Die Stunde ist gekommen! Es ist soweit, das letzte Paschafest Jesu steht vor der Tür und es ist Zeit für den letzten Akt der Liebe
1. Verortung im Evangelium
Das Johannesevangelium (Joh) beginnt mit einem Loblied auf Jesus Christus als das ewige Wort des Vaters (Joh 1,1-18). Er ist in die Welt gesandt, um die Herrlichkeit Gottes sichtbar zu machen und den Menschen den Weg zum Vater zu eröffnen. Diese Sendung Jesu ist als Grundthema in allen Erzählungen zu finden.
Die Perikope (Joh 12,20-33) spielt unmittelbar nach dem Einzug Jesu in Jerusalem (Joh 12,12-19). Jesus kommt dabei nicht das erste Mal in die Stadt, bereits mehrfach ist er zum Paschafest und anderen religiösen Feiertagen in Jerusalem gewesen. Dass dieser Aufenthalt in Jerusalem einen entscheidenden Punkt in der Sendung des Gottessohnes markiert, wird nicht erst mit dem Einzug in Jerusalem deutlich. Durch viele Ankündigungen vorbereitet lenken gerade die die Erzählungen vom Todesbeschluss der Hohepriester und Pharisäer (Joh 11,47-57) und von der Salbung in Betanien (Joh 12,1-11) den Blick auf die nun kommende Stunde (Joh 12,23).
2. Aufbau
Die Ausgangssituation der Szene schildert den Wunsch einiger „Griechen“ Jesus zu sehen, den sie an die Jünger Philippus und Andreas herantragen (Verse 20-22). Auf diese Anfrage reagiert Jesus in den Versen 23-28 in drei Antworten, die durch eine Himmelsstimme abgeschlossen werden (Vers 28b). In den Versen 29-33 wird die anwesende Menge in das Geschehen einbezogen: Sie reagiert auf die Himmelsstimme (Vers 29), was wiederum zu einer Antwort Jesu führt (Verse 30-32). Vers 33 ist ein „Kommentar“ des Erzählers zu den vorangegangenen Ereignissen.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 20-22: Die „Griechen“, die sich unter den Festpilgern befinden, sind Griechisch sprechende bzw. in der griechischen Kultur großgewordene Nicht-Juden. Die Tatsache, dass sie als „Pilger“ benannt werden, spricht dafür, dass es sich bei ihnen um sogenannte „Gottesfürchtige“ oder auch „Proselyten“ handelt. Dies sind Heiden, die der jüdischen Religion verbunden sind oder den jüdischen Glauben angenommen haben. Sie wenden sich an Philippus, weil dieser aufgrund seines griechischen Vornamen sicher auch der Sprache kundig ist und damit vermittelnd auftreten kann. Auch bei der Erzählung von der Brotvermehrung (Joh 6,5-10) sind Philippus und Andreas gemeinsam als Mittler zwischen Volk und Jesus tätig.
Im Wunsch der Griechen, Jesus „zu sehen“, nimmt Johannes ein grundlegendes Motiv seiner Jesuserzählung auf. Für ihn steht die Sendung des Gottessohnes im Mittelpunkt, der in der Welt den Vater und dessen Herrlichkeit sichtbar machen soll. Wenig später wird Jesus dies vor seinen Jüngern mit den Worten formulieren: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh 14,9). Wenn die Griechen hier ausdrücken, Jesus sehen zu wollen, wird der Blick des Evangeliums an dieser Stelle auf die spätere Gemeinschaft von Glaubenden aus Juden und Heiden geweitet.
Vers 23: Die erste Antwort Jesu ist einerseits eine direkte Reaktion auf die Bitte der Griechen, ihn sehen zu können. Andererseits verleiht sie der konkreten Bitte einen größeren Rahmen. Denn wenn Jesus hier sagt: „Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird“, zeigt er an, dass nun eintritt, was zuvor nur angeklungen war. Mehrfach war im Johannesevangelium bereits die Rede von „der Stunde“. Gemeint ist damit der Zeitpunkt, an dem die Sendung Jesu zu ihrem Höhepunkt kommt: Das Kreuz als Zeichen der unüberbietbaren Liebe Gottes. In dieser Stunde zeigt Jesus, wer und wie Gott ist, er offenbart dessen ganze Herrlichkeit und grenzenlose Güte. Bisher war diese Stunde noch nicht gekommen (Joh 2,4; 7,30; 8,20), dies ändert sich nun.
