Von Liebe und Hoffnung im Angesicht des Todes. Mit der Auferweckung des Lazarus nähern wir uns der Verheißung des Osterfestes.
1. Verortung im Evangelium
Das Johannesevangelium (Joh) beginnt mit einem Loblied auf Jesus Christus als das ewige Wort des Vaters (Joh 1,1-18). Er ist in die Welt gesandt, um die Herrlichkeit Gottes sichtbar zu machen und den Menschen den Weg zum Vater zu eröffnen. Diese Sendung Jesu ist als Grundthema in allen Erzählungen zu finden.
Die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus leitet über in die Passionserzählung des Evangelisten Johannes. In Joh 10,22-39 wurde von Jesu Aufenthalt beim Fest der Tempelweihe in Jerusalem berichtet. Hier spitzt sich die Situation für Jesus zu: Die Juden wollen ihn steinigen und festnehmen, „er aber entzog sich ihrem Zugriff“ (Joh 10,39). Diese bedrohliche Stimmungslage steht im Hintergrund der Lazarus-Erzählung: Nicht nur weil die Jünger Jesus warnen, nicht wieder nach Judäa und in die Nähe von Jerusalem zu gehen (Joh 11,8), sondern auch, weil Jesus sich nach dem Aufenthalt in Betanien zwar noch einmal in die Wüste zurückzieht (Joh 11,54), um dann ein letztes Mal nach Jerusalem zu gehen und seine Sendung zu vollenden.
2. Aufbau
Die Erzählung ist kunstvoll gestaltet und nimmt offenbar verschiedene Überlieferungen auf. Der Evangelist Johannes verbindet die Traditionen und bindet sie in seine Jesus-Erzählung ein. So kommt es zu kleineren Unebenheiten in der Darstellung (beide Schwestern bringen Jesus den identischen Vorwurf entgegen (Verse 21 und 32), die Salbung Jesu durch Maria wird vorausgesetzt, obwohl sie erst in Joh 12,1-11 erzählt wird. Gleichzeitig verleiht Johannes der Auferweckung eine besondere Dramatik und Anschaulichkeit (Lazarus liegt 4 Tage im Grab und riecht schon), die sie von anderen Auferweckungsgeschichten unterscheidet (vgl. z.B. Lukasevangelium 7,11-17). Der Evangelist möchte angesichts der vorgefundenen Überlieferung von der Auferweckung eines Toten in Betanien die Vollmacht Jesu und die sich darin äußernde Herrlichkeit Gottes besonders betonen. Die hoch emotionale Geschichte des Lazarus ist im direkten Vorfeld der Passionserzählung als Demonstration der Macht Gottes in seinem Sohn Jesus Christus ausgestaltet.
Sie lässt sich gliedern in:
- Entfaltung der Szene: Verse 1-5
- Gespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern: Verse 6-5
- Jesus und Marta: Verse 17-27
- Jesus und Maria (und die Juden): Verse 28-37
- Auferweckung des Lazarus: Verse 38-44
- Reaktion einiger Juden: Vers 45
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 1-5: Zunächst wird ein grober Überblick über die Situation gegeben (Vers 1), wobei weder die Krankheit genauer benannt, noch die familiäre Verbindung zwischen Lazarus, Maria und Marta offengelegt wird. Die Nähe des Ortes Betanien zu Jerusalem wird ebenfalls erst später (Vers 19) erwähnt. In den anderen Evangelien wird der Ort im Umfeld der Passions- und Ostererzählungen erwähnt, womöglich kennen auch die Leser des Johannesevangeliums diese Traditionen. Der kranke Lazarus hier hat nichts zu tun mit dem armen Bettler Lazarus, von dem das Lukasevangelium berichtet (Lukasevangelium 16,19-31). Über Maria und deren Salbung, die Johannes jedoch noch nicht erzählt hat (Joh 12,1-11!), werden die Personen in Beziehung zu Jesus gesetzt: Maria salbte Jesus die Füße, ihr Bruder Lazarus ist krank und sie hat eine Schwester namens Marta. Die Beziehung Jesu zu Lazarus wird über die Botschaft an Jesus transparent. Er ist „der, den du liebst“, lassen die Schwestern Jesus ausrichten. Mit „Liebe“ ist hier nicht nur eine emotionale Bindung gemeint, sondern eine Verbundenheit, die über das zugeneigt sein hinaus zur Motivation und Begründung des eigenen Handelns wird. Daher ist die „Liebe“ im Johannesevangelium ein zentraler Begriff, um die Sendung und Aufgabe Jesu zu charakterisieren: Aus Liebe offenbart der Vater seinem Sohn seine Werke (Joh 5,20) und lässt ihn selbst Anteil haben an diesen Werken. Und aus Liebe gibt Jesus sein Leben für seine Freunde (Joh 15,13).
