Seht selbst! Das Verkündigungsprinzip des Täufers und die Suche nach dem Wohnort Jesu
1. Verortung im Evangelium
Der Evangelist Johannes eröffnet sein Evangelium, seine frohe Kunde vom Leben und Wirken Jesu anders als die anderen Evangelisten (Matthäus, Markus, Lukas). Das Johannesevangelium (Joh) beginnt mit einem philosophisch anmuteten Hymnus (Joh 1,1-18). In ihm spricht der Evangelist über Jesus als das Wort vor aller Zeit, aus dem alles entstanden ist und das in die Welt kam; das Wort, das Gott selbst ist.
Nach dem Hymnus bzw. der Vorrede (lateinisch: Prolog) steht zunächst das Zeugnis Johannes des Täufers im Mittelpunkt (Joh 1,19-34). Dieser Abschnitt leitet den ersten erzählerischen Bogen des Evangeliums ein (Joh 1,19-2,22). Aus dem Zeugnis des Täufers heraus erfolgen die ersten Berufungen zur Jüngerschaft Jesu (Joh 1,35-51), im vorliegenden Abschnitt sind es konkret die Berufungen des Brüderpaars Andreas und Simon Petrus, sowie eines namenlosen Jüngers.
2. Aufbau
Die Verse Joh 1,35-42 bilden innerhalb des Gesamtabschnitts zur Berufung der ersten Jünger (Joh 1,35-51) den ersten von zwei Teilen. Die Perikope selbst lässt sich in zwei Berufungssituationen und eine Überleitung ausdifferenzieren. In den Versen 35-36 wird der Fokus von Johannes dem Täufer auf Jesus hin verlagert. Drei seiner Jünger folgen Jesus und werden seine Jünger (Verse 37-39). Die Zeitangabe („um die zehnte Stunde“, Vers 39) bildet eine Zäsur zur nachfolgenden zweiten Berufungssituation (Verse 40-42), in der Andreas seinen Bruder Simon zu Jesus führt.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 35-37: Mit der zeitlichen Angabe „am Tag darauf stand Johannes wieder dort“ wird die Erzählung von der Berufung der ersten Jünger mit dem Zeugnis des Täufers über ihn im vorangehenden Abschnitt verknüpft. Dass dem Evangelisten diese Verbindung und damit auch der Übergang vom einen zum anderen Verkünder, vom Zeugen zum fleischgewordenen Wort wichtig ist, zeigt auch die verkürzte Wiederaufnahme der Botschaft des Täufers „Seht, das Lamm Gottes“. Bereits in Vers 29 hatte Johannes mit diesen Worten Jesus angesprochen, dort noch ergänzt durch das Bekenntnis über das erlösende Handeln Jesu („das die Sünde der Welt hinwegnimmt“).
Waren in der vorangehenden Szene die Jünger des Täufers nicht eigens erwähnt worden, so berichtet der Evangelist nun explizit, dass zwei von ihnen bei Johannes stehen. Die Worte des Täufers und der Hinweis „seht“ wird für sie zum unmittelbaren Signal, dem vorübergehenden Jesus zu folgen.
Verse 38-39: Das „Folgen“ als Hinterhergehen führt zur nächsten Situation in der Erzählung: Jesus wendet sich um, weil er den Grund ihres Handelns erfahren will. „Was sucht ihr?“ ist das erste Wort Jesu im Johannesevangelium und zugleich eine Frage, die mit ihrer Vielschichtigkeit auf ein großes Thema des Johannesevangeliums verweist: Die Suche nach dem wirklichen Verstehen der Person und Sendung Jesu.
Die Jünger antworten ebenso mehrdeutig. Denn mit „wo wohnst du?“ stellen sie nicht nur die Frage nach dem Zuhause Jesu. In der Kombination mit der Anrede „Rabbi/Meister“ machen sie deutlich, dass sie nicht nur wissen wollen, wo Jesus wohnt. Sie wollen ihn vielmehr zu ihrem Lehrer („Meister“) machen und sein Zuhause zu ihrem machen. Das Verhältnis von geistlichen Lehrern und Schülern im Judentum war geprägt von der gemeinsam verbrachten Zeit. Schüler liefen hinter ihrem Lehrer her, um ihn zu beobachten und daraus zu lernen, wie er in bestimmten Situationen handelte, sprach etc. Diesem nur vage formulierten Wunsch entspricht die Antwort Jesu „Kommt und seht!“; die Jünger bleiben den Tag über bei ihm.
Die explizite Angabe der Tageszeit steht der sonst so reduzierten Darstellung der Situation etwas entgegen. Sie könnte ein Verweis auf das Beginnen der messianischen Zeit sein. Denn die zehnte Stunde entspricht 16 Uhr und damit dem anbrechenden Abend, der in der apokalyptischen Literatur für das Anbrechen der Endereignisse steht.
Verse 40-41: Mit „Andreas“ wird erst jetzt einer der beiden Jünger aus den Versen 35-39 namentlich genannt. Es geht aber nicht nur um ihn und seine Identifizierung, sondern vielmehr um seine Beziehung zu Simon Petrus. Der Evangelist setzt hier auf das Vorwissen seiner Leser, die sowohl Andreas als Jünger Jesu kennen wie seinen Bruder, der den Beinamen Petrus bzw. Kephas trägt (Vers 42).
Der Evangelist lässt in der zweiten Berufungssituation des Anfangs nun Andreas die Rolle des Täufers einnehmen, indem er seinen Bruder auf Jesus als den Messias, den Gesalbten, verweist. Auch dies erscheint zunächst unspektakulär. Für Andreas (wie für Simon) aber ist das Auffinden des Messias das Erreichen einer Hoffnung die schon Generationen vor ihnen erfüllte. Der Messias als der Gesalbte Gottes ist der, den das jüdische Volk als von Gott gesandten Retter und Befreier ersehnt.
Vers 42: Andreas führt seinen Bruder zu Jesus und der wiederum spricht ihn ohne Vorstellung als „Simon, Sohn des Johannes“ an und spricht ihm den, den Lesern bereits bekannten, Beinamen „Kephas/Petrus“ zu. Jesus wird hier als der eingeführt, der von den Menschen weiß, sie kennt, ohne ihnen zuvor begegnet zu sein. Dies wird im zweiten Teil des Abschnitts rund um die Jüngerberufungen (Joh 1,43-51) wieder aufgenommen.
Die Zusprechung des Beinamens an Simon bleibt vollkommen unkommentiert. Auch hier geht der Evangelist davon aus, dass den Lesern die Bedeutung des Felsen als Fundament der Gemeinde (vgl. Matthäusevangelium 16,18) bekannt ist.