In zweifacher Form steigert das Finale des Amosbuches das in den vorangehenden Versen 7-10 nur angedeutete Heil für das Haus Jakob: Verse 11-12 verheißen das Wiedererblühen des zurzeit auf ein bescheidenes "Hüttendasein" zurückgeworfenen Volks, das dennoch die Erinnerung an das königliche Glanzgestirn David wachhält; die Verse 13-15 denken eher naturhaft-kosmisch und kündigen Ernteertrag im Überfluss an - eine Gegenvision zu den beiden Visionen in Amos 7,1-6, die das Ende von Ernte und Wachstum in der Natur ankündigten.
Einordnung in den Kontext
Nachdem Amos 9,7-10 zum ersten Mal innerhalb des Buches neben den Unheilsaussichten auch eine Heilsperspektive eröffnet hat, bauen die Verse 11-15 genau diese Heilsperspektive weiter aus und entwerfen zwei Hoffnung stiftende Bilder (s. o.). Dass dieses furiose Finale Aussagen des Amos ins Gegenteil umkehrt, setzt weder Amos ins Unrecht, noch banalisiert es den Text zu einem rhetorischen “happy end”, weil man das Buch nicht in düsteren Farben enden lassen wollte. Vielmehr ist der Schluss des Amosbuches Zeugnis der Hoffnung, dass auch das schlimmste Unheil nicht Gottes letztes Wort ist. Unwiderruflich heißt es bereits am Ende der Sintflut im Buch Genesis/1. Buch Mose:
"21 Ich werde den Erdboden wegen des Menschen nie mehr verfluchen; denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an. Ich werde niemals wieder alles Lebendige schlagen, wie ich es getan habe. 22 Niemals, so lange die Erde besteht, werden Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht aufhören" (Genesis 8,21-22).
Diese Sichtweise wird im Buch Jeremia bestätigt:
"25 So spricht der HERR: So gewiss ich meinen Bund mit dem Tag und mit der Nacht und die Ordnungen von Himmel und Erde festgesetzt habe, 26 so gewiss werde ich auch die Nachkommen Jakobs und meines Knechtes David nicht verwerfen; aus seinen Nachkommen werde ich die Herrscher über die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs nehmen. Denn ich werde ihr Geschick wenden und mich ihrer erbarmen" (Jeremia 33,25-26).
Und daran genau knüpft Amos 9,14 an, wenn der Vers einsetzt: "Dann wende ich das Geschick meines Volkes Israel." Der Schluss des Amosbuches will damit nicht die Worte des Amos ersetzen. Vielmehr haben die Unheilserfahrungen des Untergangs des Nordreichs (722 v. Chr.) und des Südreichs (587 v. Chr.) Amos ins Recht gesetzt, weshalb sein Wort ja auch als Heilige Schrift festgehalten wurde. Und dennoch gilt: Mit Amos endete das "Sprechen Gottes" nicht. Es gibt auch das Wort Gottes für die Zeit danach, und das ist eines der Hoffnung, die allerdings immer auch weiß, dass der Mensch die Grundlagen der Hoffnung selbst verspielen kann.
Vers 11
Die Einleitungsformel “an jenem Tag” stellt einen Bezug zum Vortext her. So werden die Verse 11-12 auf jenes hörbereite und umkehrwillige “Haus Jakobs” (Vers 8) gemünzt, das die Botschaft des Amos ernst nimmt und sie nicht mit den Worten des vorangehenden Verses 9,10b beiseite schiebt: "Das Unheil erreicht uns nicht, es holt uns nicht ein."
