Lesejahr A: 2022/2023

Evangelium (Joh 20,19-31)

19Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch!

20Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen.

21Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.

22Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist!

23Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten.

24Thomas, der Didymus genannt wurde, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam.

25Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.

26Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch!

27Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!

28Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott!

29Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.

30Noch viele andere Zeichen hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind.

31Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen.

Überblick

Ich sehe was, was du nicht siehst! … und wenn ich nichts sehe, kannst auch du nichts sehen, so müsste es laut dem heutigen Evangelium eigentlich weitergehen.

 

 

1. Verortung im Evangelium
Die Verse 19-29 bilden das Ende der Ostererzählungen im Johannesevangelium (Joh). Sie schließen sich an die Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes (Joh 20,1-10) und der Begegnung zwischen Jesus und Maria Magdalena (Joh 20,11-18) an. Die Verse 30-31 bilden den ursprünglichen Abschluss des Johannesevangeliums. Die Erzählungen, die heute das 21. Kapitel des Evangeliums bilden, wurden erst später angefügt.

 

2. Aufbau
Der Text des heutigen Evangeliums lässt sich in drei Teile untergliedern. Die ersten beiden Abschnitte (Verse 19-23 und 24-29) sind dabei eng miteinander verbunden: Die Verse 24-29 wiederholen in gewisser Weise die Ereignisse der Verse 19-23, nur dass zwischen den beiden Erscheinungen Jesu eine Woche vergangen ist.
Die Verse 30-31 sind als grundlegende Kommentierung des Evangeliums und Erklärung seiner Entstehung angeschlossen.

 

3. Erklärung einzelner Verse
Vers 19-21: Zwischen der Auffindung des Grabes und der Erscheinung vor allen Jüngern liegen nur einige Stunden. Am Abend des selben Tages haben sich die Jünger ängstlich zurückgezogen. So wie in Joh 19,38 Josef von Arimathäa als jemand dargestellt wurde, der seine Zugehörigkeit zu Jesus nur im Verborgenen lebt, so fürchten sich nun auch die Jünger vor den möglichen Konsequenzen (Ausgrenzung, Verfolgung?) eines Bekenntnisses. Die Erscheinung des Auferstandenen inmitten seiner Jünger trotz der verschlossenen Türen kommentiert der Evangelist nicht weiter.
Der Friedenswunsch ist mehr als ein typischer Gruß, er erinnert die Jünger und die Leser des Evangeliums an die Abschiedsreden Jesu (Joh 14-17) und seine Ermutigung der Jünger: „Dies habe ich zu euch gesagt, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt.“ (Joh 16,33) Beim zweiten Mal ist der Zuspruch des Friedens um den Aspekt der Sendung erweitert (Vers 21). Dabei ist die Sendung der Jünger Abbild der Sendung Jesu durch seinen himmlischen Vater.
Das Zeigen der Wundmale an Händen und Seite bewirkt die Erkenntnis der Jünger: Der gekreuzigte Jesus und der auferstandene Jesus sind identisch! Der, der gestorben ist, ist vom Tode auferstanden. Äußeres Zeichen dieser Erkenntnis ist die Freude der Jünger.

 

Vers 22-23: Das Anhauchen erinnert an die Schöpfung des Menschen und das Einhauchen des Geistes durch Gott (Genesis 2,4). Das Geschenk des Geistes durch den Auferstandenen ist eine „zweite“ Schöpfung, denn durch Tod und Auferstehung wird neues Leben geschenkt. Die Taufpraxis der jungen christlichen Gemeinde und der Zuspruch neuen Lebens aus Wasser und Geist steht hier wahrscheinlich schon im Hintergrund der Darstellung.
Die Gabe des Geistes an die Jünger ist Übergabe einer Vollmacht: Sie können Sünden erlassen und „behalten“ (vgl. Matthäusevangelium 18,18). Dies ist aber keine Fähigkeit aus eigener Kraft, sondern nur aufgrund der Gabe des Geistes, d.h. durch göttliche Bevollmächtigung. Nur Jesus hatte zuvor diese Vollmacht (vgl. Joh 8,1-11), nun gibt er sie an seine Jünger, die seine Sendung fortsetzen.

