Lesejahr B: 2023/2024

Evangelium (Joh 1,35-42)

35Am Tag darauf stand Johannes wieder dort und zwei seiner Jünger standen bei ihm.

36Als Jesus vorüberging, richtete Johannes seinen Blick auf ihn und sagte: Seht, das Lamm Gottes!

37Die beiden Jünger hörten, was er sagte, und folgten Jesus.

38Jesus aber wandte sich um, und als er sah, dass sie ihm folgten, sagte er zu ihnen: Was sucht ihr? Sie sagten zu ihm: Rabbi - das heißt übersetzt: Meister -, wo wohnst du?

39Er sagte zu ihnen: Kommt und seht! Da kamen sie mit und sahen, wo er wohnte, und blieben jenen Tag bei ihm; es war um die zehnte Stunde.

40Andreas, der Bruder des Simon Petrus, war einer der beiden, die das Wort des Johannes gehört hatten und Jesus gefolgt waren.

41Dieser traf zuerst seinen Bruder Simon und sagte zu ihm: Wir haben den Messias gefunden - das heißt übersetzt: Christus.

42Er führte ihn zu Jesus. Jesus blickte ihn an und sagte: Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen, das bedeutet: Petrus, Fels.

Überblick

Seht selbst! Das Verkündigungsprinzip des Täufers und die Suche nach dem Wohnort Jesu

1. Verortung im Evangelium
Der Evangelist Johannes eröffnet sein Evangelium, seine frohe Kunde vom Leben und Wirken Jesu anders als die anderen Evangelisten (Matthäus, Markus, Lukas). Das Johannesevangelium (Joh) beginnt mit einem philosophisch anmuteten Hymnus (Joh 1,1-18). In ihm spricht der Evangelist über Jesus als das Wort vor aller Zeit, aus dem alles entstanden ist und das in die Welt kam; das Wort, das Gott selbst ist.
Nach dem Hymnus bzw. der Vorrede (lateinisch: Prolog) steht zunächst das Zeugnis Johannes des Täufers im Mittelpunkt (Joh 1,19-34). Dieser Abschnitt leitet den ersten erzählerischen Bogen des Evangeliums ein (Joh 1,19-2,22). Aus dem Zeugnis des Täufers heraus erfolgen die ersten Berufungen zur Jüngerschaft Jesu (Joh 1,35-51), im vorliegenden Abschnitt sind es konkret die Berufungen des Brüderpaars Andreas und Simon Petrus, sowie eines namenlosen Jüngers.

 

2. Aufbau
Die Verse Joh 1,35-42 bilden innerhalb des Gesamtabschnitts zur Berufung der ersten Jünger (Joh 1,35-51) den ersten von zwei Teilen. Die Perikope selbst lässt sich in zwei Berufungssituationen und eine Überleitung ausdifferenzieren. In den Versen 35-36 wird der Fokus von Johannes dem Täufer auf Jesus hin verlagert. Drei seiner Jünger folgen Jesus und werden seine Jünger (Verse 37-39). Die Zeitangabe („um die zehnte Stunde“, Vers 39) bildet eine Zäsur zur nachfolgenden zweiten Berufungssituation (Verse 40-42), in der Andreas seinen Bruder Simon zu Jesus führt.

 

3. Erklärung einzelner Verse

Verse 35-37: Mit der zeitlichen Angabe „am Tag darauf stand Johannes wieder dort“ wird die Erzählung von der Berufung der ersten Jünger mit dem Zeugnis des Täufers über ihn im vorangehenden Abschnitt verknüpft. Dass dem Evangelisten diese Verbindung und damit auch der Übergang vom einen zum anderen Verkünder, vom Zeugen zum fleischgewordenen Wort wichtig ist, zeigt auch die verkürzte Wiederaufnahme der Botschaft des Täufers „Seht, das Lamm Gottes“. Bereits in Vers 29 hatte Johannes mit diesen Worten Jesus angesprochen, dort noch ergänzt durch das Bekenntnis über das erlösende Handeln Jesu („das die Sünde der Welt hinwegnimmt“).
Waren in der vorangehenden Szene die Jünger des Täufers nicht eigens erwähnt worden, so berichtet der Evangelist nun explizit, dass zwei von ihnen bei Johannes stehen. Die Worte des Täufers und der Hinweis „seht“ wird für sie zum unmittelbaren Signal, dem vorübergehenden Jesus zu folgen.