Das erste Bildwort, das auffällt, ist die "Hütte Davids". Das ist nur noch ein sehr bescheidenes Überbleibsel der Rede vom "Haus Davids", mit der einst der Prophet Natan dem König David eine großartige Zukunft mit beständiger Dynastie und einem gesicherten Königreich in Aussicht stellen konnte (vgl. 2 Samuel 7,14). Bei "Hütte Davids" denkt niemand mehr an Repräsentationsbauten wie Palast und Tempel, ja nicht einmal an Königtum. "Hütte" erinnert auch weniger an die "Laubhütten" (Mehrzahl!), die einem der drei großen jüdischen Wallfahrtsfeste ihren Namen gegeben haben und zumindest ursprünglich wohl die Sonnenunterstände für Erntearbeiter auf dem Feld meinen (vgl. auch Jona 4,5). Im Blick sein dürfte eher ein älteres Prophetenwort. Darin beschreibt Jesaja das im Jahr 732 v. Chr. von den Assyrern durch Krieg schon arg dezimierte Südreich Juda mit den Worten:
"Die Tochter Zion [das ist das übriggebliebene Jerusalem mit Umland] ist übrig gelassen wie eine Hütte im Weinberg, wie ein Schutzdach für die Nacht im Gurkenfeld, wie eine belagerte Stadt" (Jesaja 1,8).
Und diese "Hütte" liegt mittlerweile auch noch in "Trümmern" (Vers 11), denn die Verse 11-12 blicken schon zurück auf die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier unter König Nebukadnezzar im Jahr 587 v. Chr. Die "Hütte Davids" ist das "vernichtete", aber eben "nicht völlig vernichtete" "Haus Jakobs" (Vers 8).
Das Bild vom "Bauwerk" legte sich in einer Trümmerlandschaft nahe, will aber nicht einfach bezogen werden auf den Wiederaufbau von Gebäuden aus Stein. Der Wiederaufbau der "Hütte Davids" meint wohl eher das Wiederaufblühen des Volkes. Garant dafür ist die Treue Gottes zu seinem Wort, für die David steht. Ihm hatte Gott einst durch Natan seine prinzipielle Zuwendung zugesprochen, und zwar als Person und Anfang einer Generationenkette (vgl. 2 Samuel 7,1-17). Offensichtlich hegt der Schluss des Amosbuches - wie auch andere Texte des Alten Testaments sowie außerbiblische Texte des Judentums es tun (z. B. aus der "Gemeinde" von Qumran am Toten Meer aus der Zeit des 2. Jh. v. Chr. - 1. Jh. n. Chr.) - Hoffnungen und Erwartungen, die an die Person Davids und seine Nachfahren anknüpfen. Über die konkreten Formen des Wiederaufblühens Israels, dieser darniederliegenden "Hütte Davids", lassen sich die Verse nicht aus. Denkbar wären z. B. ein Königtum mit einem König aus Davids Geschlecht; ein nicht speziell monarchisch verfasstes Volk mit einem Heilsbringer ("Messias") aus dem Haus Davids; eine von einem priesterlichen Anführer geleitete Tempelgemeinde.
Schließlich greift Vers 11 versteckt zurück auf das Leichenlied Amos 5,2. Denn die "Aufrichtung" der "zerfallenen" (wörtlich: "gefallenen") Hütte Davids" ist Gottes Antwort auf die Klage des Amos: "Gefallen ist ... die Jungfrau Israel ... niemand richtet sie auf" (Amos 5,2). Amos 9,11 versteht sich damit offensichtlich als hoffnungsvolles Gegenwort zum Untergangslied des Amos, das seine Berechtigung nicht nur im Blick auf das Nordreich, sondern auch auf das Südreich mittlerweile erwiesen hat.
Vers 12
Von der Bescheidenheit des Verses 11 sticht der eher auf rücksichtlose Härte und Stärke setzende Vers 12 ab. Die Einheitsübersetzung spricht von "unterwerfen". Etwas neutraler könnte man übersetzen "in Besitz nehmen". Aber das ändert nichts daran, dass hier offensichtlich Vormachtsphantasien herrschen, die heutzutage wenig anziehend anmuten. Man kommt nicht umhin, festzustellen, dass auch die Heilige Schrift Passagen mit wenig "heiligmäßigen" Vergeltungsvorstellungen kennt. Es sind ins Wort gefasste Bewältigungen von Ohnmacht und Erniedrigung. Im konkreten Fall wird dies durch die Nennung Edoms deutlich. Das südjordanische Reich gilt als Bündnispartner der Babylonier, der in Kriegsgewinnlermanier seinen ganzen Spott über das untergegangene Juda ausließ. Dass da die Hoffnung aufkeimte, dass Gott dieses Edom strafe, ist nachvollziehbar. Es gehört aber entscheidend dazu: Das Wort gegen Edom ist nicht der Aufruf, selbst zur Waffe zu greifen, sondern auf ein wirklich göttliches Handeln zu hoffen. Er allein kann die Voraussetzungen schaffen, dass die Bewohner der "Hütte Davids" - der Vers spricht allgemein von "sie" - überhaupt handlungsfähig werden. Deshalb formuliert Vers 11 ausschließlich im "Ich" Gottes.