 

Verse 24-25: Der Apostel Thomas war bereits in Joh 11,16 und 14,5 namentlich vorgestellt worden. Er hat bisher nur aufgrund der Aussagen der anderen Jünger von der Auferstehung Jesu gehört und seinen Zweifel angemeldet. Er wird so zum dezidiert letzten Zeugen des Auferstandenen im Johannesevangelium und steht stellvertretend für die Frage der nachfolgenden Generationen, wie sich der Glaube begründen lässt.

 

Verse 26-29: Acht Tage später, also eine Woche später, da der 1. Tag in der jüdischen Rechnung mitgezählt wird, wiederholt sich die Erscheinung Jesu vor den Jüngern. Wieder tritt er durch verschlossene Türen und spricht den Frieden zu. Diese Erscheinung ist ganz dem Thomas gewidmet, von dessen Zweifel Jesus weiß. Der „wirkliche Beweis“ der Auferstehung, also das Anfassen der Wunden wird nicht berichtet. Viel wesentlicher ist das Sehen, das ja bereits in den anderen Erscheinungserzählungen des Ostermorgens eine wichtige Rolle spielte (vgl. Auslegung dazu). Thomas sieht den Auferstandenen und wird von ihm angesprochen und dies bewirkt sein Bekenntnis: „Mein Herr und mein Gott“. Die Aussage Jesu bekräftigt die Bedeutung des Sehens und der Augenzeugenschaft einerseits. Andererseits hebt sie auch den Glauben derer hervor, die in späterer Zeit zum Glauben kommen ohne den Auferstandenen selbst gesehen zu haben. Der Evangelist Johannes nutzt hier das einzige Mal die Formulierung einer Seligpreisung in seinem Evangelium.

 

Verse 30-31: Der abschließende Kommentar knüpft an die letzten Worte Jesu an und gibt Ausgangspunkt und Ziel der Erzählungen des Evangeliums preis. Die Taten Jesu auf seinem Weg durch Galiläa und in Jerusalem einschließlich Tod und Auferstehung sind sichtbare Fakten, sie geschahen vor den Augen seiner Jünger. Damit ist nicht gemeint, dass alles eins zu eins gesehen wurde, wohl aber dass es Zeugen für das Wirken Jesu und die Begegnung mit dem Auferstandenen gibt. Diese visuellen Zeugnisse in schriftliche Zeugnisse zu überführen war Aufgabe des Autors. Sein Anliegen: Das schriftliche Zeugnis soll helfen, den Glauben weiterzutragen – auch zu denen, die nicht selbst dabei waren.

Auslegung

Nicht sehen und doch glauben?! Wenn wir unseren Glauben bekennen, den Glauben an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde und an seinen menschgewordenen Sohn, der stirbt und von den Toten auferweckt wird und an den Heiligen Geist, der von Vater und Sohn gesendet wird – wenn wir diesen Glauben bekennen, stehen wir vor einer riesigen Herausforderung. Wir sollen an etwas glauben, was wir in direkter und konkreter Form nicht sehen oder anfassen können.