Die Antwort Jesu auf die Nachricht der Schwestern richtet sich vor allem an die Leser des Evangeliums, sie werden so eingeladen, das Folgende zu verstehen und direkt mit der Hoffnung auf ein Herrlichkeitszeichen zu lesen. Bei den Jüngern führen die Worte Jesu jedenfalls nicht zum Verständnis, vielmehr zeigt der folgende Dialog wie schwierig es den Jüngern fällt, ein besonderes Zeichen Jesu zu „erwarten“. Diese Gleichzeitigkeit von „Ankündigung“ und „Unverständnis“ findet sich auch in der Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen (Joh 9,1-41) und in dem Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4,5-42).
Verse 6-16: Auch nach der ankündigen Antwort in Vers 4 irritiert das Verhalten Jesu: Statt zu dem Kranken zu gehen, wartet er noch zwei Tage. Die Erlebnisse des letzten Aufenthalts Jesu in Judäa und Jerusalem sind den Jüngern noch gut in Erinnerung (Joh 10,31). Entsprechend wollen sie verhindern, dass er sich erneut einer Gefahr aussetzt; wie real den Jüngern die Möglichkeit einer gewaltsamen Tötung Jesu vor Augen stand, zeigt der Einwurf des Thomas (Vers 16). Er drückt damit zugleich aus, dass die Jünger angesichts ihrer Zugehörigkeit zu Jesus selbst um ihr Leben fürchten. Gegenüber der Androhung eines Ausschluss aus der Synagogengemeinde (wie in Joh 9,22), ist dies eine wahrgenommene Steigerung der Aggression gegenüber den Anhängern Jesu.
Die Unterhaltung zwischen Jesus und seinen Jüngern verläuft in zwei Runden, in denen Jesus einmal in einem Bildwort und einmal „unverhüllt“ vom Schicksal des Lazarus spricht. Keiner der beiden Vermittlungsversuche erreicht die Jünger wirklich. Das Bildwort ist in der Tat nicht einfach zu entschlüsseln. Es setzt an bei der Alltagserfahrung, dass man tagsüber unterwegs ist und nicht nachts, weil man dann anstößt und stolpert. Die Formulierung „Licht dieser Welt“ verweist mit Blick auf Joh 8,12 („Ich bin das Licht der Welt“) auf Jesus selbst. In seiner Gegenwart, so könnte das Wort Jesu meinen, kann den Jüngern nichts geschehen. Und die „Nacht“ und Dunkelheit ist noch nicht da, von ihr wird explizit gesprochen als Judas das gemeinsame Mahl verlässt, um Jesus auszuliefern (Joh 13,30). Weil Jesus gemeinsam mit den Jüngern unterwegs nach Betanien ist, sind sie sicher und können Zeugen seines Wirkens an Lazarus werden. Seine Ankündigung von „schlafen“ und „auferweckt werden“ entspricht dem frühchristlichen Sprachduktus der Rede von der Auferstehung. Die Jünger aber verstehen dies im wörtlichen Sinn, für sie ist der Schlaf die Voraussetzung zur Genesung. Der Evangelist macht die Leser explizit auf dieses Missverständnis aufmerksam (Vers 13). Jesus versucht noch einmal, den tieferen Sinn seiner Worte und der damit verbundenen Ankündigung des Wunders deutlich zu machen. Lazarus ist wirklich gestorben, er schläft nicht nur, aber dieses Ereignis, das sich nur in seiner Abwesenheit so zutragen konnte, soll für sie zum Zeichen des Glaubens werden.