Trotz allem bleibt Vers 12 schwierig, zumal er nicht nur von der Einnahme des "Rests Edoms" spricht, sondern sogar "alle(r) Völker, über denen mein Name ausgerufen ist". Durch die vorangehende Passage, die Kuschiten, Philister und Aramäer ausdrücklich als Gott gehörende Völker erwähnt hat (s. die Kommentierung von Amos 9, 7), wird man zunächst einmal an sie denken.
Über weitere mögliche Hintergründe von Vers 12, die das Verständnis zumindest erleichtern können, als auch zur überraschenden Lösung der griechischen Übersetzung s. unter "Auslegung".
Vers 13
Ein sehr viel weniger politisches, eher paradiesisches und friedliches Heilsbild bieten die abschließenden Verse des Amosbuches.
Vers 13 macht die "schlaraffenlandähnlichen" Zustände, die in Aussicht gestellt werden, deutlich, indem der Agrarkalender durcheinandergewirbelt wird: Dem Pflügen (Herbst) folgt nicht das Säen, sondern direkt die Ernte (eigentlich im Sommer), die herbstliche Weinernte hingegen folgt direkt der Aussaat, die eigentlich in der winterlichen Regenzeit erfolgt. Ist es dabei Zufall oder ein bewusstes Wortspiel, dass der "Traubentreter" (hebräisch: dorēḵ ʽanābîm, Einheitsübersetzung: "Keltertreter") lautlich fast identisch ist mit dem "Weg der Elenden" (hebräisch: däräḵ ʽanābîm) in Amos 2,7, der gewaltsam vom Ort der ordentlichen Rechtsprechung "abgebogen" wird (die Einheitsübersetzung schreibt zum leichteren Verständnis an dieser Stelle: "das Recht der Schwachen beugen")? Eine lautmalerische Möglichkeit, Elend und Freude einander gegenüberzustellen.
Auf jeden Fall deutet Vers 13 die überbordende Fülle, aber auch das dahinter stehende Handeln Gottes an, der - in der Sicht der Bibel - allein der Herr aller zeitlichen Ordnung ist und sie somit auch als einziger umzustellen vermag. Und er ist der, der Elend in Jubel verwandeln kann.
Verse 14-15
In den folgenden Versen 14-15 fällt besonders die intensive Bezugnahme auf vorangehende, zumindest teilweise mit Amos selbst zu verbindenden Worten auf, die nun aus Unheilsrede in Heilsrede umgewandelt werden.
Man vergleiche nur einmal
Amos 9,14: "Sie bauen die verwüsteten Städte wieder auf und wohnen darin; sie pflanzen Weinberge und trinken den Wein, sie legen Gärten an und essen die Früchte."
mit
Amos 5,11: "Weil ihr vom Hilflosen Pachtgeld annehmt und sein Getreide mit Steuern belegt, darum baut ihr Häuser aus behauenen Steinen - und wohnt nicht darin, legt ihr euch (wörtlich: ihr pflanzt) prächtige Weinberge an - und werdet den Wein nicht trinken."
Amos 9,15 hingegen greift über ein hebräisches Wortspiel eindeutig zurück auf die Totenklage Amos 5,2. Nach Ihr liegt die "Jungfrau Israel ... zerschmettert (hebräisch: niṭṭeschā) auf ihrem Boden". Die Heilszusage in Amos 9,15 ist in großer lautlicher Ähnlichkeit gebildet: "nie mehr werden sie ausgerissen (hebräisch: yinnāteschû) aus ihrem Boden".
Schließlich kann man noch als Kontrastfolie zu Amos 9,13-15 das Unheilsmotto aus Amos 1,2 anführen:
"Da welken die Auen der Hirten und der Gipfel des Karmel verdorrt.", zumal "Karmel" nicht nur ein Name ist, sondern zugleich auch "Weinberg" bedeutet.
