Gegen die Verunsicherung. Jesus versucht seine Jünger zu ermutigen, sich ihre Herzen nicht verwirren zu lassen.
1. Verortung im Evangelium
Mit dem 13. Kapitel beginnt der zweite Hauptteil des Johannesevangeliums (Joh). Im ersten Hauptteil (Kapitel 1-12) stand die Sendung Jesu vom himmlischen Vater zu den Menschen und sein Wirken mitten unter ihnen im Fokus. Mit dem Evangelium von der Fußwaschung (Joh 13,1-15) beginnt der Rückzug Jesu aus dem öffentlichen Wirken und zugleich die Rückkehr zum Vater, die mit Tod und Verherrlichung am Kreuz endet. Die Kapitel 13-20 (zweiter Hauptteil) verbringt Jesus vor allem mit seinem Jüngerkreis. Ihnen erklärt er nach der Fußwaschung in den sogenannten Abschiedsreden, die Bedeutung dessen, was ihn dann im Leiden und Auferstehen widerfährt.
Das Thema der ersten Abschiedsrede (Kap. 14) ist das Weggehen und Wiederkommen Jesu, dies klingt in Vers 3 bereits an. Die Verse 1-12 sind zunächst dem Fortgehen Jesu gewidmet. Ab Vers 15 wird dann das Wiederkommen im Fokus stehen.
2. Aufbau
Mit Vers 1 stellt der Evangelist Johannes eine Überleitung zur vorangegangenen Szene her. Zugleich bilden die Verse 1-3 eine Einleitung zur gesamten ersten Abschiedsrede (Kap. 14). Die Verse 4-12 gehen insgesamt der Frage nach dem Fortgang Jesu zum Vater nach, wobei in den Versen 4-8 ein Dialog zwischen Jesus, Thomas und Philippus prägend ist und in den Versen 9-12 Jesus noch einmal ausführlicher auf die Fragen der Jünger eingeht.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Der Text setzt ein mit dem Aufruf Jesu an seine Jünger, sich das Herz nicht verwirren zu lassen. Diese Ermutigung ist eine Konkretisierung des Zuspruchs, sich nicht zu fürchten. Denn angesichts der letzten „Enthüllungen“, ist durchaus verständlich, dass die Jünger innerlich aufgewühlt sind und nicht genau wissen, was sie denken oder wie sie handeln sollen. Kurz zuvor hatte Jesus ihnen nicht nur in Aussicht gestellt, dass einer von ihnen ihn verraten würde (Joh 13,21), sondern auch, dass die gemeinsame Zeit zu Ende geht (Joh 13,33). Auch die Ankündigung der Verleugnung ausgerechnet durch Petrus (Joh 13,38) ist für die anderen Jünger ein Schock. Jesus ruft sie auf, sich von diesen „äußeren“ Dingen nicht zu sehr im Inneren verunsichern zu lassen, sondern vielmehr an dem festzuhalten, was ihnen innerlich Halt gibt. Es ist der Glaube an Gott, der zugleich ein Glaube an Jesus selbst ist. Es geht dabei nicht um zwei Glaubensinhalte, sondern der Glaube an Jesus ist immer der Glaube an den Vater, der ihn gesandt hat (Joh 12,44-45). Denn Jesus und der Vater sind eins (Joh 10,30). Dies wird sich in den folgenden Versen weiter entfalten. Nur in Joh 14,1 ist der „Glaube an Gott“ im Evangelium explizit ins Wort gefasst.
Vers 2: Jesus bereitet eine intensivere Auseinandersetzung mit seinem Fortgehen durch das Bild des Hauses vor. Er versucht deutlich zu machen, dass sein Weggehen für sie (auch) einen positiven Aspekt hat. Denn wenn er im Haus des Vaters, also in dessen Wirkbereich ist, kann er dort für die Jünger einen Platz vorbereiten, so dass auch sie sich dort ewiglich beheimatet wissen dürfen. Die Vorstellung vom himmlischen Haus oder Wohnen bei Gott ist in der biblischen Literatur und in der jüdischen Literatur der Apokalyptik (ab 200 v. Chr.) weit verbreitet, wird aber auch neutestamentlich aufgenommen (Epheserbrief 2,19). Die Frage im zweiten Teil des Verses appelliert an die Erfahrung der Jünger, dass Jesus ihnen die Wahrheit über Gott und dessen Wesen und Wirklichkeit offenbart (vgl. Vers 6).
Verse 3-5: Das Motiv des Fortgehens als Vorbereitung auch für eine Zeit des Wiederkommens wird nun weiter ausgeführt – auch dies ist ein Grund, sich nicht verwirren zu lassen. Jesus kündigt an, fortzugehen, den Jüngern eine himmlische Wohnstatt vorzubereiten und dann wiederzukehren, um seine Jünger und Freunde (Joh 15,15) zu sich in das Haus des Vaters zu holen. „Damit auch ihr dort seid, wo ich bin“ ist ein erstes Etappenziel des Abschnitts, denn Jesus bringt damit zum Ausdruck, dass der Abschied nur ein Vorübergehender ist, der in eine neue Gemeinschaft mündet.
