang gescheitert. Angesichts der Tatsache, dass ihr ein Prophet gegenübersteht, der zu denen gehört, die Gott im Tempel in Jerusalem verehren und anrufen, stellt sie ihren bisherigen Glauben in Frage oder will ihn zumindest absichern lassen.
Die Antwort Jesu ist kompliziert. An ihrem Anfang steht jedoch eine Ermutigung, die auf die vertrauensvoll gestellte Frage der Frau reagiert. Für das Verständnis der Äußerung Jesu ist es wichtig darauf zu achten, dass die Antwort ganz der Logik der Frage folgt. Insofern äußert sich Jesus aus der Position des Juden heraus, den die Frau in ihm sieht, wenn er sagt: „Das Heil kommt von den Juden“. Durch die vorausgestellte Feststellung ist dies aber zugleich relativiert: Es wird eine Zeit kommen, in der der Ort der Anbetung nicht mehr entscheidend sein wird. Diese „Stunde“, von der Jesus spricht, scheint sowohl da wie noch ausstehend. In ihr wird Gott als Vater angebetet. Und diese Erkenntnis erfolgt unter den Maßstäben der von Gotte selbst geschenkten Bedingungen: Geist und Wahrheit.
In der letzten Ebene des Dialogs führt Jesus die Frau in den Versen 25-26 zu einem ersten Verständnis seiner Person. Sie verweist auf die den Juden und Samaritanern gemeinsame Glaubenshoffnung eines kommenden Messias, der die Menschen in eine erneuerte Beziehung zu Gott führt. Jesus antwortet nicht mit: „Ich bin der Messias“, sondern identifiziert die Aussage der Frau mit sich als Sprecher. In „ich bin es, der mit dir spricht“ steckt sowohl ein Rückverweis auf Vers 10 als auch eine Erinnerung an die Selbstoffenbarung Gottes im brennenden Dornbusch („ich bin der, der ich bin“, Exodus 3,14).
Verse 27-30: Die Jünger kehren aus der Stadt zu Jesus zurück. Der Evangelist schildert ihre Verwunderung darüber, dass Jesus mit einer Frau spricht. Ihr Schweigen, das vom Evangelisten ebenfalls erwähnt wird, zeugt davon, dass sie die im wahrsten Sinne unkonventionelle Art Jesu bereits kennen.
Ohne ihren Wasserkrug verlässt die Frau den Brunnen und berichtet in der Stadt von ihrem Erlebnis. Mit „kommt her!“ und „ist er vielleicht der Christus“ gibt sie nicht nur ihr Verständnis der Person Jesu weiter, sondern lädt andere ein, ihm auch auf diese existentielle Weise des „Erkanntwerdens“ („der mir alles gesagt hat, was ich getan habe“) zu begegnen.
Die Weitergabe der Kunde und das Gespräch mit den Jüngern in den folgenden Versen finden parallel zueinander statt. Denn die Menschen, die der Kunde der Frau folgen, sind erst ab Vers 39 wieder präsent.
Verse 31-38: Der Dialog zwischen Jesus und den Jüngern hat Ähnlichkeiten mit dem Gesprächsgang in den Versen 5-26. Der Aufforderung der Jünger, von den mitgebrachten Speisen zu essen, hält Jesus entgegen, von einer ihnen unbekannten Speise zu essen. So wie die Frau die Rede vom lebendigen Wasser auf der Ebene des Alltags interpretierte, verstehen auch die Jünger die Antwort. Sie nehmen an, jemand anders hätte Jesus mittlerweile etwas zu essen gebracht.
Jesus gibt seine Speise den Jüngern gegenüber mit Worten zu erkennen, die ihrem Verständnis helfen und die im Verlauf des Evangeliums immer wieder aufgenommen werden. Was Jesus am Leben erhält, ihn nährt, ist seine Sendung. Er ist in die Welt gekommen, um den Willen des Vaters zu tun und sein Werk zu vollenden.
Um dies zu verdeutlichen, nutzt Jesus das Bild der Ernte, das aus dem Alten Testament als Bild für die endzeitlichen Ereignisse bekannt ist. Es kann sowohl für das Gericht Gottes stehen (Joël 4,13) als auch für die Sammlung der Treuen (Jesaja 27,12). In Vers 35 möchte Jesus die Jünger darauf aufmerksam machen, dass die Zeit der Ernte bereits da ist und nicht erst nach einer bestimmten Zeit ansteht. Jesus führt das Bild fort: Sämann und Schnitter freuen sich über die Ernte, der Schnitter (der Erntende) sammelt Frucht für das ewige Leben. Wenn sich der Erntende über den Lohn bzw. die Ernte freut, kann dies kein „Angestellter“, kein Lohnarbeiter sein, sondern der Besitzer der Felder. Jesus spricht – ähnlich wie im Dialog mit der Frau – hier von sich selbst. Er ist der Schnitter, der sich über die Ernte freut, weil sie bedeutet, dass Menschen Zugang zum ewigen Leben finden. Der Sämann ist Gott selbst, er freut sich mit seinem Sohn darüber, dass die Saat aufgeht und die Menschen das ewige Leben erlangen.
In Vers 37 verändert Jesus die Bezugspunkte für das Ernte-Bild. Nun sind die Jünger die Erntenden und zwischen Säendem und Erntenden wird unterschieden. Jesus hat die Jünger gesandt, um zu ernten, was sie nicht gesät haben – denn der Säende bleibt Gott und damit auch Jesus selbst. Von einer Aussendung der Jünger zur Mission ist im Johannesevangelium nicht explizit die Rede. Die Gemeinde, für die Johannes das Evangelium schreibt, wird gleichwohl die missionarische Weitergabe des Evangeliums kennen. Und sie dürfte sich anhand der Worte Jesu hier daran erinnern, dass hinter dem missionarischen Erfolg immer das Wirken des Säenden und damit das Wirken Gottes selbst steht.
Verse 39-42: Im Nachgang zu dem Dialog in den Versen 31-38, der die Weitergabe des Glaubens „theoretisch“ in den Blick nimmt, wird dies nun greifbar. Die Frau hat unter denen, die sie traf, bezeugt: „Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe“. Und dieses Zeugnis hat andere zum Glauben gebracht, wie der Evangelist explizit formuliert. Nun kommen sie zu Jesus und wollen ihn in ihrer Nähe wissen. Was Jesus mit den Bewohnern von Sychar redet, bleibt unerwähnt. Johannes hält abschließend nur fest, dass die Menschen durch die Worte Jesu zur Überzeugung kommen: „Er ist wirklich der Retter der Welt“.