 

Verse 38-39: Das „Folgen“ als Hinterhergehen führt zur nächsten Situation in der Erzählung: Jesus wendet sich um, weil er den Grund ihres Handelns erfahren will. „Was sucht ihr?“ ist das erste Wort Jesu im Johannesevangelium und zugleich eine Frage, die mit ihrer Vielschichtigkeit auf ein großes Thema des Johannesevangeliums verweist: Die Suche nach dem wirklichen Verstehen der Person und Sendung Jesu.
Die Jünger antworten ebenso mehrdeutig. Denn mit „wo wohnst du?“ stellen sie nicht nur die Frage nach dem Zuhause Jesu. In der Kombination mit der Anrede „Rabbi/Meister“ machen sie deutlich, dass sie nicht nur wissen wollen, wo Jesus wohnt. Sie wollen ihn vielmehr zu ihrem Lehrer („Meister“) machen und sein Zuhause zu ihrem machen. Das Verhältnis von geistlichen Lehrern und Schülern im Judentum war geprägt von der gemeinsam verbrachten Zeit. Schüler liefen hinter ihrem Lehrer her, um ihn zu beobachten und daraus zu lernen, wie er in bestimmten Situationen handelte, sprach etc. Diesem nur vage formulierten Wunsch entspricht die Antwort Jesu „Kommt und seht!“; die Jünger bleiben den Tag über bei ihm.
Die explizite Angabe der Tageszeit steht der sonst so reduzierten Darstellung der Situation etwas entgegen. Sie könnte ein Verweis auf das Beginnen der messianischen Zeit sein. Denn die zehnte Stunde entspricht 16 Uhr und damit dem anbrechenden Abend, der in der apokalyptischen Literatur für das Anbrechen der Endereignisse steht.

 

Verse 40-41: Mit „Andreas“ wird erst jetzt einer der beiden Jünger aus den Versen 35-39 namentlich genannt. Es geht aber nicht nur um ihn und seine Identifizierung, sondern vielmehr um seine Beziehung zu Simon Petrus. Der Evangelist setzt hier auf das Vorwissen seiner Leser, die sowohl Andreas als Jünger Jesu kennen wie seinen Bruder, der den Beinamen Petrus bzw. Kephas trägt (Vers 42).
Der Evangelist lässt in der zweiten Berufungssituation des Anfangs nun Andreas die Rolle des Täufers einnehmen, indem er seinen Bruder auf Jesus als den Messias, den Gesalbten, verweist. Auch dies erscheint zunächst unspektakulär. Für Andreas (wie für Simon) aber ist das Auffinden des Messias das Erreichen einer Hoffnung die schon Generationen vor ihnen erfüllte. Der Messias als der Gesalbte Gottes ist der, den das jüdische Volk als von Gott gesandten Retter und Befreier ersehnt.

 

Vers 42: Andreas führt seinen Bruder zu Jesus und der wiederum spricht ihn ohne Vorstellung als „Simon, Sohn des Johannes“ an und spricht ihm den, den Lesern bereits bekannten, Beinamen „Kephas/Petrus“ zu. Jesus wird hier als der eingeführt, der von den Menschen weiß, sie kennt, ohne ihnen zuvor begegnet zu sein. Dies wird im zweiten Teil des Abschnitts rund um die Jüngerberufungen (Joh 1,43-51) wieder aufgenommen.
Die Zusprechung des Beinamens an Simon bleibt vollkommen unkommentiert. Auch hier geht der Evangelist davon aus, dass den Lesern die Bedeutung des Felsen als Fundament der Gemeinde (vgl. Matthäusevangelium 16,18) bekannt ist.

