Im Kreuz bündelt sich das Spektrum menschlicher Gefühle: Schrecken, Angst, Hass, Hoffnung und Liebe.
1. Verortung im Evangelium
Im zweiten Hauptteil des Johannesevangeliums (Joh), der mit dem 13. Kapitel und der Fußwaschung beginnt, steht die Rückkehr Jesu zum Vater und seine Verherrlichung im Mittelpunkt. Zugleich konzentriert sich das Handeln und Verkünden Jesu auf den Kreis seiner Jünger. Seinen engsten Vertrauten hat er die Füße gewaschen und in den folgenden Abschiedsreden eine Deutung seines Leidens anvertraut. In der Passion Jesu im Johannesevangelium tauchen diese beiden Fäden wieder auf: Verherrlichung und Beziehung zu den Seinen. Diese inhaltlichen Schwerpunkte sollen auch für die Auslegung der längsten Passionserzählung des Neuen Testaments im Mittelpunkt stehen.
2. Aufbau
Der Aufbau der Erzählungen von Leiden und Sterben Jesu in den anderen Evangelien (Markus, Matthäus und Lukas) weisen übereinstimmend folgende Abschnitte auf:
- Todesbeschluss, Salbung Jesu, Judas bei den jüdischen Autoritäten
- Vorbereitung zum Abendmahl, Abendmahl
- Gang zum Ölberg, Gebet in Getsemani, Verhaftung Jesu
- Verhör Jesu durch die jüdischen Autoritäten
- Verleugnung des Petrus und Überstellung Jesu an Pilatus
- Verhör durch Pilatus
- Kreuzigung Jesu
- Tod Jesu
- Grablegung Jesu
Johannes hat einen weitestgehend gleichen Aufbau seiner Leidensgeschichte, setzt dabei aber wie jeder der Evangelisten auch seine eigenen Akzente, die bedeutsamsten sollen hier kurz genannt werden:
- Die langen Abschiedsreden Jesu (Kapitel 14-17) sind markant, nur das Lukasevangelium kennt auch Abschiedsworte Jesu, wenn auch in deutlich kürzerer Form.
- Die Erzählung von der Fußwaschung ist nur bei Johannes zu finden und überlagert das Geschehen des letzten Abendmahls.
- Das Gebet in Getsemani lässt Johannes aus.
- Jesus trägt sein Kreuz selbst zur Hinrichtungsstätte, Simon von Kyrene (zum Beispiel Lukasevangelium 23,26) taucht im Johannesevangelium nicht auf.
Deutlich ausführlicher hat Johannes folgende Szenen ausgestaltet:
- Der Verrat und die Auslieferung durch Judas.
- Das Verhör zwischen Pilatus und Jesus.
- Die Szene unter und am Kreuz Jesu.
- Das Begräbnis Jesu durch Josef von Arimathäa.
3. Erklärung einzelner Abschnitte
Jesus und Pilatus (Joh 18,28-19,16a und 19,19-22)
Die Szene vor dem römischen Statthalter ist vermutlich von der dramaturgischen Ausgestaltung her ein Höhepunkt in der Erzählung der johanneischen Leidensgeschichte. Sie lässt sich in sieben Teilszenen untergliedern und ist geprägt vom Ortswechsel des Pilatus, der zwischen Jesus im Inneren des Prätoriums und den Juden vor dem Gebäude hin und her läuft. An zwei Stellen führt Pilatus Jesus noch einmal hinaus zu seinen Anklägern (Joh 19,4-7 und 19,13-16) hinaus: Er präsentiert ihnen den gegeißelten Jesus und spricht das Urteil.