Der Evangelist lässt Jesus hier von sich als „dem Menschensohn“ sprechen. Ganz bewusst wendet er den Titel im Evangelium dort an, wo es um die enge Verbundenheit, ja Einheit von Vater und Sohn geht. Die Verwendung von „Menschensohn“ unterstreicht die Aussage, dass nun die Stunde gekommen ist, in der sich die Einheit von Vater und Sohn zeigt.
Verse 24-26: Diese zweite Antwort Jesu in den Versen 24-26 unterscheidet sich von Vers 23 in Sprache und Inhalt. In Form von kurzen Bildwörtern bzw. Redewendungen nimmt Jesus das Thema der Hingabe aus Vers 23 auf, verschiebt den Akzent aber in Richtung Nachfolge. Die Einleitung „Amen, amen“ verweist auf ein offenbarendes Wort Jesu. Dabei formuliert er zunächst zwei Bildwörter vom Sterben und Wachsen. Wie das Weizenkorn sterben muss, um Frucht bringen zu können, so muss das Leben in der Welt zurückgelassen werden, um ewiges Leben zu erlangen. Mit dem „Leben in dieser Welt“ ist ein Dasein gemeint, dass der innerweltlichen und damit auch menschlichen und dämonischen Logik (s. Vers 31) folgt. Es ist gekennzeichnet durch Gewalt, Herrschen, Festhalten etc. Ihm gegenüber steht der Weg der Nachfolge Jesu, der sich im Dienen, Lieben, Loslassen Ausdruck verleiht. Vers 26 stellt dabei bewusst das Dienen ins Zentrum der Nachfolge, so wie es auch die Zeichenhandlung der Fußwaschung in Joh 13,1-20 zeigt. Die Folge des Dienens bzw. der Nachfolge ist die Ehrung durch den Vater, also die Aufnahme in sein Reich und das ewige Leben.
Verse 27-28: Die dritte Antwort Jesu beginnt mit einem Ausruf, der die Leser des Evangeliums an Psalm 6,4 erinnert. Die anstehende Verherrlichung, von der Vers 23 sprach, kann nur am und über das Kreuz erfolgen. So beantwortet sich Jesus die Frage selbst, ob der Vater ihn aus „dieser Stunde“ erretten kann. Diese Verse sind inhaltlich eng mit der Szene im Garten Getsemani verbunden, wie sie die anderen drei Evangelisten überliefern (zum Beispiel Markusevangelium 14,33-36).
Der Gebetsausruf Jesu an den Vater mit der Bitte um die Verherrlichung seines Namens, ist die Zustimmung, dass nun die Stunde gekommen ist. Der Evangelist lässt diese Übereinkunft zwischen Vater und Sohn feierlich bestätigen. Eine himmlische Stimme betont die in der Sendung Jesu bereits erfolgt Verherrlichung Gottes, sie wird vervollständigt durch den Kreuzestod des einzigen Sohnes.
Verse 29-32: Johannes lenkt den Blick nun wieder auf die Zuschauer der Szene, allerdings werden nicht „die Griechen“, sondern wird „die (jüdische) Menge“ nun aktiv. Sie versuchen das Gehörte einzuordnen: als Donner, der im Alten Testament oft mit dem Erscheinen Gottes verbunden ist (Exodus 19,16), oder als Engelsstimme.
Jesus weist das Erlebte als dezidiertes Zeichen für die Menge aus. Die „Stimme“ ist das Zeichen des Gerichts, das jetzt unmittelbar (im Tod Jesu) erfolgt. Der „Herrscher dieser Welt“ der hinausgeworfen wird, ist der Satan selbst (vergleiche Lukasevangelium 10,18). Er ist das Bild für eine Welt, die sich nicht an dem Maßstäben Gottes (z.B. Dienen) orientiert. In seinem Hinauswurf wird alles verworfen, was an dieser Welt festhält und sich nicht an dem orientiert, was Gott in seinem Sohn als Weg offenbart. Den Alternativweg eröffnet das Kreuz. Wenn Jesus an ihm stirbt, an ihm „erhöht“ wird, zieht er zu sich und zum Vater all jene, die den Weg der Welt verlassen und ihr Leben auf Gott hin ausrichten. Hier ist eine enge Verbindung zu den Sprüchen vom Sterben und Wachsen aus den Versen 24-25 erkennbar.
Vers 33: Der Evangelist Johannes kommentiert die Antwort Jesu an die Menge und verdeutlicht damit, dass die Erhöhung den Kreuzestod meint. Vergleiche dazu das Evangelium vom 4. Fastensonntag (Lesejahr B) Joh 3,14-21.