Nach Worten von kosmischer Dimension (Amos 9,5-6), die eher unheilsschwanger klingen und wie ein Ausrufezeichen am Ende der Bucheinheit Am 7,1 - 9,4 stehen, eröffnet eine Frage das eigentliche Buch-Finale. Diese Abfolge von "Ausrufezeichen" und "Fragezeichen" durchbricht das, was die Lesenden des Amosbuches erwarten. Ein neuer Spannungsbogen beginnt!
Einordnung des Abschnitts in den Kontext
Es überrascht, dass im Anschluss an die letzte Hymnus-Strophe (Amos 9,5-6), die den Namen des Gottes preist, der sein Schöpfungswerk auch wieder zurücknehmen kann, ein neuer Text anhebt. Eigentlich klang dieser Hymnus wie ein Schlusswort.
Andererseits: Der neu beginnende Absatz knüpft auffällig an die dem Hymnus vorangehende fünfte Vision (Amos 9,1-4) an. Die Nebeneinanderstellung zweier Versteile macht dies sehr anschaulich:
Amos 9, 4 (Schluss der fünften Vision): "Ich habe meine Augen auf sie gerichtet zum Bösen und nicht zum Guten."
Am 9,8 (zweiter Vers des neuen Abschnitts nach dem Hymnus): "Siehe, die Augen GOTTES, des Herrn, sind auf das sündige Königreich gerichtet."
Schon diese kleine Beobachtung spricht dafür, dass der Hymnus den vorgegebenen Übergang von 9,4 zu 9,7-10 nachträglich unterbrochen hat. Verstärkt wird diese Annahme durch weitere Brücken zwischen der fünften Vision (9,1-4) und dem Wort 9,7-10: Beide Passagen enden jeweils mit dem Begriff "Unheil" (leider übersetzt die Einheitsübersetzung 2016 uneinheitlich und schreibt in Vers 4 "Böses" statt "Unheil"); und beide Passagen sprechen von der Tötung "durch das Schwert" (Verse 1 und 10). Umgekehrt zeigt der Hymnus keinerlei ausdrückliche begriffliche Beziehungen zu den beiden ihn umgebenden Textabschnitten und gibt sich so als später erfolgter Einschub zu erkennen.
Bei allen begrifflichen Anspielungen zeigen aber die Verse 7-10 auch erkennbare Abweichungen von der Vision. Es wird nicht einfach dasselbe wiederholt. Vor allem die Form des sogenannten Disputationswortes, also einer argumentierenden Streitrede, weist darauf hin, dass die vorangehende Aussage der Vision eher bestritten oder in irgendeiner Weise korrigiert bzw. differenziert werden soll. So bewegen sich die Verse 7-10 zwischen bewusster begrifflicher Anspielung auf die Vision und inhaltlicher Absetzung von ihr. Diesen "Spalt" haben wohl schon diejenigen bemerkt, die genau an der Sollbruchstelle im Nachhinein die letzte der drei Strophen des Namen-Gottes-Hymnus (Amos 4,13; 5,8[.9]; 9,5-6) eingefügt haben. Sie verstärkt mit ihrer kosmischen Bildsprache einerseits die Unheilsdimension der fünften Vision, lässt aber andererseits durch die Form des Lobpreises ("JHWH ist sein Name" lautet der Schlussrefrain!) erkennen, dass dieses Unheil "nur" eine Gott zur Verfügung stehende Möglichkeit ist. Er kann auch genau gegenteilig - also heilvoll - handeln. Ja, er muss sogar anders gehandelt haben, denn sonst gäbe es jetzt nicht diejenigen, die das Bekenntnis zum Gottesnamen aussprechen. Und genau von dieser anderen Handlungsoption Gottes, derjenigen zum Heil, beginnt Amos 9,7-10 zu sprechen. Amos 9,11-15 wird auf dieser eher noch zaghaften Basis eine überschäumende abschließende Heilsvision aufbauen.