Wenn wir dennoch jedes Jahr im Osterfest feiern, dass Jesus Christus wahrhaft von den Toten auferstanden ist, dann geht das nur, weil es Menschen gab, die gesehen haben, was wir nicht sehen. Der Apostel Thomas, der oft nur über seine Ungläubigkeit charakterisiert wird, spielt hierbei eine wichtige Rolle. Denn seine Skepsis zeigt die Herausforderung aller Christen, die nach ihm an die Auferstehung Jesu glauben sollen. Im Johannesevangelium, jedenfalls in der ursprünglichen Version, die mit Kapitel 20 endete, ist Thomas der letzte Mensch, der dem Auferstandenen begegnet. Er kann die Wundmale und die geöffnete Seite Jesu sehen und damit erkennen, dass derjenige, der am Kreuz starb, wirklich und leibhaftig vor ihm steht. Und er braucht dieses eigene Sehen, um das Unglaubliche zu glauben. Nur von den anderen erzählt zu bekommen, dass der Herr auferstanden ist, hat ihm nicht gereicht. Und Jesus hat offensichtlich Verständnis dafür, dass das glauben ohne sehen nicht so leichtfällt. Er ermöglicht dem Thomas, seinem Glauben ein Fundament zu geben und ihn als den Auferstandenen mit eigenen Augen wahrnehmen zu können. Jesus gibt sich dem Thomas so wie den anderen Aposteln zu sehen, zu erkennen. Die letzten Worte, die der Evangelist Johannes von Jesus überliefert, tadeln daher nicht den Thomas, sondern sind eine Ermutigung für alle die, die nach Thomas an den Auferstandenen glauben. Denn sie glauben, ohne selbst gesehen zu haben – und das ist damals wie heute herausfordernd. 
Schon die Menschen zur Zeit der Apostel, die nicht selbst dem Auferstandenen begegnet sind, aber erst recht wir heute, wir müssen uns auf andere verlassen, die gesehen haben. Deshalb legt die Bibel so viel Wert auf die Erzählungen von der Erscheinung des Auferstandenen. Auf diesen „Augenzeugenberichten“ baut der Glaube aller nachfolgenden Generationen auf. Wenn sie nichts gesehen hätten, wenn sie nicht kraftvoll von dem Gesehenen berichtet hätten, wie könnte dann die Kunde heute noch bekannt sein? Der letzte Satz Jesu ist daher eng verbunden mit dem Abschluss des Evangeliums in Joh 20,30-31. Menschen haben gesehen, wie Jesus gewirkt hat und dass er von den Toten auferstanden ist. Und sie haben diese Erfahrungen aufgeschrieben, damit alle, die nicht sehen können, was sie gesehen haben, auch glauben können. Die Zeugnisse der ersten Jünger sind die Grundlage aller Bekenntnisse zu Jesus Christus, der von den Toten auferstanden ist.

Und in irgendeiner Weise ist jedes von uns gesprochene Glaubensbekenntnis davon abhängig. Nicht nur, weil wir auf Texte zurückgreifen, die vor langer Zeit als Bekenntnisse formuliert wurden. Auch jedes ganz persönliche Zeugnis unseres Glaubens in Wort und Tat ist abhängig vom Bekenntnis eines anderen, vielleicht der Eltern oder Großeltern. Und deren Zeugnis hat seinen Ursprung wiederum im Zeugnis eines anderen und so fort. Wenn das heutige Evangelium diejenigen seligpreist, die nicht sehen und doch glauben, dann kann dies ein Anlass sein, voller Dankbarkeit an die Menschen zu denken, die uns den Glauben bekannt und überliefert haben. Von den Aposteln, denen sich der Auferstandene zeigte, bis hin zu den Menschen, die uns von Christus erzählten.

Kunst etc.

Mit großer Direktheit wird Thomas und sein Wunsch, den Auferstandenen zu identifizieren auf dem Gemälde von Caravaggio dargestellt. Obwohl im Evangeliumstext nirgendwo steht, dass Thomas die Wundmale Jesu berührte, wird das Berühren der Wundmale Jesu zum Erkennungszeichen des Thomas. Offenbar ist aber nicht nur er an dieser Bestätigung der Auferstehung interessiert. Caravaggio zeigt im Hintergrund zwei weitere Jünger, die fasziniert zuschauen, wie Thomas in Jesu Seite greift. Glauben ohne sehen ist kompliziert! Offenbar ist auch dem Künstler diese Schwierigkeit bewusst. Denn er lenkt den Blick durch die Lichtführung gezielt auf diesen einen entscheidenden Augenblick: Thomas begreift, dass Jesus, der Gekreuzigte, wirklich und lebendig vor ihm steht.