Auffällig ist der gegenüber den anderen Evangelisten ausgestaltete Dialog zwischen Jesus und Pilatus. Antwortet Jesus sonst nur knapp auf die Frage „Bist du der König der Juden“ und hüllt sich dann in Schweigen, so kommt es bei Johannes zu einem ausführlichen Gespräch zwischen Jesus und Pilatus um das Königtum Jesu. Dabei ist das Gespräch inhaltlich freilich zum Scheitern verurteilt. Denn wie soll der irdische Machthaber, der ganz in seinen eigenen Kategorien denkt, das Königreich und die Herrschaft Jesu verstehen? Markant ist, dass immer dann, wenn Jesus Pilatus etwas von seiner Wirklichkeit versucht zu erzählen, der Dialog zu einer Unterbrechung kommt und Pilatus seine Richterrolle abgeben will.
Das Ende des ersten Dialogs wir markiert durch die Frage des Pilatus „Was ist Wahrheit?“. Die Rede Jesu von seinem Königtum und von der Notwendigkeit Zeugnis für die Wahrheit abzulegen, hinterlassen bei Pilatus Fragen. Vor allem die Frage nach einer Schuld des Angeklagten, denn nach der Wahrheitsfrage geht Pilatus zu den Juden hinaus und sagt: „Ich finde keine Schuld an ihm.“ Wahrheit und Wahrhaftigkeit sind keine Kategorien weltlicher Herrschaft so scheint es. Pilatus bleibt fragend und unverständig gegenüber dem tieferen Sinn der Antwort Jesu.
Der zweite Dialog wird eingeleitet durch die Rückfrage des Pilatus „Woher bist du?“. Die Aussage des Volkes „er hat sich zum Sohn Gottes gemacht“ hat ihn offensichtlich verunsichert. Nachdem Jesus zunächst nicht antwortet, hakt Pilatus nach. Nun wird „Macht“ zum Thema des Gesprächs. Doch auch hier kommt Pilatus mit seinen Denkvorstellungen an seine Grenzen. Denn Jesus bezweifelt mit gutem Grund die Macht des Pilatus, weiß er doch, dass Pilatus nur Macht hat, damit sich der Weg Jesu an dieser Stelle ungehindert fortsetzt. Sehr direkt führt Jesus Pilatus vor Augen, was dieser direkt im Anschluss erfährt: Er ist nur ein Spielball im Ringen um Macht. Er, der vermeintlich Mächtige, der Repräsentant des größten Reiches und Statthalter eines mächtigen Kaisers, ihm ist die Macht nur gegeben bzw. übertragen. Und je mehr er sich dagegen wehrt, diese Macht auszuüben, desto mehr wird er zum Spielball. Denn als er Jesus freilassen will, werfen ihm die Juden vor, dem Kaiser, dem für ihn eigentlichen Machthaber gegenüber nicht treu zu handeln (Joh 19,12 und 15). Damit haben die Juden Pilatus in der Falle: Er muss die Macht ausüben, die er eigentlich nicht besitzt, die geliehen ist, und er muss sie in andere Weise ausüben, als er selbst es möchte. Macht verpflichtet – das muss Pilatus im zweiten Dialog mit Jesus schmerzlich erfahren. Und Macht kommt an Grenzen, so lernt Pilatus, denn obwohl er mächtig ist, hat er doch nicht die Macht oder Größe, Jesus freizulassen.