Damit stellt sich die Frage nach dem genauen Inhalt von Am 9,7-10.
Vers 7: Israel-Bashing oder Zuspruch?
Fragen erwecken Neugier und Aufmerksamkeit. Das Buch Amos ist von ihnen geradezu durchzogen (vgl. z. B. Amos 2,[9-]11; 3,3-8; 5,18-20; 6,2; 6,12-13; 8,8-9). Eine besondere Nähe weist Amos 9,7 dabei zu Vers 2,11 und 6,2[-3] auf:
9 Dabei bin ich es gewesen, der vor ihren Augen den Amoriter vernichtete, der groß war wie die Zedern und stark wie die Terebinthen; ich habe oben seine Frucht vernichtet und unten seine Wurzeln. 10 Ich bin es gewesen, der euch aus dem Land Ägypten heraufgeführt und euch vierzig Jahre lang durch die Wüste geleitet hat, damit ihr das Land des Amoriters in Besitz nehmen konntet. 11 Ich habe einige eurer Söhne zu Propheten gemacht und einige von euren jungen Männern zu Nasiräern. Ist es nicht so, ihr Söhne Israels? - Spruch des HERRN. (Amos 2,9-11)
2 Zieht hinüber nach Kalne und seht! Geht von da nach Hamat-Rabba und steigt hinunter nach Gat, ins Land der Philister! Seid ihr besser als diese Reiche? Ist ihr Gebiet größer als euer Gebiet? 3 Ihr, die ihr den Tag des Unheils hinausschieben wollt, führt die Herrschaft der Gewalt herbei (hebräisch: taggîšûn). (Amos 6,2-3)
Zu dem zweiten Zitat gibt es noch einen zusätzlichen Bezug, wenn man Amos 9,10, also den Schlusssatz des hier zur Behandlung anstehenden Abschnitts, entgegen der glättenden Einheitsübersetzung wörtlich übersetzt: “Du wirst das Unheil nicht an uns (wörtl.: um uns herum) heranführen (taggîš) und uns treffen lassen!”
Die Zusammenstellung lässt erkennen: Alle diese Fragen rufen das Thema Erwählung Israels in Erinnerung. Darunter versteht man eine Sonderstellung Israels, die es von anderen Völkern unterscheidet. Als Beispiele für "die anderen Völker" werden ausdrücklich genannt: Ägypten, Kalne (eine nordsyrische, biblisch: aramäische Stadt), Hamat-Rabba (ein Stadtstaat, ebenfalls in Aram gelegen) sowie die Philister.
Die Fragen nennen also haargenau dieselben Völker, die auch Amos 9,7 anführt:
7 Seid ihr nicht wie die Kuschiten für mich, ihr Israeliten? - Spruch des HERRN. Habe ich Israel nicht heraufgeführt aus dem Land Ägypten und ebenso die Philister aus Kaftor und Aram aus Kir?
Aus dem Rahmen fallen nur die "Kuschiten", die bislang im Amosbuch nicht aufgetaucht sind. Meistens identifiziert man sie mit den Bewohnern Äthiopiens und Sudans. Dagegen spricht allerdings, dass Genesis 10,8-14 einen Stammbaum des namengebenden Kusch bietet (ein Enkel Noachs). Dessen Sohn Nimrod wird verbunden mit Babel und Kalne (10,10). Im abschließenden Vers 14 tauchen dann noch als spätere Nachfahren die Ägypter, Kaftoriter und Philister auf. Mit anderen Worten: Die Kuschiten verweisen - zumindest in der Tradition von Genesis 10,8-14 - eher nach Assyrien/Babylonien (heute Irak/Iran) als nach Afrika und werden in einem weiten Sinne als mit den Ägyptern und Philistern verwandt angesehen.
