„Alle sollen eins sein.“ Was ist aus der Bitte Jesu für seine Jünger geworden?
1. Verortung im Evangelium
Mit dem 13. Kapitel beginnt der zweite Hauptteil des Johannesevangeliums (Joh). Im ersten Hauptteil (Kapitel 1-12) stand die Sendung Jesu vom himmlischen Vater zu den Menschen und sein Wirken mitten unter ihnen im Fokus. Mit dem Evangelium von der Fußwaschung (Joh 13,1-15) beginnt der Rückzug Jesu aus dem öffentlichen Wirken und zugleich die Rückkehr zum Vater, die mit Tod und Verherrlichung am Kreuz endet. Die Kapitel 13-20 (zweiter Hauptteil) verbringt Jesus vor allem mit seinem Jüngerkreis. Ihnen erklärt er nach der Fußwaschung in den sogenannten Abschiedsreden, die Bedeutung dessen, was ihn dann im Leiden und Auferstehen widerfährt.
Der letzte Teil der Abschiedsreden ist ein Gebet Jesu an den Vater. Er bittet darin im Besonderen für seine Jünger, die er bald verlassen wird. Nach der direkten Anrede der Jünger in den Kapiteln zuvor, wird nun nur noch der Vater direkt angesprochen, die Jünger sind „Gegenstand“ der Bitten Jesu. So wird der Abschied Jesu von den Seinen schon anfanghaft sichtbar.
2. Aufbau
Der inhaltlich sehr dichte Schlussabschnitt der Abschiedsreden und des Gebets Jesu lässt sich zweiteilen. In den Versen 20-23 ist das zentrale Thema das „Eins-sein“ der Jünger, in dem sich die Einheit zwischen Vater und Sohn fortsetzt. Mit der Anrede „Vater“ in Vers 24 beginnt der Schlussakkord des Gebets (Verse 24-26). Hier werden die wichtigsten Themen des gesamten Gebets Jesu an den Vater noch einmal aufgenommen.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 20-21: Mit „nicht nur für diese“ erweitert Jesus den Kreis derer, für die er den Vater bittet. E sind nicht nur die Jünger, die gerade zugegen sind, sondern alle die an ihn glauben. Dabei ist der Blick schon auf diejenigen geweitet, die durch das Zeugnis der Jünger zum Glauben kommen. Die Erweiterung des Adressatenkreises der Bitte wird auch dadurch greifbar, dass Jesus in Joh 17,11 zunächst sehr deutlich die ihn umgebenden Jünger im Blick hatte als er schon einmal aussprach: „damit sie eins sind wie wir“. Jesus wiederholt die Bitte aber nicht nur und dehnt sie aus auf alle, die zum Glauben gekommenen sind, vielmehr nimmt er zugleich die Welt in den Blick. Die Einheit der Jünger Jesu soll für die Welt zum Zeichen werden, dass Jesus der vom Vater in die Welt gesandte Sohn ist, der mit dem Vater eins ist. Das Thema der Einheit zwischen Vater und Sohn war seit der Aussage „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30) immer wieder angerissen worden (vgl. dazu die Auslegung zu Joh 10,27-30).
Verse 22-23: Noch einmal wird die Einheit als „Erkennungszeichen“ für die Welt in den Blick genommen. Das Eins-sein zwischen Vater und Sohn strahlt aus auf die Jünger Jesu und von ihnen in die Welt und zu denjenigen, die Jesus noch nicht als den Sohn des himmlischen Vaters erkannt haben.
Herrlichkeit ist ein Ausdruck für das Wesen Gottes, also für seinen inneren Kern. Jesus hat, weil er der Sohn ist, in seinem Tun und in seiner Verkündigung dieses Wesen Gottes sichtbar gemacht. Das letzte und wichtigste Zeichen, in dem das Wesen Gottes und seine Herrlichkeit erfahrbar wird, wird das Kreuz sein. Indem sich Jesus dem Tod und dem Hass nicht widersetzt, sondern ihn auf sich nimmt, vollendet er seine Sendung zu den Menschen. Im Kreuz macht er Gottes Wesen sichtbar: die Liebe. Mit einem Zeichen der Liebe begann auch der Teil des Johannesevangeliums, in dem Jesus nur noch mit den Jüngern zusammen ist. In der Fußwaschung (Joh 13,1-15) machte Jesus seine Liebe zu den Jüngern sichtbar und forderte sie zugleich auf: „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.“ (Joh 13,15)
Verse 24-26: Die Anrede „Vater“ leitet zum Abschluss des Gebets über. Jesus erbittet für die Seinen die Gemeinschaft mit ihm im Reich des Vaters, in das er zurückkehren wird. Dort werden die Jünger die Herrlichkeit, also das Wesen Gottes schauen und damit auch die Sendung des Sohnes in die Welt als Zeichen seiner Liebe in seiner ganzen Tiefe verstehen. Doch auch jetzt haben die Jünger schon einen Anteil an der Erkenntnis des Wesens Gottes, weil sie – im Gegensatz zu der Welt – Jesus als den von Gott gesandten Sohn erkannt haben.
Das Kundtun des Namens bedeutet nichts anderes als das Wesen Gottes verständlich machen. Denn der Name Gottes bezeichnet nicht nur etwas, sondern gibt die Identität desjenigen preis. Der Evangelist Johannes denkt hier ganz in der alttestamentlichen Tradition, in der der Gottesname „ich bin“ (Exodus 3,14-15) die Nähe und Gegenwart Gottes zum Ausdruck bringt. Diesen Namen Gottes hat Jesus verkündet, indem er als Gottes Sohn sichtbar und greifbar Gottes Nähe spürbar macht.