Auslegung

Für eine Weile wird es im Johannesevangelium still werden um den Täufer. Nach Joh 1,36 wird er erst wieder – und dann letztmalig – in Joh 3,22-36 die Bühne im Evangelium betreten, um noch einmal deutlich zu machen, dass er selbst nur der Vorbote eines anderen ist. Vorläufer, Zeuge, Hinweisgeber zu sein, das ist die Aufgabe des Täufers und die vorliegende Perikope zeigt, wie präzise er diesen Auftrag erfüllt. Bereits einmal hatte Johannes Jesus als das Lamm Gottes identifiziert (Joh 1,29) und obwohl der Evangelist nicht erwähnt, dass seine Jünger bei ihm sind, ist dies vorauszusetzen. Der Hinweis des Täufers braucht Adressaten und die sind in Joh 1,29 wie Joh 1,36 seine Jünger. Er hat sie sensibel gemacht für die Botschaft von dem, der nach ihm kommt. So halten sie genauso wie er Ausschau nach dem angekündigten Größeren. Im Sehen des vorübergehenden Jesus erfolgt sein letzter Hinweis: „Seht, das Lamm Gottes!“ Damit ist die Aufgabe des Zeugen erledigt und eine neue Dynamik beginnt. Es ist die Bewegung des Hörens, Sehens, Folgens, Bleibens, Suchens. Andreas und der andere Jünger des Johannes, sie sehen Jesus, sie hören die Worte des Täufers und setzen sie in eine Bewegung um, indem sie Jesus folgen – ohne ein Wort mit ihm gewechselt zu haben. Der Hinweis ihres bisherigen Lehrers und das, was sie selbst sehen, reicht aus, damit sie sich auf den Weg der Nachfolge begeben. Sie vertrauen der Einschätzung des Hinweisgebers und lassen sich durch sie motivieren, dem Neuen nachzugehen.

Das spannende der ersten Berufungsetappen des Johannesevangeliums ist es, dass dieses Prinzip des Hinweisgebens sofort fortgesetzt wird. Denn, nachdem er selbst gesehen hat, wohin die Botschaft ihn trägt, verweist Andreas seinen Bruder Simon auf Jesus, in dem er den Messias erkannt hat. In Joh 1,43-51 wird dieses Prinzip ein weiteres Mal fortgesetzt, wenn Philippus dem Natanael von Jesus berichtet. Die Jünger des Johannes setzen also dessen Auftrag fort, indem auch sie zu Hinweisgebern auf den Kommenden, den Messias werden. Der Ruf „Seht, das Lamm Gottes!“ bildet dabei einen Teil der aufkommenden Dynamik der Verkündigung. Den zweiten Teil stellt die Aufforderung Jesu dar: „Kommt und seht!“. Andreas und der andere Jünger, die mehr wissen wollen, über den, der da gekommen ist, die etwas suchen und etwas lernen wollen, sie bekommen etwas gezeigt. Und obwohl wir als Leser nicht genau erfahren, was sie sehen und erfahren, wenn sie am Wohnort Jesu sind (Vers 39), es spornt Andreas an, es auch seinem Bruder weiterzusagen. „Kommt und seht“ ist damit nicht nur der Aufruf Jesu, sich ein eigenes Bild zu machen, wo er denn nun wohne. Es ist der Hinweis, auf die Suche zu gehen nach etwas, was sich mit den Augen nur erahnen lässt. „Kommt und seht“ ist der Lesehinweis des Johannesevangeliums: Es geht darum mitzukommen auf den Weg Jesu – vom Jordan bis hin nach Jerusalem – und auf diesem Weg immer besser sehen und damit verstehen zu lernen, was der Hinweis des Täufers eigentlich bedeutete: „Seht, das Lamm Gottes!“

Kunst etc.

Giovanni di Paolo, Public domain, via Wikimedia Commons
Giovanni di Paolo, Public domain, via Wikimedia Commons

Auf dem Gemälde von Giovanni di Paolo (1403-1482) wird die Übergangs- und Übergabesituation zwischen Johannes dem Täufer und Jesus durch die Fokussierung auf die Personen besonders deutlich. Der Täufer steht inmitten seiner Jünger und zeigt ihnen den, der kommen soll und stärker ist. Mit dieser Geste werden die Jünger ihre Position verändern. Gäbe es ein Folgebild, wären sie fortan auf der rechten Seite in der Gefolgschaft Jesu zu sehen.