Die Kuschiten sind also weniger ein Exotenvolk, wie man es in der Exegese gerne sah, auf die verächtlich geschaut wird, um durch den Vergleich ("wie die Kuschiten") auch Israel verächtlich zu machen. - Dagegen spricht übrigens bereits Jes 18,2: Hier werden die Kuschiten geradezu gerühmt als “das hochgewachsene Volk mit der glänzenden Haut”, dessen Kraft man fürchtet (vgl. auch Nahum 3,9). - Vielmehr sind die Kuschiten Teil eines festen Netzwerks von Völkern, das auf der einen Seite aus Ägypten - dem Land der Sklaverei, aus dem Gott befreit hat - und auf der anderen Seite aus Aram und Philisterreich besteht. Alle sind die "klassischen" Unterdrückervölker Israels, zu denen seit dem Exil auch Babylon ("Kuschiten") gehört. Da aber Philister und Aramäer in Amos 9,7 mit derselben positiven Handlung Gottes wie Israel verbunden werden ("Heraufführung"), ist dasselbe auch für die Kuschiten anzunehmen, die zu allem Überfluss auch noch bei wörtlicher Übersetzung "Söhne der Kuschiter" genannt werden, was sehr an die Erwählungsanrede "Söhne Israels" erinnert (vgl. Amos 3,1! und 9,7 [Einheitsübersetzung: "Israeliten"]).
Was aber will der Vergleich der "Söhne Israels" mit den "Söhnen der Kuschiten"? Noch einmal hilft der Blick auf einen Vergleichstext, diesmal aus dem Buch Levitikus/3. Buch Mose:
"Denn mir gehören die Israeliten als Knechte, meine Knechte sind sie; ich habe sie aus Ägypten herausgeführt, ich bin der HERR, euer Gott" (Levitikus 25,55).
Auch wenn hier keine Frage vorliegt, bietet der hebräische Text mit Amos 9,7 identische Formulierungen , die aber jeweils sehr verschieden übersetzt werden. Denn es ist ein gewaltiger Unterschied, ob es heißt: "Seid ihr nicht wie die Kuschiten für mich?" oder ob - in Entsprechung zum Levitikus-Vers - gefragt wird: "Gehört ihr mir nicht [ebenso] wie die Kuschiten?" Aus dem despektierlich klingenden Vergleich wird auf einmal eine vergleichbare Zugehörigkeitsaussage. Israel wird nicht in irgendeinem Punkt herabgemindert, sondern es erfolgt eine ungewöhnliche Gleichstellung der Kuschiten und der anderen genannten Völker mit Israel. Hinsichtlich eines rettenden Geschichtshandelns ("Heraufführung") besteht für Amos 9,7 kein Unterschied zwischen Kuschiten, Aramäern und Philistern einerseits und Israel andererseits. Der Fokus der Aussage ist aber kein negativer, sondern ein positiver: Alle diese Völker gehören (zu) Gott.
So verstanden, entpuppt sich Am 9,7 als eine Anspielung auf die sogenannte Bundesformel, die man in Entsprechung so übersetzen könnte: "Ihr gehört mir als mein Volk und ich gehöre euch als euer Gott" (vgl. Deuteronomium 26,17-18: "Heute hast du der Erklärung des HERRN zugestimmt. Er hat dir erklärt: Er will dein Gott werden ... Du hast ihm erklärt: Du möchtest das Volk werden, das ihm persönlich gehört"; noch knapper: Levitikus 26,12: "ich bin euer Gott und ihr seid mein Volk."). Wie in den Fremdvölkersprüchen (die in Amos 1,3-5 und 1,6-8 als Beispiele ebenfalls die Philister und die Aramäer nennen!) ist hier eine Theologie vorausgesetzt, die einen reinen Nationalglauben: ”JHWH ist der Gott Israels” sprengt und ein geschichtsmächtiges Handeln JHWHs auch an anderen Völkern voraussetzt. In einer schockierenden Weise wird der Erwählungsglaube der “Söhne Israels” relativiert.
Die hinter der Relativierung stehende Botschaft ist aber eine erschreckende und eine tröstliche zugleich:
Die erschreckende wurde schon früher, in Amos 3,2 formuliert:
"Nur euch habe ich erkannt unter allen Stämmen der Erde; darum suche ich euch heim für alle eure Vergehen."