Verse 17-27: Nach dem Gespräch Jesu mit den Jüngern wird nun die Situation bei der Ankunft in Betanien entfaltet, um die Leser tiefer in das Geschehen einzubinden. Lazarus liegt bereits seit vier Tagen im Grab, nahe bei Betanien, das wiederum 3 km von Jerusalem entfernt ist. Den Ritualen folgend kommen Menschen zu den Schwestern, um den Trauernden Trost zuzusprechen. Marta läuft dem herbeikommenden Jesus entgegen. Sie hält ihm einerseits vor, dass Lazarus wohl nicht gestorben wäre, wenn Jesus vor Ort gewesen wäre. Andererseits äußert sie ihren Glauben an Jesu außerordentliche Vollmacht, indem sie sagt: „Alles, worum du Gott bittest, wird Gott dir geben“ (Vers 22). Die Zusage Jesu versteht sie aus ihrem Glauben an eine endzeitliche Auferstehung heraus, eine weitere Grenzüberschreitung zwischen Leben und Tod scheint ihr von sich aus nicht vorstellbar. Erst auf die Selbstoffenbarung Jesu hin, wird aus dem „ich weiß“ ein „ich glaube“. Sie bekennt Jesus, der vor ihr steht und den sie offenbar als Freund der Familie kennt, als den ersehnten Christus und Sohn Gottes. Auch wenn ihre Worte nicht explizit die Aussage Jesu vom ewigen Leben bestätigen, so nimmt sie mit dem Bekenntnis zum „Sohn Gottes“ doch implizit auf, was Jesus ihr zusagt. Denn die Offenbarung Jesu „ICH BIN die Auferstehung und das Leben“ nimmt den Kern des Gottesglaubens Israels auf. Als der „ICH BIN der ich bin“ hatte sich Gott dem Mose zu erkennen gegeben, als ein Gott, der auch der Gott der Väter und damit ein Gott der Lebenden ist, weil bei Gott der irdische Tod nicht das Ende der Beziehung bedeutet. Als Jesus diese „ICH BIN“-Zusage Gottes auf sich hin anwendet, wird Marta deutlich, dass hier der vor ihr steht, der auf einzigartige Weise für den Vater und mit dem Vater so von sich sprechen kann: Es ist Gottes Sohn.
Der Kern der Selbstaussage Jesu ist der Glaube an ihn als den Sohn Gottes. Der Glaube ist der Weg zu einem Leben, das auch der Tod nicht beendet. Wer Jesus als den vom Vater in die Welt gesandten Sohn bekennt, der bekennt sich damit zu Gott, der ein Gott des Lebens ist.
Verse 28-37: Die vorangegangene Szene hatte sich außerhalb des direkten Umfelds des Hauses der Schwestern abgespielt. Nach ihrer eigenen Begegnung ruft Marta ihre Schwester herbei, damit diese unbemerkt ebenfalls mit Jesus sprechen kann. Die Anrede „Meister“ ist ehrerbietige Fortsetzung ihres Bekenntnisses. Auch Maria steht Jesus nun zunächst alleine gegenüber und „grüßt“ ihn mit den gleichen Worten wie zuvor ihre Schwester. Anstelle eines Ausrufs (Marta) zeigt sich Marias Vertrauen durch Gesten: Sie fällt vor Jesus auf die Füße und legt gleichsam ihre ganze Trauer und Zerrissenheit vor ihn nieder. Maria bleibt jedoch nicht lange alleine mit Jesus, die mittrauernden Juden stimmen in ihr Weinen mit ein, das ist ihre Weise, das Leid der Schwestern zu teilen. Die Reaktion Jesu ist hoch emotional. Er ist erregt und erschüttert angesichts der Ohnmacht und Trauer, mit der Maria und die anderen dem Tod des Bruders gegenüberstehen. Und vor dem Grab, dem Ort, der die Endlichkeit des irdischen Lebens markiert, weint auch er.