Der vielfache Rückgriff auf das Amosbuch und die gezielte Umkehrung eines Drohwortes (Amos 5,11) in eine Heilszusage, eines Totenliedes (Amos 5,2) in eine Art Jubellied und eines düsteren Anfangsmottos (Amos 1,2) in ein überbordendes Naturbild lassen erkennen: Wie im Finale einer Symphonie, das am Ende noch einmal viele Themen der vorangegangenen Sätze anklingen lässt, oft aus dunklem Moll in strahlendes Dur gewandelt, so erhält auch das Amosbuch mit den Versen 13-15 ein leuchtendes Finale.
Insofern es als Gotteswort ausgewiesen ist, zeugt es von einem tiefen Glauben, der auf die Möglichkeiten Gottes und nicht nur der Menschen setzt. Allein dieser Glaube gestattet das Aufreißen eines Heilshorizontes in wenig heilvoller Zeit.
Theologisch wird als Hintergrund der Bundesgedanke erkennbar, der ja schon in Amos 9,7 anklang. Er schlägt sich nieder in der bereits im Kommentar zu diesem Vers zitierten sogenannten "Bundesformel", die verschiedene Varianten kennt:
- "Er hat dir erklärt: Er will dein Gott werden ... Du hast ihm erklärt: Du möchtest das Volk werden, das ihm persönlich gehört" (Deuteronomium 26,17-18)
- "... ich bin euer Gott und ihr seid mein Volk." (Levitikus 26,12).
Die beiden fettgedruckten Kernelemente dieser Formel rahmen in umgekehrter Reihenfolge die Verse Amos 9,14-15:
"Dann wende ich das Geschick meines Volkes Israel ... ... spricht der HERR, dein Gott."
Diesem Gott des Bundes ist zu trauen und auf ihn ist zu hoffen. Er gibt nicht sparsam und nach dem Prinzip von Kosten und Nutzen, sondern in überbordender Großzügigkeit.
Das Bild des letzten Verses ist mit seiner Gegenüberstellung von "ausreißen" und "einpflanzen" jeremianisch geprägt (vgl. bereits die Berufung Jeremias in Jeremia 1,10: "Sieh her! Am heutigen Tag setze ich dich über Völker und Reiche; du sollst ausreißen und niederreißen, vernichten und zerstören, aufbauen und einpflanzen. ", aber auch Jer 12,14; 18,7.9; 24,6 u.ö). Verbunden wird aber diese fast formelhafte Sprache mit einer Art Leitwort, die gut zum Landwirt Amos passt, den das Buch vor Augen führen will: "Erdboden" (hebräisch: ʼadāmāh):
"Und ich pflanze sie ein in ihren Boden und nie mehr werden sie ausgerissen aus ihrem Boden, den ich ihnen gegeben habe,"
Achtmal ist der Begriff "Erdboden" vorher bereits vorgekommen. Dabei fallen vor allem die Belege ins Gewicht, in denen es darum geht, dass Gott das sündige Israel bzw. Amazja als seinen Vertreter "von seinem Erdboden" entfernen will (vgl. Amos 7,11.17; 9,8). Auch das Klagelied Am 5,2 von der "auf ihrem Erdboden" tot hingestreckten "Jungfrau Israel" gehört in diesen Zusammenhang. Dem Verlust des Bodens als Lebensquelle für Nahrung und Wasser, als Garantieort für Freiheit (im Sinne des "eigenen Grund und Bodens") wie auch als "heiliger Boden" bzw. "reiner Boden" (vgl. Amos 7,17: "du selbst stirbst auf unreinem Boden") im Sinne der Gottesgegenwart wird die dauerhafte Gabe dieses Bodens gegenübergestellt. Solche Hoffnung konnte besonders in den eher friedlichen Zeiten der Perser aufkommen, nachdem diese die Babylonier besiegt hatten (539 v. Chr.) und die Exulanten, wenn sie wollten, aus Babylon nach Jerusalem zurückkehren ließen. Die Perserzeit ist damit nicht die Erfüllung dieser Hoffnung, eher der Anlass ihrer Formulierung. Es gilt aber weiterhin, bis heute und darüber hinaus: "Seht, es kommen Tage ..." (Amos 9,13).