Die Erwählung zeichnet sich also weniger durch die Geschichtstat Gottes aus - auf die könnten andere Völker auch verweisen -, sondern durch die daraus für Israel in besonderer Weise erwachsende Verantwortung, diesem rettenden Gott im Handeln zu entsprechen.
Die tröstliche Aussage lautet aber: Wenn Gott sich bereits an Völkern "heraufführend" erwiesen hat, zu denen es eine weniger dichte, in einem regelrechten Bund bekräftigte Zugehörigkeit gibt, dann wird er erst recht die nicht völlig fallen lassen, mit denen er einen Bund geschlossen hat und die den Ehrennamen "Söhne Israels" tragen (s. dazu die entsprechende Auslegung unter Amos 3,1).
Vers 8: Gericht und Erwählung in einem
Vers 8a: Gericht
Die Doppelbotschaft von Gericht (als Folge der Verantwortung für begangenes Unrecht) und Heil (als Folge des Festhaltens Gottes an seinem grundsätzlichen Ja zu seinem Volk Israel [= "Erwählung]) wird von Vers 8 bestätigt. Sie ist festzumachen an der Gegenüberstellung von "sündigem Königreich" und "Haus Jakob" (diese Anrede findet sich nur noch in dem Gerichtswort Amos 3,13-15: "13 Hört und bezeugt es dem Haus Jakob - Spruch GOTTES, des Herrn, des Gottes der Heerscharen: 14 Ja, an dem Tag, an dem ich Israel für seine Verbrechen heimsuche, werde ich die Altäre von Bet-El heimsuchen; die Hörner des Altars werden abgehauen und fallen zu Boden. 15 Ich zerschlage den Winterpalast und den Sommerpalast, die Elfenbeinhäuser werden verschwinden und mit den vielen Häusern ist es zu Ende - Spruch des HERRN.").
Dabei verweist "Königreich" auf Israel als monarchisch verfassten Staat, auf dessen Institutionen, Amtsträger und auf die oberen sozialen Klassen, die gesellschaftlich das Sagen haben. Hier liegt die Wurzel der Fäulnis, die Gott "verschwinden lassen" will (hebräisch: hišmîd).
Eine Institution, die ganz besonders mit dem "Königreich" verbunden ist, war das Heiligtum von Bet-El, das in Amos 7,13 in wörtlicher Wiedergabe "Tempel des Königreichs" genannt wird. Auf diesen besonderen Status des Heiligtums von Bet-El verweist der dort amtierende, in Staatsdiensten stehende Priester Amazja trotzig und autoritär zugleich, um damit Amos Redeverbot und Landesausweisung zu erteilen. So glaubte er wohl, das ihm unangenehme Wort Gottes, für das Amos steht, "verschwinden lassen" zu können (zu Amos 7,10-17, wo übrigens dreimal von demselben "Erdboden" die Rede ist wie in Am 9,8, s. die entsprechende Auslegung unter Amos 7,10-17).
Die Kennzeichnung Israels als "sündiges Königreich" (hebräisch: mamlāḵā haḥaṭṭāʼā) erinnert hingegen an die in Amos 5,12 aufgelisteten Rechtsvergehen: "Denn ich kenne eure vielen Vergehen und eure zahlreichen Sünden (ḥaṭṭāʼôt). Ihr bringt den Unschuldigen in Not, ihr lasst euch bestechen und weist den Armen ab im Tor."