Die Erschütterung Jesu ruft bei den Anwesenden eine doppelte Reaktion hervor: Die einen erkennen darin seine innere Beteiligung am Geschehen und seine Liebe zu dem Verstorbenen und den Schwestern. Die anderen fragen vorwurfsvoll, ob er, der den Blinden geheilt hat, nicht auch hier den Tod hätte verhindern können.
Verse 38-44: Immer noch mitgenommen („innerlich erregt“) von der Situation der Trauer und des Todes geht Jesus zum Grab und befiehlt es zu öffnen. Damit beginnt sein Eingreifen in die Macht und Realität des Todes. Der erschrockene Einwurf der Marta, dass der Leichnam am vierten Tag bereits angefangen habe zu riechen, unterstreicht dies. Entsprechend antwortet ihr Jesus und erinnert sie an ihr Gespräch: Sie wird die Herrlichkeit Gottes sehen können, wenn sie an Jesu Wirkmacht glaubt. Mit diesen Worten verweist Jesus sie auf die Einheit zwischen Vater und Sohn, die im folgenden Gebet und Wirken deutlich wird.
Die zum Himmel gerichteten Augen sind – wie für uns gefaltete Hände – eine Gebetsgeste. Jesus „verbindet“ sich mit dem Vater im Himmel und spricht für alle hörbar dem Vater seinen Dank aus. Sein sichtbares und hörbares Verbundensein mit dem Vater dient dem Glauben der Zuschauenden. Was Jesus als Sohn immer weiß („ich und der Vater sind eins“, Joh 10,30), macht er hier den Umstehenden deutlich: Der Sohn handelt in Übereinstimmung mit dem Vater und so wird im Wirken des Sohnes die Herrlichkeit Gottes, des Vaters, sichtbar.
Jesus ruft den Toten aus seinem Grab. Der Evangelist schildert dies so sinnfällig, dass jeder Leser das Grenzüberschreitende des Wirkens Jesu verstehen muss: Lazarus ist bekleidet mit den Gewändern des Todes (Leinenbinden, Schweißtuch) und kommt so zurück in die Welt der Lebenden. Die Umstehenden müssen helfen, ihn auch äußerlich zurück in die Welt des Lebens zu holen, indem sie ihm die Binden abnehmen. Nun kann Lazarus gehen und in sein Leben zurückkehren, er ist aus dem Tod wieder in die irdische Wirklichkeit geholt worden. Für die Schwestern und die mitgekommenen Juden ist das sichtbar und zum Teil greifbar geworden. Dies unterscheidet das leere Grab und die Auferweckung des Lazarus von der des Ostermorgens
Vers 45: Wie es Jesus im Gebet antizipiert hatte, kommen viele der Juden, die Zeuge der Auferweckung waren, zum Glauben. Jesu todesüberwindende Macht zeichnet ihn für sie als Sohn des himmlischen Vaters aus.
[Vers 46: Der Evangelist Johannes schildert jedoch auch die gegenteilige Reaktion: Jesu Handeln am toten Lazarus wird für andere zum Ärgernis. Sie gehen zu den Pharisäern, um von einem weiteren „skandalösen“ Zeichen Jesu zu berichtet. – Dieser Vers ist bei der Abgrenzung des Evangeliumstextes leider außen vor geblieben.]