Ich sehe was, was du nicht siehst! … und wenn ich nichts sehe, kannst auch du nichts sehen, so müsste es laut dem heutigen Evangelium eigentlich weitergehen.
1. Verortung im Evangelium
Die Verse 19-29 bilden das Ende der Ostererzählungen im Johannesevangelium (Joh). Sie schließen sich an die Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes (Joh 20,1-10) und der Begegnung zwischen Jesus und Maria Magdalena (Joh 20,11-18) an. Die Verse 30-31 bilden den ursprünglichen Abschluss des Johannesevangeliums. Die Erzählungen, die heute das 21. Kapitel des Evangeliums bilden, wurden erst später angefügt.
2. Aufbau
Der Text des heutigen Evangeliums lässt sich in drei Teile untergliedern. Die ersten beiden Abschnitte (Verse 19-23 und 24-29) sind dabei eng miteinander verbunden: Die Verse 24-29 wiederholen in gewisser Weise die Ereignisse der Verse 19-23, nur dass zwischen den beiden Erscheinungen Jesu eine Woche vergangen ist.
Die Verse 30-31 sind als grundlegende Kommentierung des Evangeliums und Erklärung seiner Entstehung angeschlossen.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 19-21: Zwischen der Auffindung des Grabes und der Erscheinung vor allen Jüngern liegen nur einige Stunden. Am Abend des selben Tages haben sich die Jünger ängstlich zurückgezogen. So wie in Joh 19,38 Josef von Arimathäa als jemand dargestellt wurde, der seine Zugehörigkeit zu Jesus nur im Verborgenen lebt, so fürchten sich nun auch die Jünger vor den möglichen Konsequenzen (Ausgrenzung, Verfolgung?) eines Bekenntnisses. Die Erscheinung des Auferstandenen inmitten seiner Jünger trotz der verschlossenen Türen kommentiert der Evangelist nicht weiter.
Der Friedenswunsch ist mehr als ein typischer Gruß, er erinnert die Jünger und die Leser des Evangeliums an die Abschiedsreden Jesu (Joh 14-17) und seine Ermutigung der Jünger: „Dies habe ich zu euch gesagt, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt.“ (Joh 16,33) Beim zweiten Mal ist der Zuspruch des Friedens um den Aspekt der Sendung erweitert (Vers 21). Dabei ist die Sendung der Jünger Abbild der Sendung Jesu durch seinen himmlischen Vater.
Das Zeigen der Wundmale an Händen und Seite bewirkt die Erkenntnis der Jünger: Der gekreuzigte Jesus und der auferstandene Jesus sind identisch! Der, der gestorben ist, ist vom Tode auferstanden. Äußeres Zeichen dieser Erkenntnis ist die Freude der Jünger.
Vers 22-23: Das Anhauchen erinnert an die Schöpfung des Menschen und das Einhauchen des Geistes durch Gott (Genesis 2,4). Das Geschenk des Geistes durch den Auferstandenen ist eine „zweite“ Schöpfung, denn durch Tod und Auferstehung wird neues Leben geschenkt. Die Taufpraxis der jungen christlichen Gemeinde und der Zuspruch neuen Lebens aus Wasser und Geist steht hier wahrscheinlich schon im Hintergrund der Darstellung.
Die Gabe des Geistes an die Jünger ist Übergabe einer Vollmacht: Sie können Sünden erlassen und „behalten“ (vgl. Matthäusevangelium 18,18). Dies ist aber keine Fähigkeit aus eigener Kraft, sondern nur aufgrund der Gabe des Geistes, d.h. durch göttliche Bevollmächtigung. Nur Jesus hatte zuvor diese Vollmacht (vgl. Joh 8,1-11), nun gibt er sie an seine Jünger, die seine Sendung fortsetzen.
Verse 24-25: Der Apostel Thomas war bereits in Joh 11,16 und 14,5 namentlich vorgestellt worden. Er hat bisher nur aufgrund der Aussagen der anderen Jünger von der Auferstehung Jesu gehört und seinen Zweifel angemeldet. Er wird so zum dezidiert letzten Zeugen des Auferstandenen im Johannesevangelium und steht stellvertretend für die Frage der nachfolgenden Generationen, wie sich der Glaube begründen lässt.
Verse 26-29: Acht Tage später, also eine Woche später, da der 1. Tag in der jüdischen Rechnung mitgezählt wird, wiederholt sich die Erscheinung Jesu vor den Jüngern. Wieder tritt er durch verschlossene Türen und spricht den Frieden zu. Diese Erscheinung ist ganz dem Thomas gewidmet, von dessen Zweifel Jesus weiß. Der „wirkliche Beweis“ der Auferstehung, also das Anfassen der Wunden wird nicht berichtet. Viel wesentlicher ist das Sehen, das ja bereits in den anderen Erscheinungserzählungen des Ostermorgens eine wichtige Rolle spielte (vgl. Auslegung dazu). Thomas sieht den Auferstandenen und wird von ihm angesprochen und dies bewirkt sein Bekenntnis: „Mein Herr und mein Gott“. Die Aussage Jesu bekräftigt die Bedeutung des Sehens und der Augenzeugenschaft einerseits. Andererseits hebt sie auch den Glauben derer hervor, die in späterer Zeit zum Glauben kommen ohne den Auferstandenen selbst gesehen zu haben. Der Evangelist Johannes nutzt hier das einzige Mal die Formulierung einer Seligpreisung in seinem Evangelium.
Verse 30-31: Der abschließende Kommentar knüpft an die letzten Worte Jesu an und gibt Ausgangspunkt und Ziel der Erzählungen des Evangeliums preis. Die Taten Jesu auf seinem Weg durch Galiläa und in Jerusalem einschließlich Tod und Auferstehung sind sichtbare Fakten, sie geschahen vor den Augen seiner Jünger. Damit ist nicht gemeint, dass alles eins zu eins gesehen wurde, wohl aber dass es Zeugen für das Wirken Jesu und die Begegnung mit dem Auferstandenen gibt. Diese visuellen Zeugnisse in schriftliche Zeugnisse zu überführen war Aufgabe des Autors. Sein Anliegen: Das schriftliche Zeugnis soll helfen, den Glauben weiterzutragen – auch zu denen, die nicht selbst dabei waren.