Damit steht "sündiges Königreich" zusammenfassend für den gesamten Schuldkomplex, der zuvor im Amosbuch detailliert benannt worden ist, egal ob auf rechtlich-sozialer oder kultischer Ebene. In der Konsequenz bedeutet das: Israel teilt mit den fremden Völkern nicht nur einen gottgewirkten Anfang ("heraufführen"), sondern aufgrund seines Versagens auch deren gottgewirktes Ende. Auf dieses wurde mit dem oben genannten Fragenkatalog Amos 6,2-3 hingewiesen. Denn Kalne, Hamat-Rabba und die Philister werden dort als bereits untergegangene Staaten erwähnt. Amos 6,2-3 und Amos 9,7-8 sind also wie eine große Klammer zu lesen. Dann zeigt sich: Als Königreich unterscheidet sich Israel durch nichts von den anderen Monarchien. Ganz im Gegenteil: Gerade da, wo es sich hätte auszeichnen können, hat es gänzlich versagt: in der Verwirklichung seiner Gottesbeziehung durch den Zusammenklang des Handelns im Alltag und im Kult. Dies führt zum Untergang des Königreichs Israel. Das in diesem Zusammenhang gewählte Verb (hischmîd) legt einen Vergleich mit der wortgleich ausgedrückten Vernichtung der Amoriter nahe, von der in Amos 2,9 die Rede war.
Vers 8b: Erwählung
Nach dieser völligen Gleichstellung des Königreichs Israel mit anderen Völkern hinsichtlich seines Anfangs wie seines Endes überrascht Vers 8b, der wörtlich lautet: "Allerdings werde ich das Haus Jakob nicht völlig verschwinden lassen" (hebräisch durch Verneinung und Verdoppelung des Verbs ausgedrückt: lôʼ haschmed hischmîd) . Offensichtlich wird unterschieden zwischen dem "sündigen Königreich", auf das Vers 10 mit der ebenfalls einschränkend zu verstehenden Formulierung "alle Sünder meines Volkes" zurückgreifen wird, und dem "Haus Jakob". Hiermit kann nur ein Israel gemeint sein, das sich seiner Erwählung wirklich bewusst ist; das aufgehört hat, noch Königtum zu sein, weil offensichtlich gerade das Königtum sich als Hindernis dafür erweisen hat, Gott zur Geltung kommen zu lassen. Wenn der Hinweis auf den “Reichstempel” (bêt mamlākā) als Grund herhalten kann, einem Propheten JHWHs das Wort zu verbieten (Amos 7,13), dann hat sich das Königtum in der Tat als ein “verfehltes” (so die Hintergrundbedeutung von “sündig” in Amos 9,8) erwiesen. Wenn der Besitz staatlicher Macht dazu verführt, Unheil für sich selbst auszuschließen - also gar nicht mehr mit einem unverfügbaren Wirken Gottes zu rechnen (Amos 9,10) -, dann hat sich dieses System als untauglich dargestellt für das Bundesvolk Gottes oder aber es müsste zumindest ein Königtum ganz anderer Art sein, das auch bis in alle seine Institutionen hinein vom Willen Gottes durchdrungen ist. Den (utopischen?) Entwurf eines solchen nicht verfehlten Königtums entwirft Deuteronomium/5. Buch Mose 17,14-20. In welche der beiden Richtungen Amos 9,8 denkt, ist aus dem Text nicht erkennbar. Erkennbar allerdings ist, dass der Name "Jakob" auf die Preisgabe aller Selbstüberschätzung zielt und auf das Wissen, vor Gott "klein und schwach" zu sein (s. den entsprechenden zweimaligen Einwand des Amos in den ersten beiden Visionen: "Wie kann Jakob bestehen? Er ist ja so klein" in Amos 7,2.5). Ein solches vom "sündigen Königtum" zum "Haus Jakob" gewandeltes Israel wird übrigbleiben und dem Gericht entgehen. An ihm wird sich die Treue Gottes zu seinem Volk bewahrheiten.
Mit anderen Worten: Die späten Überarbeiter der Botschaft des Amos lösen die ausschließlich Unheil kennende Botschaft des Amos (vgl. besonders Amos 8,2: "Gekommen ist das Ende zu meinem Volk Israel.", wo völlig undifferenziert von "meinem Volk" und nicht nur den "Sündern meines Volkes" die Rede ist: s. Amos 9,10) im Sinne eines "heiligen Restes" auf, der beim Gericht übrigbleibt.