Das eigentliche Ende der Szene zwischen Pilatus und Jesus ist nicht die Rückgabe des Gefangenen an die Juden, sondern das Anbringen der Kreuzesaufschrift. Selbst wenn Jesus hier nur noch indirekt in Erscheinung tritt, schließt sich doch erst hier die Begegnung ab. Konnte Pilatus seine Einschätzung von der Unschuld Jesu gegenüber der wütenden Menge und den jüdischen Obrigkeiten nicht durchsetzen, mit der Kreuzesinschrift verleiht er seiner Überzeugung in gewisser Form Ausdruck. Indem er nicht nur in hebräischer Sprache, sondern auch in den Amtssprachen Griechisch und Latein „Jesus von Nazaret: der König der Juden“ anschreiben lässt, macht er für die gesamte Öffentlichkeit sichtbar, was geschehen ist. Mit dem Vorwurf, Jesus habe von sich gesagt, er sei der „König der Juden“ waren die jüdischen Obrigkeiten an Pilatus herangetreten. Diesen Vorwurf nimmt Pilatus mit der Kreuzesinschrift wörtlich auf. Jedoch verzichtet er zum Ärger der Juden auf den Zusatz, dass es sich dabei um eine Selbstbehauptung handle. In der Kreuzesinschrift erscheint das Königtum Jesu als Faktum, als Realität. Ob Pilatus damit am Ende doch versteht, wie das Königtum Jesu zu verstehen ist, bleibt offen. Ganz sicher aber hält er den Juden, die behaupten haben, „keinen König außer dem Kaiser“ zu haben, den Spiegel ihrer Selbstgerechtigkeit vor.
Die Erfüllung des Schriftwortes (Joh 19,23-24)
Das grausame Geschehen der Kreuzigung als Offenbarung Gottes zu verstehen, ist den Menschen zu keinen Zeiten leicht gefallen. Daher ist die Darstellung der Passion Jesu in allen Evangelien durchsetzt mit Zitaten aus dem Alten Testament, die mal wörtlich, mal im Anklang helfen wollen, das Geschehen zu deuten. Johannes setzt im Unterschied zu den übrigen Evangelisten bei der Beraubung der Kleider ein deutliches und wörtliches Zeichen für die Deutung des Kreuzestodes Jesu aus dem Verständnis des Alten Testaments heraus.
Nachdem Jesus gekreuzigt wurde, nackt und Wind und Wetter ausgesetzt, teilen die Handlanger der Kreuzigung ihre Beute unter sich auf. Der Umgang mit den Kleidern des Gedemütigten verschärft dessen Schmach und betont die Erbarmungslosigkeit der Szene. Wenn Johannes nun den Soldaten das Wort aus Psalm 22,19 in den Mund legt und es nicht nur erwähnt (vgl. Lk 23,34), dann möchte er dem Leser des Evangeliums eine deutliche Hilfestellung geben, die Szene zu verstehen. Im Kontext des Psalms ist das Wort aus dem Munde der Soldaten eingebettet einerseits in die Klage und Hilflosigkeit eines Bedrängten und andererseits in das hoffnungsvolle Rufen zu Gott, er möge sich zeigen. In dem Schriftzitat kommt also die Hoffnung ja fast Gewissheit zum Ausdruck, dass Gott auch in der Schmach nicht von der Seite dessen weicht, der an ihn glaubt. Diese Hoffnung bringt Johannes auch in die trostlose Szene unter dem Kreuz Jesu ein.
Noch auf einer anderen Ebene jedoch ist die Einbettung des Zitats aus Psalm 22 wichtig: Es macht deutlich, dass sich in Jesus realisiert, was im alttestamentlichen Gebet besungen wird. Die Geschichte Jesu wird somit als Teil der Geschichte Gottes mit den Menschen, als Heilsgeschichte gekennzeichnet.
Unter dem Kreuz Jesu (Joh 19,25-30)
Die Szene zwischen Jesus, seiner Mutter und dem Jünger, den Jesus liebte, ist der Gegenentwurf zu den beuteteilenden Soldaten. Hier regiert nicht Demütigung, sondern Liebe. Jesus wendet sich denjenigen zu, die bei ihm bleiben: Es sind einige Frauen aus dem engeren Kreise Jesu, seine Mutter und der Lieblingsjünger. Jesu Worte jedoch gelten nur Maria und dem Lieblingsjünger. Er vertraut sie einander an, stiftet zwischen ihnen eine neue unauflösliche Beziehung. Bemerkenswert ist, dass Jesus selbst – auch nach seinem Tod – das Zentrum dieser Gemeinschaft ist, die er in seiner Sterbestunde stiftet. Er überträgt seine „Sohnschaft“ an den Jünger und bleibt damit selbst in gewisser Weise präsent, hat der Jünger seinen Status doch nur aus seiner Beziehung zu Jesus. Dass Jesus der Dreh- und Angelpunkt dieser neuen Familie wist, wird auch dadurch deutlich, dass beide nicht mit einem Namen, sondern nur in Beziehungsaussagen zu Jesus charakterisiert werden: Der Jünger, den Jesus liebte, und die Mutter Jesu. In ihm haben sie Gemeinschaft und sollen auch zukünftig aus dieser Gemeinschaft heraus leben.
