Begegnung mit dem Erwarteten. Johannes begegnet Jesus und weiß, was zu tun ist. Und damit hat er erledigt, wozu er gesendet wurde.
1. Verortung im Evangelium
Verglichen mit den anderen Evangelisten eröffnet Johannes sein Evangelium, seine frohe Kunde vom Leben und Wirken Jesu auf ungewöhnliche Weise. Er stellt dem Wirken und Verkündigen Jesu eine Vorrede, einen Prolog vorweg. In diesem philosophisch anmuteten Loblied spricht er über Jesus als Wort vor aller Zeit, aus dem alles entstanden ist und das in die Welt kam (Johannesevangelium (Joh) 1,1-18). Nach dem Loblied wird Johannes der Täufer als „Rufer in der Wüste“ und „Wegbereiter“ des Herrn vorgestellt (Joh 1,19-28). Im vorliegenden Abschnitt kreuzen sich nun die Wege Jesu und des Täufers, der für ihn Zeugnis abgelegt hat.
2. Aufbau
Vers 29 beschreibt die Begegnung und das Zeugnis des Johannes. In den Versen 30-31 wird das Zeugnis von Johannes in das eigene Wirken und die eigene Sendung eingeordnet. Die Verse 32-34 führen dies fort, verschieben den Fokus jedoch auf die Taufe Jesu und die damit verbundene Erkenntnis des Johannes, dass dieser Jesus, der Sohn Gottes ist.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 29: Ohne ein Wort und ein ausschmückendes Detail betritt Jesus die Szene, die völlig ohne weitere Einordnung bleibt. Den Lesern bleibt es überlassen, welches Bild sie im Kopf mit der Begegnung verbinden. Im Vordergrund steht das Wort des Johannes, der wie zu den Lesern spricht, denn keine weiteren Zeugen der Szene werden benannt. Die Einleitung des Rufes mit „siehe“ entspricht biblischem Sprachgebrauch. Johannes identifiziert Jesus als „das Lamm Gottes“ und formuliert damit die exklusive Sendung Jesu – so wie er auch selbst von „seiner Sendung“ spricht (vgl. Joh 12,49-50). Einen Teil dieser Aufgabe Jesu drückt der Täufer im Bild des Lammes aus, „das die Sünde der Welt hinwegnimmt“. Hierbei bringt der Evangelist verschiedene alttestamentliche Traditionen zusammen. So ist zum Beispiel zu denken an den Bock, dem am Versöhnungstag die Sünden des Volkes übertragen werden, bevor er in die Wüste geschickt wird und sie so wegträgt (Levitikus 16,20-22). Zugleich wird von der Gestalt des Gottesknechts im Buch des Propheten Jesaja ausgesagt, dass er „die Schmerzen auf sich lädt“ (Jesaja 53,4). Im weiteren Verlauf dieses Textes wird auch hier die Metapher des Lammes verwendet: „wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt“ (Jesaja 53,7).
Zugleich nimmt der Evangelist hier aber auch urchristliche Traditionen auf. Denn in der Überlieferung des Johannesevangeliums wird Jesus am „Rüsttag“ des Sabbatfestes gekreuzigt, dem Tag, an dem die Paschalämmer geschlachtet werden (Joh 19,31). Jesus kann mit Vers 29 dann als das „wahre Paschalamm“ verstanden werden, dessen Tod exklusiv heilbringenden und befreienden Charakter hat – wie ihn die Lämmer des Paschatages symbolisieren. Außerdem wird bereits im wohl ältesten überlieferten Bekenntnissatz der christlichen Gemeinde der Kreuzestod Jesu als Sühnetod benannt (1. Korintherbrief 15,3).
Verse 30-31: Johannes selbst ordnet seinen Ausruf ein in seine Verkündigung, indem er dieses Lamm Gottes als denjenigen identifiziert, über den er bereits zuvor gesprochen hatte. Zugleich ordnet er sich und sein Wirken ein in die Heilsgeschichte. Denn Johannes ist gekommen und tauft, um Jesus in Israel sichtbar (offenbar) zu machen. Johannes beschreibt sich hier in eigenen Worten noch einmal als den „Wegbereiter“, als den er sich zuvor mit einem Jesajazitat vorgestellt hatte (Joh 1,23). Dramaturgisch spannend schildert Johannes, dass der Täufer Jesus „nicht kannte“, nur weiß, dass er „vor ihm war“. Der Evangelist nimmt hier Bezug auf den Prolog seiner Jesuserzählung und setzt dieses Wissen um Jesus als das fleischgewordene Wort vor aller Zeit bei seinen Lesern selbstverständlich voraus (Joh 1,1 und 14). Indem auch Johannes sich als „unwissend“ („kannte ihn nicht“) bezeichnet, wird er Teil des prophetischen Wortes, das er den Priestern und Leviten sagt, um sein eigenes Wirken zu erläutern (Joh 1,26).
Verse 32-34: Mit der feierlich klingenden Einleitung „und Johannes bezeugte“ setzt der Evangelist den Täufer noch einmal neu einsetzen. Zunächst formuliert Johannes der Täufer, was er wahrgenommen hat: Auf Jesus kommt der Heilige Geist wie eine Taube herab. Erst im zweiten Schritt wird das Gesehene als „Erkennungszeichen“ eingeordnet. Denn Johannes ist nicht nur gesendet worden, zu taufen, sondern ihm ist auch anvertraut worden, denjenigen zu identifizieren, der eine andere, neue Taufe begründen wird. In Vers 34 fasst Johannes mit doppelter Betonung („gesehen und bezeugt“) zusammen, was er über Jesus, dem er hier (wieder-)begegnet, weiß: „Dieser ist der Sohn Gottes.“
Zwei Dinge fallen an diesem Zeugnis des Johannes auf: Zum einen wird nicht erwähnt, dass Johannes Jesus tauft. Zum anderen ist das Herabkommen des Heiligen Geistes ein Zeichen, das nur Johannes der Täufer wahrnimmt und ihn zum Erkennen des angekündigten „Geisttäufers“ führt. Beide Punkte unterscheiden die johanneische Darstellung der „Taufe Jesu“ von denen der anderen drei Evangelisten (Matthäus, Markus und Lukas). Dort ist immer explizit von der Taufe Jesu durch Johannes die Rede und die Öffnung des Himmels und Herabkunft des Geistes gilt im Wesentlichen Jesus (und evtl. der Menge, die mit ihm getauft wird).