Vers 9: Ein rätselhafter Kieselstein im Sieb
Von diesem Übrigbleiben spricht wohl das Bildwort vom Sieb, das den Exegeten Kopfzerbrechen bereitet. Von der Bildwelt her würde man nämlich sagen: Beim Worfeln mit dem Sieb bleiben die Körner (und keine Kiesel) im Sieb, und die unbrauchbare Spreu fällt durch die feinen Löcher. Ist das Aufzubewahrende das, was im Sieb bleibt? Oder sind die Kiesel gerade das, was fortzuwerfen wäre, während alles, was nicht Stein ist (z. B. Mehl) zu Boden fiele?
Von der Logik der Gedankenführung legt sich eigentlich näher, das im Sieb Übrigbleibende mit dem "Haus Jakob" gleichzusetzen. Dann fragt man sich allerdings, warum das eher seltene Wort "Kieselstein" (Einheitsübersetzung: "Stein", hebräisch: ṣerôr/gesprochen: tzerór) gewählt wird. Die folgende Deutung mag gewagt sein, ergibt aber im Blick auf die Belege im Alten Testament einen überraschend passenden Sinn. Neben der Bedeutung "Kieselstein" hat dasselbe hebräische Wort auch die Bedeutung "Beutel". Neben dem sehr weltlichen Gebrauch dieses Wortes fällt eine Verwendung aus dem Rahmen. Sie findet sich in 1 Sam 25,29:
"Wenn sich aber ein Mensch erhebt, um dich zu verfolgen und dir nach dem Leben zu trachten, dann sei das Leben meines Herrn beim HERRN, deinem Gott, eingebunden in den Beutel des Lebens; das Leben deiner Feinde aber möge der Herr mit einer Schleuder fortschleudern."1
Hier treffen aufeinander ein Bildwort für die Bewahrung des Lebens ("Beutel des Lebens") und das Schleuder-Wort, das am ehesten an Steine/Kiesel als Bildhintergrund erinnert (vgl. David und Goliat in 1 Samuel 17). Vielleicht hat Amos 9,9 genau um dieses Zusammenklangs willen von "Stein" und "Beutel des Lebens" den ungewöhnlichen Begriff gewählt. Die im Sieb verbleibenden Steine sind Bild für das Überleben des nicht von seinen Verfehlungen, sondern von seinem Wissen um die Erwählung geprägten "Haus Jakob".
Vers 10: Nicht Häme, sondern Trost
Der letzte Satz dieses Disputationswortes, das dem Irrglauben widerspricht, Erwählung bewahre grundsätzlich vor den Konsequenzen eigenen Versagens und gebe Anlass, sich über andere Völker erheben zu dürfen (das steckt wohl hinter der Eingangsfrage Vers 7), verdeutlicht noch einmal, worin die eigentliche "Sünde" besteht: Sie besteht in dem Wahn, Unheil würde allerhöchsten die Anderen treffen. Es ist der Glaube, Gott in der Tasche zu haben und ihn instrumentalisieren zu können oder ihn gar ganz aus seiner Vorstellungswelt zu verbannen. Fast wie Ironie klingt es, wenn es - wie bereits eingangs gesagt - am Ende wörtlich heißt:
“Du wirst das Unheil nicht an uns (wörtl.: um uns herum) heranführen (taggîš) und uns treffen lassen!”
und damit angespielt wird auf Amos 6,3
"Ihr, die ihr den Tag des Unheils hinausschieben wollt, führt die Herrschaft der Gewalt herbei (hebräisch: taggîšûn)."
Mit ihren eigenen Taten provozieren die Täter das Unheil, von dem sie glauben, das Gott es fernhalte. Warum sollte er?
Doch nicht göttliche Häme ist das Ziel dieses Verses, sondern die Mahnung, am Ende nicht zu den "Sündern meines Volkes" zu gehören bzw. Trost für die, die sich definitv nie auf deren Seite geschlagen haben.