Erst nachdem Jesus den Jünger und seine Mutter einander anvertraut hat, ist seine Sendung erfüllt. Diese letzte Stiftung von Beziehung bringt die Vollendung seiner Sendung. Nun weiß er, dass „alles vollbracht war“ – zweimal erwähnt Johannes in diesen letzten Minuten Jesu das Wort. Zuletzt und als deutlichen Schlussakkord in den letzten Worten Jesu selbst: „Es ist vollbracht“. Mit diesen Worten meint Jesus nicht nur das gegenseitige Anvertrauen von Jünger und Mutter, sondern seinen gesamten Weg auf Erden. Vom Hineinkommen in die Welt, um der Welt von Gottes Herrlichkeit Kunde zu bringen (Joh 1,18), bis hin zum Liebesdienst an den Seinen, der nicht nur in der Fußwaschung, sondern in der Hingabe seines Lebens zum Ausdruck kommt (vgl. Joh 15,13).
Das Zeugnis über den Tod Jesu (19,31-37)
Noch einmal treffen die Juden und Pilatus im Johannesevangelium aufeinander. Die Juden wollen das Ärgernis des Kreuzes mit Blick auf den Festtag so schnell wie möglich beseitigen. Pilatus entspricht ihrem Wunsch, lässt sie aber nicht selbst handeln, sondern seine Soldaten. Durch dessen Lanzenstich wird nicht nur untrüglich der Tod Jesu sichtbar, so dass er bezeugt werden kann. Im Herausfließen von Blut und Wasser erinnert Johannes an Worte Jesu selbst und bringt so eine klare theologische Deutung ein. In Joh 6,55 hatte Jesus den Juden gegenüber in der Auseinandersetzung um die Brotvermehrung gesagt: „Denn mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise und mein Blut ist wahrhaft ein Trank.“ Das Motiv des Wassers als Zeichen des Heils wird von Jesus unter anderem in Joh 3,3 genutzt: „Wenn jemand nicht aus dem Wasser und dem Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen“ (vgl. auch Joh 7,37f.). Wenn hier Wasser und Blut als Zeichen genannt sind, dann werden sich die Leser des Evangeliums an eben diese Aussagen Jesu erinnern. Und sie werden durch das Geschehen am Kreuz an Taufe und Eucharistie als urchristliche Sakramente erinnert, die sie in ihren Gemeinden erleben und feiern.
Eine weitere theologische Deutungsebene ist hier aber mitgedacht. Denn Johannes nimmt auch bewusst Bezug auf alttestamentliche Überlieferung bei der Feststellung des Todes Jesu. Zunächst ist an die Vorschriften für das Paschalamm zu denken, dem man keine Knochen brechen durfte (Exodus 12,46). Die Vorstellung von den Knochen, die nicht gebrochen werden, wird in den Psalmen zum Bild für die Bewahrung des Gerechten durch Gott (vgl. Psalm 34,21). Wenn Jesus nun keine Knochen zerbrochen werden, dann ist er der Gerechte und das neue Paschalamm.
In ähnlicher Weise wird ein Zitat aus dem Prophetenbuch Sacharja in der griechischen Überlieferung aufgenommen: „Sie werden auf den schauen, den sie durchbohrt haben.“ (Sacharja 12,10). Dieser Durchbohrte wird zum Zeichen von Gottes Treue werden.