Die Ankündigung vom Weg, den die Jünger kennen, wirft bei den Jüngern jedoch neue Fragen auf. Bereits in Joh 13,36 war das „Ziel“ des Fortgehens Jesu ein Thema. Dort hatte Petrus stellvertretend für die Jünger gefragt: „Herr, wohin gehst du?“ und musste sich belehren lassen, dass dieser Weg für ihn zurzeit noch nicht „freigegeben“ ist. Erst der Tod Jesu und sein Hinaufgehen zum Vater wird den Weg ins Haus des Vaters auch für die Jünger eröffnen. Wie schwierig dies zu begreifen ist, zeigt die erneute Nachfrage des Thomas: Weil das Ziel ihnen unbekannt scheint, können sie den Weg selbst nicht finden. Thomas übernimmt hier – wie auch in der Begegnung mit dem Auferstandenen in Joh 20,24-29 – die Rolle nach dem Greifbaren und Verlässlichen zu fragen.
Verse 6-7: Jesus antwortet auf die Frage des Thomas mit dem sechsten von insgesamt sieben „Ich-bin-Worten“. Die „Ich-bin-Worte“ sind eine Besonderheit des Johannesevangeliums und knüpfen an die Offenbarung des Gottesnamens an Mose. Gott gibt sich Mose im brennenden Dornbusch als der „Ich bin, der ich bin“ (Exodus 3,14) zu erkennen. Weil der Sohn und der Vater eins sind, kann Jesus als in die Welt gesandter Sohn Gottes, dieses „ich bin“ des Vaters konkretisieren. So hat Jesus sich und damit den Vater bereits als Licht der Welt, guter Hirte, Auferstehung und Leben zu erkennen gegeben. Wenn er Thomas und den anderen Jüngern hier offenbart, Weg, Wahrheit und Leben zu sein, kommt die Offenbarung des Wesens Gottes hier zu einem Höhepunkt: Jesus ist Weg und Ziel zugleich. Jesus bahnt mit seinen Zeichen und Worten den Jüngern und allen Menschen den Weg zum Vater, weil er ihnen erschließt, wer Gott ist (Wahrheit) und wie sich Gemeinschaft mit ihm finden lässt. Zugleich aber ist Jesus, weil er eins ist mit dem Vater, selbst auch das Leben, das Gott verheißt. Als ein Gott, der Weg, Wahrheit und Ziel ist, hat sich Gott dem Volk Israel immer schon offenbart, indem er es aus Ägypten hinausgeführt hat, Gebote des Miteinanders übergab und sich als Gott zeigte, der Generationen überschreitet (Gott deiner Väter) und Leben schafft (Genesis). So wie der Glaube an Gott und der Glaube an Jesus (Vers 1) nicht zwei verschiedene „Glaubensinhalte“ sind, so ist auch „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ das Jesus ist, kein anderes als das, was Gott von Anbeginn der Zeit verheißen und in seinem Wirken geoffenbart hat. Wer also auf Jesus schaut, der kann in ihm auch den Vater erkennen – und zwar jetzt und nicht erst später, so macht Vers 7 deutlich. Mit „jetzt“ wird auf das hereinbrechende Passionsgeschehen und den Tod Jesu verwiesen.
Vers 8: Statt Thomas übernimmt nun Philippus die Rolle des Fragenden. Er möchte das Sehen des Vaters und damit die Schau Gottes von Angesicht zu Angesicht in einer greifbaren Weise erschlossen bekommen. Sein „das genügt“ bringt zum Ausdruck, dass ein Schauen Gottes, das ist, wonach sich jeder Glaubende sehnt (z.B. Psalm 17,15).
Verse 9-11: Jesus begegnet dem Einwurf des Philippus mit einer Frage: Wie kann der Jünger meinen, dass Jesus ihm den Vater zeigen kann, wie man einen Baum oder einen anderen Gegenstand in einem herkömmlichen Sinne „zeigt“. Das „Zeigen“, das Jesus meint, ist ein „zu erkennen Geben“, ein Offenbaren im wahrsten Sinne. Jesus macht den Vater inmitten der Welt und seiner Jünger bekannt und gibt ihn zu erkennen. Wie kann es also sein, dass einer der Vertrauten Jesus sieht und in ihm nicht den Vater sieht, der ihn gesandt hat? Weil dies für die Augen nicht offensichtlich ist, sondern nur im Glauben erkannt werden kann, fragt Jesus nach: „Glaubst du nicht?“. Als Nachweis für die Einheit zwischen sich und dem Vater hält Jesus den Jüngern vor Augen, was er ihnen von Gott erzählt hat. So wie er von Gott gesprochen hat, konnte er nur sprechen, weil es die Worte Gottes selbst waren. Ebenso sind seine Werke als Werke Gottes zu verstehen und damit ein sichtbares Zeichen seiner Einheit mit dem Vater.
Vers 12: Mit „amen, amen“ eingeleitet spricht Jesus eine Verheißung aus, die denen gilt, die daran glauben können, dass in Jesus der Vater sichtbar wird – auch wenn es nur im Glauben zu erkennen ist. Wer an Jesus als den Sohn des Vaters glaubt, der wird auch Anteil haben an der Vollmacht Jesu. Auf diese Weise werden die glaubenden Jünger Werke vollbringen können, die sogar über das hinausgehen, was Jesus vollbracht hat. Denn er und der Vater werden dann gemeinsam die Vollmacht an die Jünger übertragen. Dieser letzte Aspekt ist nur im Kontext der johanneischen Gedankengänge sinnvoll zu verstehen. Für den Evangelisten steht immer die Sendung Jesu vom Vater in die Welt und aus ihr zurück zum Vater im Mittelpunkt. Im Eins-Sein des Sohnes mit dem Vater zeigt sich die ganze Kraft und Herrlichkeit Gottes – diese ist im auch „räumlichen“ Eins-Sein zwischen Vater und Sohn in Herrlichkeit am Größten und so ist auch die von dort erteilte Vollmacht größer als alle irdisch vermittelte.